Wir Franzosen

Warum Terry Eagleton, der britische Champion der Kulturtheorie, den Tod des Postmodernismus verkündet. Standard, 12/ 04

 

 

Es gibt einen antifranzösischen Affekt, der mit der Abwehr intellektueller Spitzfindigkeit und angeblicher moralischer Wankelmütigkeit Hand in Hand geht. Im US-Präsidentschaftswahlkampf glaubten etwa manche Bush-Wahlhelfer, sie würden dem rivalisierenden Kandidaten ordentlich schaden, wenn sie in Umlauf brächten, John F. Kerry "sieht französisch aus". Und wenn ein französischer Philosoph stirbt, dann gilt auch das Gebot nur mehr wenig, Toten nichts Böses nachzusagen. So spottete der Economist nach dem Tod von Jacques Derrida, dass neuerdings sogar unter Theologen Interesse an Dekonstruktion herrsche. Der bissige Schlussatz: "Möge Gott ihnen beistehen". Zwar erlebt Michel Foucault derzeit ein gewisses Revival, ansonsten wird dieser Tage mit der "Theory" – die etwas grob, aber nicht ganz falsch mit den französischen Beiträgen zu Strukturalismus, Poststrukturalismus und Postmoderne identifiziert wird – mit Freude abgerechnet. Ganze Tagungen widmen sich schon dem "End of Theory". 

 

Als hervorragender Stichwortgeber erwies sich wieder einmal Terry Eagleton, der schillernde britische Literaturwissenschaftler. Eagleton ist Marxist und pflegt ein gewisses Outlaw-Image, ist gleichzeitig aber ein akademischer Star, hatte als Oxford-Professor lange Jahre seinen fixen Platz im universitären Olymp; ein origineller Denker und doch vor allem ein großer Popularisierer fremder Gedanken; einer, der zur postmodernen Theory-Schule immer eine gewisse ironische Distanz markierte aber gleichzeitig ein Zentralgestirn in deren Orbit war. Seine "Einführung in die Literaturtheorie" von 1983, Millionenfach verkauft, ist der absolute All-Time-Bestseller dieses Genres. Schon darin, immerhin am Höhepunkt der Theory-Ära, erwies er sich als großer Spötter. Das Prinzip Dekonstruktion habe den Vorteil, war schon hier zu lesen, "daß es einen ermöglicht, in voller Montur durch die Überzeugungen aller anderen hindurchzugaloppieren, ohne dass es einem die Unbequemlichkeit aufbürdet, selbst eine Überzeugung anzunehmen"; hier gewinne der, "der es geschafft hat, sämtliche Karten loszuwerden und mit leeren Händen dazusitzen". Hätte Ferdinand de Saussure, der Sprachwissenschaftler, der die Grundlagen der strukturalistischen Revolution gelegt hat, gewusst, "was er da auslöste, hätte er sich möglicherweise auf Untersuchungen über den Genetiv im Sanskrit beschränkt".

 

Eagleton ist ein scharfzüngiger Formulierer und Spitzen-Essayist, Talente, mit denen er auch in "After Theory" wieder wuchert. "Originell, lustig, brillant", lautet das Urteil des Independent. Ende vergangenen Jahres in London erschienen, löste das Bändchen sofort eine heftige Kontroverse aus, die kein Ende mehr nehmen will. Eagleton kartographiert, was – Twenty Years After gewissermaßen – aus der Theorie-Schule geworden ist.

 

Am Ausgangspunkt zeitgenössischer Theorie steht die "linguistische Revolution", die Erkenntnis, dass Bedeutung nicht einfach ausgedrückt, sondern durch Sprache erst hergestellt wird – und dass Sprache selbst nicht unschuldig ist, dass sich in dieser Herkommen und Herrschaft materialisieren. Strukturalismus heißt, nach Frederic Jameson, "alles unter linguistischen Gesichtspunkten noch einmal neu durchzudenken". Dies erlebte vor allem die traditionelle Linke als Bereicherung, die bis dahin nicht selten plump der Ökonomie alle Wirkungsmacht zuerkannte, und alles sonst als abgeleitete Überbauphänomene abtat. Theory, so Eagleton, "erinnerte die traditionelle Linke an das, was sie bisher vernachlässigte: Kunst, Vergnügen, Gender, Macht, Sexualität, Sprache, Wahnsinn, Begehren, den Körper, das Unbewußte, Ethnizität, Life-Style, Hegemonie".

 

War die Folge des linguistischen Anstosses, Texte anders zu behandeln, wurde in einem nächsten Schritt alles als Text behandelt. So rann die oft sperrige Hochtheorie in den vergangenen Jahrzehnten in die gefälligere Disziplin "Kulturtheorie" aus. Alles wurde plötzlich gleich interessant und einer neuen Lektüre unterzogen: Macht und Ungleichheit ebenso wie Schwarzenegger-Filme und die Evolution der Klobrille.

 

Eagleton findet das unerfreulich – und ist da wohl nicht der einzige. Aber das ist nicht das Hauptproblem, das ihn zum dramatischen Schlusstrich antreibt. Das Schlüsselpostulat der Theory war im Anschluss an Saussure und Freud ja, das das Subjekt nicht Herr im eigenen Haus ist. Es ist dezentriert, erfindet sich täglich auf’s Neue, seine bloße Existenz ist ein Phantasma. "Wenn alles Stehende verdampft", so Eagleton Marx sarkastisch variierend, "dann kann für die Menschen keine Ausnahme gemacht werden". Individuen im pathetischen Sinn gibt es nicht mehr. Über alles, was man mit diesen verbindet – Identität, Überzeugungen, Werte – zieht der Postmodernismus mit Spott her. "Das Problem", so Eagletons Schlüsselsatz, "mit dem grassierenden Skeptizismus manchen postmodernen Denkens ist, dass es schwer von der Weigerung zu unterscheiden ist, sich den Fundamentalismen entgegenzustellen".

 

Dies ist des Pudels Kern: Eagleton will endlich wieder Werte verteidigen – vorzugsweise gegen Islamisten und sonstige Fundis, wogegen gar nichts einzuwenden ist. Er hat, wenn er darum die Theory verabschiedet, die aus Kneipengesprächen bekannten Obskuranten im Auge, die alles, sei’s der 11. September, sei’s der Irakkrieg als "Medienphänomen" lesen und denen die Galle hochgeht, wird eingewandt, diese Geschehnisse seien gewiss ein solches – wenngleich für die Toten nicht in erster Linie. Der Kampf gegen den fundamentalistischen Todeskult ist für Eagleton das Gebot der Stunde.

 

Das ist alles nicht ganz unsympathisch und doch fragt man sich am Ende, warum dafür die "Theory" mit großer Geste verabschiedet werden muss. Ein solcher Abgesang insinuiert ja zumindest, es gäbe ein Zurück zum unbefleckten Zustand vor der Theory: zum zentrierten Subjekt. Aber können wir wirklich vergessen, was uns Theory gelehrt hat – dass Konzepte, Ideen eine linguistische und materielle Grundlage haben, dass sie Konstellationen sind, in Relationen existieren, auf stummen Voraussetzungen gründen und nicht einfach "wahr" sind? Die Antwort kann nur lauten: Ganz gewiss nicht. Wir alle sind längst französischer, als wir glauben.

 

Terry Eagleton: After Theory. London, Penguin-Books, 2004. 225 Seiten, ?? Euro.

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