Modernes Antiquariat

Der marxistische Theoretiker Frederic Jameson untersucht, wie die Moderne aus der Mode und der Modernisierungsdiskurs in aller Munde kam. Standard, Dezember 04

 

Oskar Lafontaine lappte ein wenig ins Larmoyante, nachdem er 1999 den Bettel hingeworfen hat. "Überhaupt ist das Wort ,Modernisierung‘ oder ,Moderne‘ zu einem Modebegriff verkommen, unter dem sich jeder alles vorstellen kann", klagte der gescheiterte Ex-SPD-Chef. "Der Begriff der ,Moderne‘ wird auf ökonomische Kategorien verkürzt. Die Angelsachsen haben keinen Kündigungsschutz, also sind wir modern und bauen den Kündigungsschutz ab." Für’s Kapital sein ist modern, für die kleinen Leute sein ist unmodern, so die knappe und gewiss nicht unzutreffende Analyse der Diskurslage.

 

Es ist nicht zuletzt diese Offenheit des Begriffs der Moderne für Indienstnahmen mancher Art, die Frederic Jameson in seinem neuesten Buch "Mythen der Moderne" interessiert. Da stehen die Wörter Kopf, wird ein Begriff, der einst die radikale Öffnung der Welt markierte, zum Code für die Alternativlosigkeit des Kapitalismus – das ist nur eine der Ironien im Weichbild der Modernitätsthematik.

 

Frederic Jameson ist ein fast schon legendärer marxistischer amerikanischer (Literatur-)Theoretiker, ein luzider Denker, für den der Marxismus gewissermaßen als Modell der integralen Interdisziplinarität seine Bedeutung behauptet – als Theoriemodus, der Aussagen über Ökonomie, Alltagskultur, Kunst und die Philosophie selbst zuläßt. Seit dem Erscheinen von "Marxism and Form" vor über dreißig Jahren hat Jameson seinen fixen Platz im Orbit zeitgenössischer Theoriebildung, in der Foucault-Deleuze-Derrida-Zizek-Laclau-usw-Galaxie. Die Aporien von Kapitalismus und Moderne sind das Thema, um das er kreist, so wie vor einem Jahrzehnt in seinem Buch "Postmodernism, or, The Cultural Logic of Late Capitalism".

 

Nun also "Mythen der Moderne", der Versuch einer "Ideologieanalyse" eines Wortes. Ein Unternehmen, das durch die Verbindung der Worte Moderne, Modernisierung und Modernismus verkompliziert wird und zudem durch den Umstand geprägt ist, dass die Mondernitätsproblematik unmittelbar mit dem "weltweiten Kapitalismus" (Jameson) verbunden ist. Hier eröffnet sich ein weites Feld für Ambivalenzen und begrifflicher Salti. So ist für Jameson die klassische Moderne der Ausdruck einer noch unvollständigen kapitalistischen Modernisierung. Die Hochmoderne des späten 19., frühen 20. Jahrhunderts gedieh in einem Umfeld, das noch von vielen feudalen Resten geprägt war. Die klassische Modernität war darum immer auch eine Hoffnung auf etwas, was erst zu Realisieren sei. Mit dieser Beobachtung gelingt Jameson eine originelle Deutung des berühmten Habermas’schen Diktums von der "Moderne als unvollendeten Projekts": sie ist aus der Jameson’schen Perspektive ein notwendig unvollendetes Projekt. Mit der Durchsetzung einer vollständigeren Modernisierung schlägt das Zeitalter der Postmoderne, die für Jameson nicht das Jenseits der Moderne ist, sondern deren Krönung. Hierin liegt manches am ironischen Gehalt des Modernitätsdiskurses begründet. Wer im Zeitalter des Postmodernismus an den Vorstellungsreihen oder Organisationsweisen der klassischen Moderne festzuhalten versucht, der ist – erraten! – unmodern; Lafontaine etwa. Das Moderne von heute ist die Antiquität von morgen. Das Signum des Modernen ist der Slogan "Neu", also der Bruch mit dem Alten und das von Beginn an. Zur Moderne wird die Modernisierung über die Geschichten, die sie von sich selbst erzählt, durch die Beginnergeschichten und das große Beginnergefühl. "’Modernität‘ bedeutet immer, ein Datum zu setzen und einen Anfang zu postulieren." Und wieder verkompliziert wird dies durch die Vielzahl der Geschichten und die Vielzahl der möglichen, rivalisierenden Anfangsmomente. Schlägt die Geburtsstunde der Moderne mit Descartes "cogito" oder mit Galilei oder gar schon mit den Römern? Sollen wir uns eher an die Brüche halten, die mit großem Trara daherkommen oder an die lautlose, seltsam anlaßlose Geburt des Neuen in Gestalt dessen, was Foucault die Episteme nennt, die schleichenden Revolutionierungen von Wissensformen? Mit der Moderne einher geht der Modernismus, der keineswegs einen Prozeß beschreibt, sondern eine Anrufung ist, ein heroisches Postulat, wie das Rimbauds, das Jamesons Schlußwort den Titel gab: "Il faut etre absolument moderne!"

 

Dieses Postulat kehrt nun, dies die Erfahrung, für die Lafontaines Scheitern steht, nachdem es längst schon aus der Mode gekommen war, zurück. "Diese Wiederkehr der Sprache der älteren Moderne muß, so beginnt man zu argwöhnen, irgendwie eine postmoderne Sache sein", konstatiert Jameson, der auch ein großer Stilist ist, mit leiser Ironie. Dieser Spätmodernismus ist für ihn ein Erbe des Kalten Krieges und ein amerikanisches Phänomen, Vehikel nordamerikanischen Kulturimperialismus im Moment der Vereinheitlichung, der Globalisierung des Kapitalismus: eine "optische Illusion", die von "Minderwertigkeitsgefühlen und Nachahmungszwang lebt".

 

Dies ist der Punkt, an dem der Autor den Leser auf interessanten Wegen durch die Verpuppungen, Krisen und Modernisierungen der Moderne, von Baudelaire bis Nabokov, führt – und ihn etwas hilflos zurückläßt. Was den Ideologieanalytiker wohltuend vom Ideologiekritiker unterscheidet, ist die Tatsache, dass er nicht glaubt, mit seinem Unternehmen das Feld, auf dem er sich bewegt, schon zu verändern. Gegen den Begriff der "Modernität" anzuargumentieren hätte, wie Jameson selbst weiß, etwas von der Lächerlichkeit eines "Besessenen". Gewiss aber bleibt bei solcher Art der Ideologieanalytik auch immer ein Defizit.

 

Die Moderne ist eine Situation; die Modernisierung ein Prozess; der Modernismus eine Reaktion darauf – die Schwierigkeiten der Modernitätsthematik haben mit der ungleichzeitigen, asynchronen Entwicklung dieser drei Topoi zu tun. Der heutige Modernisierungsjargon ist so eine Art schräger Wiederkehr. Ganz gewiss sind wir alle weit moderner, als wir glauben – was womöglich nur ein anderer Ausdruck für unsere Rückständigkeit ist.

 

Frederic Jameson: Mythen der Moderne. Aus dem Englischen von Hans-Hagen Hildebrandt. Kadmos, Berlin, 2004. 239 Seiten, ??? Euro 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.