Der Dschihad in Europa

Der islamistische Terror ist nicht nur eine nahöstlicher Import, er ist ein Produkt der Moderne und eine Abwehrreaktion auf sie. Über Europa nach dem Mord an Theo van Gogh. profil, Dezember 04

 

"Hallo, liebe Leser", beginnt Mohammed Bouyeri im März 2002 einen Artikel in einer Amsterdamer Stadtteilzeitung. Den Jugendlichen des Problembezirks schreibt er ins Gewissen: "Behandelt andere so, wie ihr auch wünscht, behandelt zu werden." Bouyeri, da gerade 24, ist ein vielversprechender, freundlicher junger Mann. Er engagiert sich im Gemeindezentrum, trägt meist Jeans, einen Sweater und ein zerknautschtes Cap. Die Oberschule hatte er zwar abgebrochen und mit der Polizei war er auch wegen der üblichen Kleindelikte in Konflikt gekommen, aber jetzt ist er auf dem Weg, ein aktiver Vorzeige-Staatsbürger zu werden. Bouyeri, Sohn marrokanischer Einwanderer, in Holland geboren, organisiert Gesprächsabende mit Politikern und träumt davon,  Sozialarbeiter zu werden. "Es wurde sichtbar", schreibt er stolz nach einer Zusammenkunft von siebzig Jugendlichen mit den Stadtoberen, "dass junge Leute etwas über Politik zu sagen haben, besonders wenn es um die Angelegenheiten ihres Stadtviertels geht".

 

Doch dann macht etwas Knacks in Mohammeds Leben. Mit seinen Kumpels im Stadtteilzentrum überwirft er sich, weil er sich echauffiert, dass Alkohol ausgeschenkt wird und weil er es plötzlich unmöglich findet, dass Jungs und Mädchen sich in den gleichen Räumlichkeiten aufhalten. Er läßt sich einen Bart wachsen, trägt traditionelle muslimische Kopfbedeckung und arabische Gewänder. In Internetforen empört er sich über Polizeiaktionen gegen Islamisten. "Je mehr unschuldige Muslime verhaftet werden, umso besser, dann werden sie wenigsten feststellen, was für Nazis ihr seid", schreibt er als Antwort auf ein pro-amerikanisches Posting. Noch in der Nacht auf den 2. November tippt er 32 derartige Kommentare in seinen Computer, dann schwingt er sich auf sein Fahrrad der Marke Gazelle, fährt zur Wohnung des exzentrischen  Filmemachers Theo van Gogh, der mit harscher Islamkritik von sich reden gemacht hatte und lauert ihm auf. Gegen neun Uhr morgens streckt Bouyeri van Gogh in der Linneastraat mit Pistolenschüssen nieder, dann erschießt er den Schwerverletzten aus nächster Nähe, schneidet ihm die Kehle durch und rammt ihm auch noch ein Messer in die Brust, an dem ein Bekennerbrief befestigt ist. Der Brief ist im besten Niederländisch abgefasst.

 

Die Gewalttat hat Europa verändert. Gewiss hatten der 11. September 2001, der Terror-Massenmord von Madrid im März und die anschwellende Kopftuchdebatte in Frankreich und Deutschland auch in hiesigen Breiten die Öffentlichkeit aufgewühlt, standen die Zeichen auf "Kampf der Kulturen". Doch so richtig löste erst Mohammed Bouyeris Mord an Theo van Gogh allgemeine Panik aus. Jetzt stehen die 13 Millionen Muslime in Europa unter Generalverdacht: als modernisierungsresistent und gewalttätig. Mit den Einwanderern, so das Postulat, haben wir uns das Mittelalter nach Europa geholt.

