Marx für Eilige

"Marx für Eilige" erschien 2003 im Aufbau-Verlag. Derzeit ist es in der zweiten Auflage. Die französische Übersetzung ist unterdessen im Handel, die finnische und koreanische in Vorbereitung. Hier können Sie das 5. Kapitel lesen: "Die automatische Welt".

5. Kapitel

Die automatische Welt

Oder: Der Kapitalismus, ein Theater ohne Autor

 

New Economy und Börsenwahn; Dax und Dow Jones; Finanzmärkte und Realwirtschaft; Innovation und Produktion; Marktwirtschaft und Netzwerklogik; Kapitalmobilität und globale Arbeitsteilung; Handel mit Dienstleistungen, mit Rohstoffen und mit Hoffnungen; Multis, Direktinvestitionen und strategische Allianzen; komplexe Maschenwerke und geplatzte Seifenblasen; Deregulierung und Staatsintervention; Toyotismus und Silicon Valley; Korporatismus und neue Selbständigkeit – wer die Liste der Schlagwörter, die die Lingua Franca der Wirtschaftsblätter bilden, herunterzurattern versucht, dem raucht schnell der Kopf. Die endlose Liste der Neuschöpfungen verweist nicht nur auf den exaltierten Charakter der Trendscouts, die für alles einen modernen Namen finden wollen, sondern zuvorderst darauf, daß unser zeitgenössischer Kapitalismus eine geheimnisvolle, schwer ergründbare, sich ewig und rasant wandelnde Struktur ist, in deren innerste Bewegungsgesetze sich nur schwer eindringen läßt. Wie funktioniert dieser Kapitalismus? Diese Frage wird zunehmend häufiger gestellt, vor allem wohl deswegen, weil den Blütenträumen von der "krisenfreien Ökonomie", die selbst von ernstzunehmenden Wirtschaftswissenschaftlern in den neunziger Jahren gesponnen wurden, nun die allgemeine Depression folgte. Die globale Wirtschaft schlitterte 2002 in eine Schwächeperiode.

 

Panik machte sich breit, nicht zuletzt darum, weil die Gründe dieser Krise sich nicht leicht nennen lassen. Denn alles hängt mit allem zusammen: Psychologie mit Investments, Gewinnerwartungen mit Lagerbeständen, Migrationsströme mit Handelskrisen, der Weltterrorismus mit regionalen Ökonomien. Endlose Bedingungsketten spannen sich auf: Wenn in New York Kamikazeterroristen in zwei Hochhäuser fliegen, dann rasseln die Börsekurse, weil die amerikanischen Arbeitnehmer die Zukunftsangst packt und sie nicht nur ihren Konsum einschränken, sondern zudem ihre Gelder aus den Pensionsfonds abziehen, die ihre Renditeversprechen ohnehin nicht mehr halten konnten, weshalb deutsche Bankhäuser dann ihre Wertpapierhändler entlassen müssen, was nur zum Teil damit zusammenhängt, daß der Euro gegenüber dem Dollar an Wert gewinnt, ein Umstand, der aber seinerseits wieder zur Folge hat, daß sich die Exporte der europäischen Industrie in die USA verteuern und die konjunkturelle Delle sich vertieft. Weil die Unternehmen weniger verdienen, müssen sie Arbeitsplätze abbauen, und schalten folglich auch viel weniger Stellenannoncen in den großen Zeitungen, was wiederum dazu führt, daß bei der "Frankfurter Rundschau", der "FAZ" und bei der "Neuen Zürcher Zeitung" Journalisten entlassen werden, ein Sachverhalt, der den Artikeln ihrer verbliebenen Kollegen einen etwas deprimierten Ton verleiht und seinerseits wiederum das Investitionsklima nicht gerade verbessert. Hinzu kommen noch etwa siebenundzwanzigtausenddreihundert andere ökonomische und außerökonomische Umstände, die uns hier aus Platz- und Zeitgründen nicht zu interessieren haben. 

 

Verstanden? Man könnte auch anders formulieren: Wenn in China ein Sack Reis umfällt, muß Herr Mustermann in Buxtehude eineinhalb Monate mehr Lebensarbeitszeit verrichten, da nun in den öffentlichen Rentenkassen ein finanzielles Loch klafft.

