Ein Ausblick auf das Jahr 2029

Aus Anlass des 25. Geburtstags der taz – eine kleine Utopie 25 Jahre nach vorne: Die Vereinten Nationen haben eine große Karriere gemacht – der Sicherheitsrat fungiert als effektive Weltregierung. Aber er muss sich endlich selbst Legitimität schaffen und aufhören, auf längst anachronistischen politischen Einheiten zu ruhen. taz, April 2004

 

Reifere Leserinnen und Leser dieser Zeitung werden sich noch daran erinnern: Es gab eine Zeit, da war der kritische Impuls, der am Ursprung dieses Blattes stand, so übermächtig, dass ein gewisser nörgelnder, beckmesserischer Sound sich durch die Seiten und Spalten zog. Man suchte, selbst in eher erfreulichen Prozessen, ein Haar in der Suppe. Dieser Gestus hat sich erst allmählich abgeschliffen, über die Jahre, und mit dem Aufstieg der taz zum Leitmedium der deutschsprachigen Regionen der Europäischen Union schlich sich auch ein Hang zur Affirmation ein. So feierte der greise Ehren-Herausgeber Christian Semler an dieser Stelle in der Vorwoche, genauer am 11. April 2029, die "recht glückliche Karriere", die die Vereinten Nationen in den vergangenen Jahren machten und pries insbesondere die UN-Generalsekretärin Xiane Heller, die mit visionärer Entschiedenheit und praktischer Durchsetzungskraft den Umbau der Weltorganisation zu einer Art Weltregierung erst ermöglicht hat.

 

Nun ist das nicht von der Hand zu weisen. Dass der UN-Sicherheitsrat mit der Generalsekretärin an der Spitze im Kontext eines Mehrebenensystems gouvernementaler Globalsteuerung eine derart entscheidende Rolle spielen würde, war vor wenigen Jahren nicht absehbar. Dass es Heller gelingt, die widerstrebenden Interessen der ständigen Mitglieder des UN-Sicherheitsrates – USA, EU, Russland, Afrika, Indien und China – geschickt auszutarieren, zeigt nicht nur, dass die Dame über ausgeprägtes Geschick verfügt, sondern dass unter den Eliten der postnationalen Netzwerkgesellschaften, vor allem der USA, der EU, Indiens und Chinas, ein gehöriges Maß an Interessensidentät existiert.

 

Das Ergebnis ist gewiss beeindruckend: Auf der Ebene des Globalmanagments langfristiger Steuerungsvorhaben ist die UN effektiv – das zeigt sich etwa an der prompten und strikt kontrollierten Umsetzung des Basra-Ukas über die ausschließlich nachhaltige Nutzung der Welt-Energieressourcen. In all jenen Politikfeldern, die als planmäßige Verwaltung technischer Probleme bezeichnet werden können, haben die UN eine hohe Lösungskompetenz erlangt; das gilt auch für jene Art von Konflikten, die sich entlang rationaler, und damit prognostizierbarer Interessensdifferenzen entspinnen. So mag es im transnationalen Gefüge bisweilen knirschen, weil die US-amerikanische politische Kultur noch geprägt ist von der kollektiven Erinnerung an die Zeit amerikanischer Welthegemonie, letztendlich werden die USA aber die Multipolarität mit der EU als tendenziell dynamischere Macht akzeptieren und damit auch die Beschränkung ihres Verantwortungsbereichs auf den amerikanischen Kontinent.

 

Und dennoch kann nicht schaden, den kritischen Blick wach zu halten – zu deutlich sind nämlich auch die Defizite der UN, als dass reine Affirmation das Gebot der Stunde wäre. Die regelmäßigen Aufstände in den ruralen Gebieten, in den schwarzen Löchern der Weltgesellschaft, aber auch in den Wucherungen am Rand der Megametropolen kann die UN-Generalsekretärin nicht einfach mit einer Handbewegung abtun. Natürlich hat sie formal recht, dass die planmäßige Entwicklung und die Befriedung ihrer Verantwortungszonen die Aufgabe der sechs regionalen Machtknoten ist, aber diese formale Argumentation insinuiert nur, dass das Problem von einer Konstellation gelöst werden könnte, die in Wahrheit der Ursprung des Problems ist. Die Weltgesellschaft ist längst weder regional noch national strukturiert, und von daher ist es kaum verwunderlich, dass Megacities wie Jarkata, New York, Shanghai, London, Moskau, Karachi, Mombai, oder die metropolitanen Netze wie Hongkong-Shengzhen-Guangzhou sowie die deutsche West-Metropole Ruhr sich weniger auf ihre "Weltregionen" orientieren, sondern auf die Macht- und Wirtschaftsknoten in anderen Weltregionen, mit denen sie längst mehr verbindet als mit ihrem Hinterland, für das diese zentralen Kreuzungspunkte des globalen Netzes allenfalls Magneten sind.