 

Doch das Bild ist etwas grob und mit der Axt zugehauen. Der Dschihadismus, der Mohammed Atta zum Terroristen und Mohammed Bouyeri zum Mörder werden ließ, ist auch eine Rebellion gegen die islamischen Traditionen. Er ist kein simpler Import nach Europa, sondern gedeiht auf dem Humus der Moderne. Er ist ein Produkt des Zusammenpralls von Islam und globalisierter Kultur. Er ist, um das mit den Worten des französischen Islamwissenschaftlers Olivier Roy zu sagen, ein virtueller Islam, Resultat der Globaliserung und der Dekulturierung des Islam: Die Jungen, sagt Roy, "sind dekulturiert gegenüber der Herkunftskultur und nicht integriert in die Kultur des Landes, in das sie emigriert sind. Der Prediger sagt ihnen: Du hast den Islam deines Großvaters verloren? Umso besser! Das ist ein schlechter Islam! Du fühlst dich nicht westlich? Du bist Muslim! Du fühlst dich nicht marokkanisch? Deine Identität ist global! Du bist kein Holländer, kein Marokkaner, kein Franzose! Dieser Islam gibt ihnen eine globale Wesenheit."

 

Ein Phänomen, das der aus Algerien stammende Soziologe Fouad Allam einen globalen "Protest-Islam" nennt. Der wendet sich gegen den Westen und ist selbst verwestlicht, die Radikalen haben ebenso viel mit Andreas Baader und Ulrike Meinhof gemeinsam wie mit der realen islamischen Tradition. Die Kassetten der Prediger reisen von einem Punkt des Globus an den anderen, das gleiche gilt für Bräuche und Symbole. Der militante Islamismus proklamiert die globale Durchsetzung von Lebensstilen, etwa "den Gebrauch des Schleiers mit denselben Merkmalen und eine Art von ‚Einheitsdenken’" (Allam). Produkt und Protagonist "dieser Operation", so Allam weiter, "ist die Figur des militanten islamischen Intellektuellen, der überall die gleiche Sprache, die gleichen Mythen und die gleichen Symbole verwendet, von Jakarta über Casablanca bis Marseille".

 

Für den Dschihadismus in Europa gilt wie für andere Extremismen vor ihm: Er ist so sehr Produkt der Modernisierung wie er eine Abwehrreaktion auf sie ist. Und er gewinnt, wie die westlichen Spielarten terroristischen Wahns auch, an Anziehungskraft, weil er rebellische Energien anruft, den Jungen, die sich ihm verschreiben, ein vollkommenes Menschenbild anbietet, einen regelrechten Homo Islamicus: rein, von einer höheren Moral, frei von den Anfechtungen der niedrigen Kommerzwelt, der die Väter und Großväter noch verfallen waren, die sich abgeschuftet haben, nur um für das Ersparte irgendwann ein kärgliches Eigenheim in ihrem Herkunftsland bauen zu können (und die sich am Feierabend auch mal ein Bier gönnten). Er kommt nicht aus der Welt der Großväter, er ist im Gegenteil eher Resultat eines Generationskonfliktes. Er verachtet das kleine Leben der Vätergeneration und flüchtet sich in Heroische.

 

Begriffen wird das erst nach und nach im Westen und so werden oft Dinge vermengt, die wenig miteinander zu tun haben. Der aus Anatolien eingewanderte Vater, der die Welt, in die er geraten ist, nicht versteht, der seine Tochter halb totschlägt, wenn sie sich zu schminken beginnt und mit einem europäischen Freund ausgehen will, steht für kulturelle Anpassungsschwierigkeiten, die eher erlitten als dass sie aufsässig provoziert werden; der junge Moslem, der Flugzeugtechnik studiert, in seinen Teenietagen das Leben in vollen Zügen genossen hat, den alle, die man später fragt, als Musterbeispiel an Integration beschreiben und der die Kurve zum Dschihad dreht, ist ein ganz anderer Fall. Bei nahezu allen spektakulären Terrorakten der vergangenen Jahre standen Figuren dieser Art im Zentrum – mochten sie Mohammed Atta, Ziad Jarrah oder Mohammed Bouyeri geheißen haben.