 

Welch ein unergründbares Geheimnis umgibt die Ratio eines Systems, das aus der Kombination unzähliger Teilrationalitäten, aus quer-, schräg- und gegenläufigen Wechselwirkungen, Verhältnissen von Verhältnissen, ein enges Maschenwerk knüpft, das seine eigene Logik gebiert, in die die Subjekte sich verfangen. Der alte Brecht hat über nämlichen Sachverhalt einst folgendes zu berichten gehabt. "Für ein bestimmtes Theaterstück brauchte ich als Hintergrund die Weizenbörse Chicagos, ich dachte, durch einige Umfragen bei Spezialisten und Praktikern mir rasch die nötigen Kenntnisse verschaffen zu können. Die Sache kam anders. Niemand, weder einige bekannte Wirtschaftsschriftsteller noch Geschäftsleute – einem Makler, der an der Chicagoer Börse sein Leben lang gearbeitet hatte, reiste ich von Berlin bis nach Wien nach -, niemand konnte mir die Vorgänge an der Weizenbörse hinreichend erklären. Ich gewann den Eindruck, daß diese Vorgänge schlechthin unvernünftig waren. Die Art, wie das Getreide der Welt verteilt wurde, war schlechthin unbegreiflich. Von jedem Standpunkt aus außer demjenigen einer Handvoll Spekulanten war dieser Getreidemarkt ein einziger Sumpf. Das geplante Drama wurde nicht geschrieben, statt dessen begann ich Marx zu lesen."[1]

 

Und in einem seiner Gedichte hieß es:

 

Wehe! Ewig undurchsichtig

Sind die ewigen Gesetze

Der menschlichen Wirtschaft!

Ohne Warnung

Öffnet sich der Vulkan und verwüstet die Gegend![2]

 

Die "menschliche Wirtschaft" – sie zerstört und baut auf, schafft Reichtum und Armut, ist raffiniert, streng rational und doch ver-rückt. Sie umgreift die globale Weltgesellschaft und spaltet sie gleichzeitig auf, sie zerreißt die Gemeinschaften und zerschneidet selbst die Individuen. Welch absurde und gleichzeitig erstaunliche Rationalitäten das Renditeprinzip zu produzieren imstande ist, zeigt sich exemplarisch am Beispiel der Rentenfonds, die zuletzt von Amerika aus die gesamte kapitalistische Welt eroberten. Wenn ein Stahlarbeiter, beispielsweise, in einen Pensionsfonds einzahlt, dieser dessen Beiträge an einen Investitionsfonds weiter reicht, welcher wiederum Anteile an seinem Stahlwerk kauft und zur Erhöhung der Rentabilität in der Folge Arbeitsplatzabbau oktroyiert, dann ist es im materiellen Interesse dieses Stahlarbeiters in seiner Rolle als künftiger Rentner, sich selbst zu entlassen.[3] Dieser Kapitalismus, der seinen schier unaufhaltsamen Siegeszug um die Welt angetreten hat, ist also voller Paradoxien, ist stabil und robust, und doch prekär und anfällig für Störungen, schlägt Purzelbäume und dreht Pirouetten. Wie in einem wackeligen Mikadospiel bringt das Gleichgewicht durcheinander, wer an einer Stelle der Struktur zu heftig zieht. Was, wenn unser Stahlarbeiter sich mit anderen Stahlarbeitern zusammentäte, die ihrerseits Anteile an besagten Rentenfonds halten, und mit diesen gemeinsam den Kapitalverwaltern auftragen würde, das Renditeprinzip nicht mehr allzu streng im Auge zu haben? Er würde auch nicht froh, sondern nur eine rasante Dynamik der Kapitalvernichtung in Gang setzen: Sein Stahlwerk wäre, würde es nicht zu Rationalisierungen gezwungen, in der kapitalistischen Konkurrenz bald hoffnungslos unterlegen, sein Arbeitsplatz wäre hochgradig gefährdet und seine Ersparnisse wären schnell nur mehr die Hälfte wert – bestenfalls. Wir sehen also schon, das Kapitalverhältnis unterwirft alle seinem stummen Zwang: die Arbeitnehmer ebenso wie die Kapitalbesitzer, die großen Magnaten nicht weniger als die kleinen Leute. Und was für die Welt der Ökonomie im engen, gilt auch für die gesellschaftliche Struktur in weiterem Sinn. Recht plump wäre es, sich moderne Gesellschaften mit Hinweis auf eine duale Scheidung in souveräne Herrschaft und ohnmächtige Unterklassen vorzustellen. Die gesamte moderne Sozialwissenschaft – vom eher linken Strukturalismus eines Michel Foucault bis hin zur aktuellen Systemtheorie, die sich mit dem Bestehenden gerne abfindet – trägt diesem Sachverhalt Rechnung. Ist für erstere Macht vor allem ein Maschenwerk mit Machtknoten, die ihrerseits von anderen Machtknoten in Schach gehalten werden[4], ist für zweitere der Eingriff der Subjekte – auch für die "Mächtigsten" – in ein derart raffiniert konstruiertes System nicht mehr denkbar und schon gar nicht wünschenswert. Das Beste, wozu Politik aus solcher Perspektive noch fähig ist, ist "prinzipienloses Lavieren", das "Verhüten des jeweils Schlimmsten"[5], meint dementsprechend der jüngst verstorbene deutsche Sozialwissenschaftler Niklas Luhmann, da jeder Eingriff in den Selbstlauf des Systems eine unbekannte Zahl nichtintendierter Folgen zeitigen würde, die ihrerseits nur zur Ursache neuer Probleme würden. Ein rationaler Eingriff in die Ratio dieses raffinierten Maschenwerkes wäre also nur möglich, könnte das "politische System" – also die Kaste der professionellen Staatenlenker – mehr Umweltdaten berücksichtigen, "als es berücksichtigen kann"[6]. Da dies schon längst nicht mehr möglich ist, bricht sich die Macht der Mächtigen am Eigensinn des Systems – sie sollen, um ja nicht Schlimmeres anzurichten, darum die Finger davon lassen. Selbstredend gilt das erst recht für die Macht der Schwachen.