 

Begriffe wie Land, Nation, Region taugen nicht mehr. Das zeigt ein bloßer Blick auf die Statistik. In der gesamten Menschheitsgeschichte überwog die Landbevölkerung die Stadtbevölkerung. Vor etwa 25 Jahren noch war das Verhältnis der globalen Land- und Stadtbevölkerung ausgeglichen. Erstmals in der Historie lebten Mitte der ersten Dekade des 21. Jahrhunderts mehr Menschen in Städten als außerhalb. Heute sind die Regionen im Vergleich mit den Ballungsräumen regelrecht entvölkert – von den rund zehn Milliarden Menschen leben fast sieben Milliarden in einer der mehr als 600 Städte mit mehr als einer Million Einwohner, ein erheblicher Anteil in den für unsere Zeit so typischen Megacities mit 25 Millionen bis 50 Millionen Einwohnern.

 

Diese Städte sind Welt-Städte sensu strictu: Sie orientieren sich allenfalls insoferne auf ihr Hinterland, als dies ihr Reservoir an Zuwanderern stellt – und auch das stimmt nur sehr bedingt, wie die vielen hundert Millionen Wanderarbeiter zeigen, die von Ballungsgebiet zu Ballungsgebiet ziehen. Viel effektiver verbunden sind die Städte, diese Zentren der Dienstleistungen, der virtuellen und der realen Produktion, mit anderen Zentren jenseits ihres Großraumes.

 

Dies wirft ein politisches Problem auf, das den Verantwortlichen an der Spitze der UN anscheinend nicht einmal noch recht bewußt geworden ist. Die Weltstädte vernetzen sich jenseits der Nationen; und übrigens tun das auch die prosperierenden Provinzen, denen es gelang, ländlichen Charme mit hoher Effizienz, und sei es auch als Rückzugsgebiet für die Eliten, zu verbinden – wie etwa die Toskana, das Waldviertel, das mecklenburger Küstengebiet, das Umland Odessas – , die ihrerseits längst ein "Netzwerk der Provinzen" etabliert haben. All dies geht an den Organisationseinheiten, in denen politische Vergesellschaftung bisher stattfand, vorbei. Die nationalen Regierungen sind längst Relikte aus vergangenen Tagen. Das Weltsystem ist daher von unten herauf falsch, weil anachronistisch konstruiert. Am frappierendsten ist das im Kontext der Europäischen Union, in der noch immer gehörige Souveränitätsreste bei den Nationalstaaten verblieben sind – während im realen Leben ihrer Einwohner die Nationalstaaten so gut wie keine Rolle mehr spielen. Und das gilt für Nationalstaaten, die gleichzeitig Regionalmächte sind – wie China, wie Indien – nicht viel weniger. Dieses Spannungsverhältnis zwischen der realen gesellschaftlichen Existenz der Bürger und den politischen Repräsentationsformen unterspült nicht nur die Demokratie, sondern verursacht auch Effizienzverluste.

 

Die politische Grundeinheit ist immer noch der Fake des Nationalstaates. Die darüber gelagerten Ebenen des globalen Mehrebenen-Systems ruhen damit aber auch auf einen Fake. Heute zeigt sich erst, wohin das Prinzip der Subsidiarität, für das längst vergessene Bayern vor dreißig Jahren fochten, führte: dazu, dass Dinge, die getan werden müssten, einfach nicht getan werden. Weil die Entwicklung jenseits der Megacities nicht in den Verantwortungsbereich der UN fällt, sich aber gleichzeitig die regionalen Knotenpunkte schon lange nicht mehr dafür verantwortlich fühlen. Dies führt nicht nur aufgrund des endemischen Elends in diesen schwarzen Löchern zu regelmäßigen Erruptionen, sondern weil keine funktionstüchtige politische Ebene mehr existiert, von der sich die Einwohner der Krisenzonen repräsentiert sehen. Demokratische Repräsentation im Nationalstaat funktioniert längst nicht mehr, die UN wiederum sind bisher nicht in der Lage, darüber nachzudenken, wie sie die Repräsentation anders organisieren könnten – oder, umgekehrt formuliert, ob es andere Formen geben könnte, sich zu legitimieren als über das Mehrebenen-System Nationalstaat-Weltregion-Sicherheitsrat. Mit einem Wort: Wie Bürger, die sich von keiner konstituierenden Einheit des Weltsystems mehr repräsentiert sehen, von den Vereinten Nationen direkt repräsentiert werden können.

 

Xiane Heller hat sich gewiss verdient gemacht um die Neustrukturierung des globalen Systems. Aber sie hat es auch sträflich vernachlässigt, diese brennenden Fragen zeitgerecht zur Debatte zu stellen. Man braucht kein großer Prophet zu sein um vorherzusagen, dass es dieses Problem sein wird, das uns in den kommenden 25 Jahren, bis zum 75. Geburtstag dieser Zeitung also, beschäftigen wird.

 

 

Robert Misik, 63, lebt in Wien, Berlin und im Waldviertel. Er schreibt seit 37 Jahren regelmäßig für die taz.

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