 

Auch wenn sich junge Mädchen das Kopftuch überziehen, ist nie auf Anhieb zu sagen, warum sie das tun. Sind sie von einem konservativen Elternhaus dazu gezwungen? Ist es ein Kompromiss mit dem traditionellen Milieu ihrer Herkunft, einer, der ihnen im Gegenzug womöglich ein paar Zentimeter Freiraum schafft? Oder ist es Insignium einer Protestkultur, des Dagegenseins, das provozieren, Distanz zur Mehrheitskultur markieren soll, einfach "cool" ist, nicht ganz unähnlich der Latzhose, dem Parka und dem Palästinensertuch westlicher Protestkulturen früherer Zeiten? Das ist von Fall zu Fall verschieden, viel spricht aber dafür, dass letztere Variante die häufigste ist. Der heftige französische Kopftuchstreit, der im Verbot mündete, den Hijab im Unterricht zu tragen, war beispielsweise von zwei Mädchen ausgelöst worden, Alma und Lila, damals 16 und 18 Jahre alt. Von ihren Eltern, einer algerischen Wirtschaftswissenschafterin und einem Rechtsanwalt jüdischer Herkunft waren sie ganz und gar nicht zur Moslem-Maskarade gezwungen worden. Im Gegenteil: sie sähen aus "wie Ostereier", war der halb irritierte, halb belustigte Kommentar ihrer Erziehungsberechtigten.

 

Der Dschihadismus in Europa ist, wenn man so will, eine Entgleisung des Islam, die moderne, postmoderne und traditionelle Momente verrührt. Dass der historische Islam dafür gleichsam die Ingredienzien bereitstellte, ist gewiss eine Vorbedingung dieser Entgleisung. Dazu zählen: dass der Prophet Mohammed nicht nur Religionsgründer, sondern auch Feldherr und gewaltsamer Einiger der arabischen Nomadenstämme war, hat den religiösen Texten eine martialische Schlagseite verliehen; dieser Zusammenfall von weltlicher und religiöser Führung hat es in islamischen Gesellschaften auch nicht eben begünstigt, eine Trennung von staatlicher und klerikaler Macht durchzusetzen. Aber dennoch war das Entstehen des modernen Islamismus vor kaum mehr als fünfzig Jahren ein hochmodernes Phänomen – er war immer der Versuch, Traditionen zu erfinden, ein Heldenepos nachzuspielen, die schräge Idee, der Krise der islamischen Welt wäre beizukommen, indem die muslimischen Gesellschaften auf einen idealisierten Anfang zurückgeführt werden. Er ist eine Art von Weltflucht, die als krause Utopie eine Wüstenkriegergesellschaft des siebenten Jahrhunderts vor Augen hat. Die klassischen Texte des Dschihad-Islamismus, etwa die Sayyed Qutbs, des einstigen Ideologen der ägyptischen Moslembrüder lassen sich allesamt als Versuch zur "Wiederbelebung einer schon dagewesenen und vollkommenen, aber korrumpierten Ordnung" lesen, wie das der französische Islamismusexperte Gilles Kepel formuliert. Heute sind Qutbs Manifeste die Schlüsseltexte einer Terrorreligion, die, in alle Weltsprachen übersetzt, via Internet bis an die entlegensten Orte des Globus verbreitet werden. Qutb erträumte die jungen Dschihadisten als "neue koranische Generation", also als Wiedergänger des Propheten Mohammed.

 

All das klingt wahnwitzig und ist es auch, aber gerade das, so lehrt die Erfahrung, zeichnet extremistische Polit-Sekten aus: dass der, der in ihre Umlaufbahn gerät, auch in eine Paralleluniversum kommt und nach und nach ummontiert wird, bis er mit dem, der er einmal war, nichts mehr gemeinsam hat (wobei er nicht passives Objekt sein muss, sondern durchaus die aktive Kraft dieser Gehirnwäsche sein kann). Es brauchte gerade zweieinhalb Jahre, um aus dem menschenfreundlichen Sozialarbeiter Mohammed Bouyeri den Killer mit dem Schlachtermesser zu machen.

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