 

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Paradoxerweiser hat eine solche Sozialwissenschaft Marx viel zu verdanken – obwohl dem doch die Macht der Schwachen derart am Herzen lag. Wenn wir uns hier nun den ökonomischen Analysen widmen, die das Werk des "reifen" Marx dominieren – wobei wir es, dies soll nicht vergessen werden, mit einem Mann in seinen späten Dreißigern, frühen Vierzigern zu tun haben -, so wollen wir erstmals daran erinnern, wie Marx zum Ökonomen wurde. "Mein Fachstudium war das der Jurisprudenz, die ich jedoch nur als untergeordnete Disziplin neben Philosophie und Geschichte betrieb", schreibt Marx im berühmten Vorwort zu seiner "Kritik der politischen Ökonomie", die, 1959 erschienen, eine etwas langatmige Kritik der bisherigen ökonomischen Theorien liefert und eine der Vorstudien zum Kapital darstellt. "Im Jahr 1842/43, als Redakteur der ,Rheinischen Zeitung‘, kam ich zuerst in die Verlegenheit, über sogenannte materielle Interessen mitsprechen zu müssen. Die Verhandlungen des Rheinischen Landtags über Holzdiebstahl und Parzellierung des Grundeigentums, … Debatten endlich über Freihandel und Schutzzoll, gaben die ersten Anlässe zu meiner Beschäftigung mit ökonomischen Fragen."[7] Marx hatte sich der Ökonomie als Philosoph gestellt und in den Pariser Manuskripten, wie wir gesehen haben, den kapitalistischen Orbit entwickelt als von Menschen geschaffene Ding- und Sachenwelt, die als entäußerte Welt den Menschen als fremde Macht gegenübertritt. Er fragte, wenn er sich einem ökonomischen Sachverhalt stellte, nicht in der hermetischen Begrifflichkeit ökonomischer Zwangsläufigkeit, sondern trat gewissermaßen einen Schritt zurück: Welche Handlungen von Menschen sind es, die diese Zwangsläufigkeit erst herstellen, lautete sinngemäß seine stetige Frage. Dieses Prinzip wird Marx beibehalten, auch wenn er, dem Geist der Zeit entsprechend, streng wissenschaftlich in die Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise einzudringen versucht. Und strenge Wissenschaftlichkeit hieß in einer Zeit, in der das Publikum betört war von den Fortschritten der physikalischen und chemischen Forschungen, sich an den Methoden der Naturwissenschaft zu orientieren. Marx konnte sich dem Bann dieses Zeitgeistes nicht entziehen und hat so sein Denken, wie Antonio Gramsci schrieb, da und dort "durch positivistische und naturalistische Zusätze entweiht"[8]. Wie wir noch sehen werden, rühren die meisten der Irrtümer und Mißverständnisse, die sich im "Kapital" finden, aus solchen positivistischen Zuspitzungen. Dabei wußte Marx natürlich, daß die Analyse der kapitalistischen Gesellschaft sich nicht den Methoden der Naturwissenschaft unterwerfen kann. "Bei der Analyse der ökonomischen Formen", schreibt er im Vorwort zur ersten Auflage des ,Kapital‘, "kann … weder das Mikroskop dienen noch chemische Reagentien. Die Abstraktionskraft muß beide ersetzen"[9]. 

 

Doch daß Marx bei der Analyse der Ökonomie Philosoph blieb, beweist nicht nur die Gedankenbewegung des "Kapital" und seiner Vorstudien, sondern auch der Umstand, daß er eine kleine Ewigkeit brauchte, um sie zu vollenden. Immerhin hat er seine ökonomischen Studien Anfang der fünfziger Jahre begonnen und erst 1867 den ersten Band des "Kapital" fertigstellen können. Das lag nicht nur daran, daß Marx Kistenweise Material sammelte und Tag um Tag, Jahr um Jahr, im British Museum über immer neuen Statistiken, immer detaillierteren Berichten brütete und auch nicht zuvorderst daran, daß er sich mit allerlei polemischen oder revolutionären Aktivitäten ablenkte – es war ihm schlicht auch eine Qual, die Komplexität der so raffinierten, multikausal bewegten ökonomischen Realität soweit zu reduzieren, daß sie zwischen zwei Buchdeckel paßte und für die Leser – wenn auch für solche, "die etwas Neues lernen, also auch selbst denken wollen"[10] – verständlich blieb. Ein erster Versuch endete 1858 in eng beschriebenen Manuskriptblätter, die in gedruckter Form knapp tausend Seiten umfaßten und jeden Leser, der in der Marxschen Denkbewegung nicht geschult war – und das waren zu dieser Zeit wohl mit Ausnahme von Friedrich Engels nahezu alle – hoffnungslos überfordert hätten. Marx legte sie alsbald zur Seite. Dennoch, oder gerade deswegen, zeigt sich in diesem Kompendium, das Ende der dreißiger Jahre des Zwanzigsten Jahrhunderts in Moskau unter dem Titel "Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie" veröffentlicht wurde, der Marxsche Gedankengang reiner als später im "Kapital": seine Schwäche ist auch seine Stärke, ist es doch noch frei von Simplifizierungen, wie sie sich in der "populäreren" Durcharbeitung zwangsläufig finden.

 

Nichtsdestoweniger blieben die Zugeständnisse freilich gering. "Wirklich populär können wissenschaftliche Versuche zur Revolutionierung einer Wissenschaft niemals sein", heißt es in einem Brief von Marx an seinen Freund Kugelmann Ende 1862[11]. Wie die "Grundrisse" ist das "Kapital" keine Anklage gegen die Kapitalisten, sondern eine Analyse des Kapitalprinzips. Bereits im Vorwort des "Kapital" stellt Marx "zur Vermeidung möglicher Mißverständnisse" fest: "Die Gestalten von Kapitalist und Grundeigentümer zeichne ich keineswegs in rosigem Licht. Aber es handelt sich hier um die Personen nur, soweit sie die Personifikation ökonomischer Kategorien sind, Träger von bestimmten Klassenverhältnissen und Interessen. Weniger als jeder andere kann mein Standpunkt, der die Entwicklung der ökonomischen Gesellschaftsformation als einen naturgeschichtlichen Prozeß auffaßt, den einzelnen verantwortlich machen für Verhältnisse, deren Geschöpf er sozial bleibt, sosehr er sich auch subjektiv über sie erheben mag."[12] Das Kapitalverhältnis hat sich längst zur subjektlosen Macht über die Subjekte aufgeschwungen und gerade deshalb die relative Freiheit der bürgerlichen Gesellschaft begründet, weil es personaler Macht nicht mehr bedarf. "Raubt der Sache diese gesellschaftliche Macht und ihr müßt sie Personen über Personen geben", proklamierte Marx bereits in den "Grundrissen", in der bürgerlichen Gesellschaft ist "persönliche Unabhängigkeit auf sachlicher Abhängigkeit gegründet"[13]. Und seinen Freund Kugelmann klärt er in einem Brief darüber auf, "daß der einzelne Fabrikant … nicht viel in der Sache tun kann". Welches immer die empirischen Resultate der kapitalistischen Verhältnisse seien, "im großen und ganzen hängt dies … nicht vom guten oder bösen Willen des einzelnen Kapitalisten ab"[14]. Als Bösewichte treten die Kapitalisten im Oeuvre von Marx nur auf, wenn sie ihre ökonomische Macht zum Gewinn von politischer Macht – und diese wiederum zur Verteidigung eines anachronistischen sozialen Status quo – benützen. Da stößt der Revolutionär Marx dann Blitze aus gegen "die Herren von Grund und Boden und die Herren von Kapital", die "ihre politischen Privilegien stets gebrauchen (werden) zur Verteidigung und zur Verewigung ihrer ökonomischen Monopole"[15].

 

Wie wenig Kompromisse Marx schlußendlich in seiner Ergründung des "naturgeschichtlichen" Prozesses der kapitalistischen Gesellschaftsformation mit dem "Scheißpositivismus"[16] (Brief an Engels, 1866) macht, zeigt schließlich der Umstand, daß er das "Kapital" mit dem komplizierten Kapitel über "die Ware" beginnen läßt, das, anders als jene über die Verwandlung von Geld in Kapital oder jene über die Produktion von Mehrwert ohne allzu viele Formeln auskommt, dafür aber beim Leser eine Sensibilität für Marx‘ Spiel mit philosophischen Paradoxien voraussetzt. Nachdem Marx die beiden Seiten eines beliebigen Produktes, das zur Ware wird, epigrammatisch auseinanderschält – den Umstand nämlich, daß es sowohl über einen Gebrauchs- wie auch Tauschwert verfügt – und ausführt, daß der Tauschwert Gebrauchswert zwar bedingt, doch nur der Tauschwert die Ware zur Ware macht, weil er ermöglicht, daß sie sich gegen Waren anderer Art und gegen die eine "spezifische Warenart" – die "Geldware" – austauscht; und nachdem er uns kurz darauf stößt, daß all diese Waren, was immer sie unterscheidet, nur eines gemeinsam haben, daß nämlich Arbeit in sie investiert ist, deren Quantum alleine die Größe des Wertes bestimmt, nimmt Marx sich den "Fetischcharakter der Ware" und sein "Geheimnis" vor. "Die Ware", heißt es hier, "erscheint auf den ersten Blick ein selbstverständliches, triviales Ding. Ihre Analyse ergibt, daß sie ein sehr vertracktes Ding ist, voll metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken."[17] Es begegnet uns nun der Argumentationsmodus wieder, den wir aus den Pariser Manuskripten schon kennen. "Das Geheimnisvolle der Warenform besteht also einfach darin, daß sie den Menschen die gesellschaftlichen Charaktere ihrer eigenen Arbeit als gegenständliche Charaktere der Arbeitsprodukte selbst, als geschichtliche Natureigenschaften dieser Dinge zurückspiegelt, daher auch das gesellschaftliche Verhältnis der Produzenten zur Gesamtarbeit als ein außer ihnen existierendes gesellschaftliches Verhältnis von Gegenständen."[18] Aus der Entfremdung wird der Warenfetisch – der Umstand, daß Produkte, wie Götzen, von Menschen produziert, als wären sie mit eigenem Leben beseelt, auf Menschen reagieren und menschliche Reaktionen wieder hervorrufen. Wie von Geisterhand bewegt, weichen sie zurück, je mehr die Menschen nach ihnen streben. "Hier scheinen die Produkte des menschlichen Kopfes mit eigenem Leben begabte, untereinander und mit den Menschen in Verhältnis stehende selbständige Gestalten. So in der Warenwelt die Produkte der menschlichen Hand. Dies nenne ich den Fetischismus."[19] Im Tauschwert entwickeln die Waren "eine von ihrer Realität verschiedne phantastische Gestalt"[20], der Wert steht den Waren "nicht auf die Stirn geschrieben", verwandelt jedes Produkt "in eine gesellschaftliche Hieroglyphe", die die Menschen nicht mehr zu entziffern vermögen. Sie setzen Waren, in die gleiches Quantum Arbeit investiert ist, zwar einander gleich, "sie wissen das nicht, aber sie tun es"[21].  Ein Holztisch, "ein ordinäres sinnliches Ding", verwandelt sich, sobald er als Ware auftritt, "in ein sinnlich übersinnliches Ding" und "entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne"[22]. Dies gilt für den Holztisch wie für das Stück Land, für Perlen un
d für Diamanten. "Bisher hat noch kein Chemiker Tauschwert in Perle oder Diamant entdeckt"
[23]. Der Wert, dieser "Mystizismus", all der "Zauber und Spuk"[24], hat also – dies die Pointe von Marx‘ so eloquenter wie amüsanter Schilderung – nichts zu tun mit der sinnlichen Beschaffenheit der Dinge, er sitzt nicht im Edelstein, er wächst nicht aus dem Boden und auch nicht aus dem Holz, sondern aus der Gesellschaft.

 

Die warenproduzierende Gesellschaft unterscheidet sich nun durch einige wesentliche Details von allen bisherigen Gesellschaften. In ihr stehen sich die Subjekte als Freie gegenüber. Gesellschaften, in denen etwa Leibeigene für ihre Herren produzierten, haben es zum verallgemeinerten Warenprinzip nicht gebracht, auch wenn in ihnen Austausch und Geldwirtschaft existiert haben mögen. Doch hier hat etwa der Bauer noch einen fixen Teil seiner Produktion dem Herrn abgeliefert. Diese Produkte, die vom Untergebenen an den Herrn übergingen, waren mitnichten Waren, und das Abhängigkeits- und Ausbeutungsverhältnis lag klar vor Augen. Allerdings: Die einfache Warenzirkulation, die auch in diesen Gesellschaften möglich war, rief das Kapital in seiner simplen, noch rohen Form ins Leben. Ja, es war sogar die kaufmännische Anhäufung von Reichtum möglich, entsprechend der Formel G-W-G‘, gleichsam der Urformel des Kapitals: Geld; Ware; mehr Geld; – ich kaufe eine Ware und verkaufe sie teurer weiter. "Die Warenzirkulation ist der Ausgangspunkt des Kapitals"[25]. Schon hier sehen wir die Eigenart des Kapitals, wenn auch noch in unreifer Form: es ist immer ein Prozeß. "Das Kapital ist kein einfaches Verhältnis, sondern ein Prozeß, in dessen verschiedenen Momenten es immer Kapital ist[26]", formuliert Marx in den "Grundrissen", und fügt hinzu: "Geld hat als Kapital seine Starrheit verloren, und ist aus einem handgreiflichen Ding zu einem Prozeß geworden."[27] Der Geldbesitzer als Kapitalist unterscheidet sich vom Schatzbildner dadurch, daß es ihm "wie dem Welteroberer" gehe, "der mit jedem Land nur eine neue Grenze erobert".[28] Nun wird sich aber eine entwickelte kapitalistische Gesellschaft nicht damit begnügen können, die Kapitalanhäufung auf Übertölpelung und Übervorteilung oder sonstige Formen der Handelsgewinne zu begründen. Wäre sie darauf angewiesen, daß es Kaufleuten gelingt, Waren teurer weiterzuverkaufen, als sie sie erstanden, wären ihr enge Grenzen gesteckt. Marx entdeckt nun, daß es eine Ware gibt, die mehr "Wert" zu schaffen vermag, als sie selbst "wert" ist: und das ist die menschliche Arbeitkraft.

 

Zwei Freie treten sich in diesem ökonomischen Drama gegenüber: Der Arbeiter und der Kapitalist. Keiner unterdrückt oder betrügt den anderen. Sie schließen einen Vertrag, wie er sich unter Freien geziemt. Der eine verkauft dem anderen seine Arbeitskraft für eine bestimmte Zeit. Der andere hat das Recht, sie zu benützen. Die Arbeitskraft hat ihren Wert, ihren Preis: "Der Wert der zur Erhaltung ihres Besitzers notwendigen Lebensmittel"[29]. Nun wären natürlich eine Reihe von Einwänden fällig, darunter zwei wesentliche. Erstens: Auch zu Marxens Zeiten erhielten Arbeiter nicht immer nur soviel, daß sie sich gerade ein Brot, ein bißchen Wurst, eine Suppe und ein Dach über dem Kopf leisten konnten. Zweitens: Verschiedene Arbeiter verdienen unterschiedlich viel Geld, obwohl die Menge der Güter, die sie zum Überleben brauchen, relativ gleich ist.  Doch die natürlichen Bedürfnisse, ergänzte Marx sofort, "sind verschieden je nach den klimatischen und andren natürlichen Eigentümlichkeiten eines Landes", und andererseits abhängig "von der Kulturstufe eines Landes". So wie der Begriff des Elends immer ein höchst relativer ist, so enthält auch "die Wertbestimmung der Arbeitskraft ein historisches und moralisches Element"[30]. Der Umstand, daß besser gebildete Arbeitskräfte mehr Salär erhalten als schlechtere, kann ebensowenig verfangen, denn erstere verfügen über "eine Arbeitskraft, worin höhere Bildungskosten eingehen, deren Produktion mehr Arbeitszeit kostet und die daher einen höheren Wert hat als die einfache Arbeitskraft"[31].

 

Nun fährt Marx bei der Entwicklung seines berühmten "Wertgesetzes" fort: die Arbeiter, die einen bestimmten Lohn erhalten, werden in Fabriken eingesetzt. Dort bearbeiten sie Güter – Rohstoffe, Vorprodukte -, die einen gewissen Wert haben (also: in ihnen enthaltene, sozusagen "geronnene" menschliche Arbeit), mit Hilfe von Maschinen, von denen wiederum ein Teil ihres Werts (also: in ihnen enthaltene, geronnene menschliche Arbeit) auf das Endprodukt übergeht. Der Wert der Vorprodukte und der Arbeitsmittel plus der Arbeitszeit, die die Arbeiter in sie investieren, macht nun den Wert des neuen Produktes aus. Doch der Wertzuwachs ist höher als der Gegenwert, den der Arbeiter zur Bestreitung seiner Lebenshaltungskosten erhält – als der Lohn, das Gehalt. Die Differenz – der "Mehrwert" – wird vom Kapitalbesitzer angeeignet. Ohne ihn über’s Ohr zu hauen, hat der Kapitalist mehr lukriert, als er dem Arbeiter bezahlt. Marx rechnet diese Ableitung an unzähligen Beispielen durch, führt sie im Detail aus, was etwa geschieht, wenn wenige Arbeiter in kapitalintensiven Branchen arbeiten, wie sich eine gesellschaftliche Durchschnittsarbeitzeit als Wertquantum durchsetzt, wie durch Intensivierung der Arbeit das Verhältnis von jener Arbeit, die notwendig ist, um das Äquivalent des Arbeitslohnes zu produzieren, zur Mehrarbeit zum Vorteil des Unternehmers verschoben werden kann etc. pp. Diese Konkretionen sollen uns hier nicht weiter beschäftigen, ist das Prinzip doch selbst umstritten: daß allein menschliche Arbeit wertschaffend sei und sich in letzter Instanz der Preis eines Produktes durch die investierte Arbeit bemißt.

 

Marx‘ Gegner haben diese zentrale These seit 130 Jahren zum Anlaß genommen, das gesamte Gedankengebäude des "Kapital" in Frage zu stellen. Welche Rolle spielt in diesem Konzept der Dienstleistungssektor, welche Bedeutung ist den modernen Wissensarbeitern zugedacht, deren Talente, deren Eloquenz oder deren Fähigkeit, sich zu vermarkten, nicht unwesentlich den "Preis" ihrer "Arbeitskraft" bestimmt – Fragen wie diese prasselten unentwegt auf Marx‘ Jünger ein, die sich ihrerseits alle Mühe dieser Welt gaben, jedes noch so abseitige Detail in die Theorie einzupassen. Erst jüngst hat wieder der britische Ökonom und Keynes-Biograph Robert Skidelsky den Stab über Marx gebrochen, indem er proklamierte: "Die Hauptthese seiner Ökonomie, die Arbeitswerttheorie, ist zertrümmert und nicht renovierbar."[32] Ohne Zweifel ist die Arbeitswertlehre, die Marx übrigens nicht selbst aufstellte, sondern mit nur leichten Variationen von dem großen britischen Ökonomen David Ricardo übernommen hatte, etwas grob zugehauen und man merkt Marx an, wie er mit intellektueller Verve das Prinzip freizulegen versucht, so wie ein Chemiker ein Element isoliert, das er gerade zu entdecken sich anschickt. "Marx bewunderte", schreibt Francis Wheen in seiner Biographie, "die objektive, unsentimentale Methodologie von Ricardo und Smith. Und in der Tat sind diejenigen Aspekte des ,Kapitals‘ die heute am meisten verlacht werden, wie beispielsweise die Arbeitswerttheorie, von diesen klassischen Ökonomen hergeleitet und waren zu jener Zeit die vorherrschende Meinung."[33] Für einen anderen großen Ökonomen des 20. Jahrhunderts, für Joseph Schumpeter, war die Arbeitswertlehre zwar nicht falsch, aber doch nur eine "rohe Annäherung an die historischen Tendenzen der relativen Werte[34]". Der Streit um die Arbeitswertlehre wurde heftig geführt und ist stark ideologisch eingefärbt, da – unabhängig von wissenschaftlicher Haltbarkeit oder Unhaltbarkeit der Theorie -, ja die Frage mitschwingt, ob nur die "Arbeiterklasse" den gesellschaftlichen Reichtum schafft oder der Bourgeoisie doch ein Teil der Ehre zukommt. Die Wahrheit wird wohl irgendwo in der Mitte liegen, ist die Lehre, daß wesentlich geronnene Arbeit den Preis eines Produkts bestimmt, wie jede monokausale Erklärung gesellschaftlicher Phänomene wohl ein wenig zu plump, doch wird ihre relative Brauchbarkeit andererseits auch von den Kapitalbesitzern immer wieder unter Beweis gestellt, wenn sie, unter den Bedingungen der Globalisierung Fertigungsstätten aus Ländern mit hohem Lohnniveau in solche mit niedrigerem verlegen – nicht ohne dem Hinweis, nur so könnten sie in der Weltmarkt-Konkurrenz bestehen. Die Preise sind eben nur bis zu einer gewissen Grenze flexibel, und wenn sie unter die Produktionskosten – und das sind in letzter Instanz Kosten für menschliche Arbeit – fallen, dann ist dem Unternehmen, das so verfahren muß, wohl keine große Zukunft mehr beschieden. Ohnehin gilt generell, daß, was die Stärke einer These ausmacht, gleichzeitig ihre Schwäche ist: daß sie von Sonderfällen und Nebensächlichkeiten absehen muß, um universelle Brauchbarkeit zu erlangen. Zweifelsohne  ist der Kapitalismus des "Kapital" eine Art "Labor"-Kapitalismus mit einen freien Markt, wie es ihn in der Realität nicht gibt. So gibt Marx denn an mancher Stelle seines Werkes auch gerne zu, seine Analyse der Gesetze des Kapitalismus bedinge "vorläufiges Wegsehn von allen Phänomenen, welche das innere Spiel seines Mechanismus verstecken"[35], und er räumt ein, die von ihm analysierten Prozesse werden bei ihrer "Verwirklichung durch mannigfache Umstände modifiziert, deren Analyse nicht hierher gehört"[36]. Diese "modifzierenden Umstände" wie Staat, Machtkämpfe, Tradition, Ignoranz, Borniertheit, Etikette, Erfindungen, Hysterien und Sozialgesetzgebung, stehen tatsächlich exterritorial zum System der politischen Ökonomie – wenngleich zentral in der Geschichte der modernen kapitalistischen Gesellschaft. Ohne Zweifel mußte Marx in seiner Analyse einen "reinen" Markt, die "reine" freie Konkurrenz voraussetzen – auch wenn er selbstverständlich wußte, wie Gramsci sagte, daß die Wirklichkeit "niemals ,rein‘ ist"[37].

 

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Doch alle Simplifizierungen haben Marx nicht daran gehindert, klarer zu sehen als die meisten braven Empiristen seiner und unserer  Zeit. In der zweiten Hälfte des "Kapital" zeichnet Marx kunstvoll, wie aus den Prozessen, die das Kapitalverhältnis in Gang setzt, aus den Verhältnissen von Verhältnissen, die es gebiert, eine gleichsam automatische Welt erwächst, eine große Welt-Maschine, die jeden und alle an sich anschließt, und die vom Großen bis zum Kleinen die Subjekte zu Räderwerken der Kapitalverwertung macht. Die Warenproduktion zwingt, wo die Lohnarbeit allgemeine Basis ist, "sich der gesamten Gesellschaft auf"[38]. Der Kapitalist schafft einen "gesellschaftlichen Mechanismus, worin er nur ein Triebrad ist" und "die Konkurrenz herrscht jedem individuellen Kapitalisten die immanenten Gesetze der kapitalistischen Produktionsweise als äußere Zwangsgesetze auf"[39]. Wie der Proletarier ihr "nur als Maschine zur Produktion von Mehrwert, gilt ihr aber auch der Kapitalist nur als Maschine zur Verwandlung dieses Mehrwerts in Mehrkapital".[40] Doch so wie die kapitalistische Welt als Ungeheuer, als toter Mechanismus unabhängig von den Akteuren seine Prinzipien hinter deren Rücken vollzieht und sie sich als lebendige Anhängsel einverleibt, so wird in der kapitalistischen Fabrik der "Automat selbst das Subjekt, und die Arbeiter sind nur als bewußte Organe seinen bewußtlosen Organen beigeordnet"[41]. Aus den vereinzelten Maschinen in den frühneuzeitlichen Manufakturen wird "hier ein mechanisches Ungeheurer, dessen Leib ganze Fabriksgebäude füllt und dessen dämonische Kraft, erst versteckt durch die fast feierlich gemeßne Bewegung seiner Riesenglieder, im fieberhaft tollen Wirbeltanz seiner zahllosen eigentlichen Arbeitsorgane ausbricht"[42]. Unterwirft die Warenwelt sich das gesamte Leben, so die Fabrik sich den Arbeiter. Er wird dem kapitalistischen Prinzip vollends "subsumiert". Selbst "die Erleichterung der Arbeit wird zum Mittel der Tortur, indem die Maschine nicht den Arbeiter von der Arbeit befreit, sondern seine Arbeit vom Inhalt"[43] – es ist die Maschine, die "tote Arbeit, welche die lebendige Arbeitskraft beherrscht und aussaugt".

 

Wir haben bereits mehrmals gesagt, welch ein großer Literat Marx auch war, und man stelle nun für einen Augenblick Überlegungen, wie sehr oder wie wenig diese Schilderung mit unserem zeitgenössischen Kapitalismus zu tun hat, hintan: Ist unsere Frankensteingeschichte von dem Monstrum, das von Menschenhand geschaffen, sich gegen seinen Erzeuger wendet, nicht gerade umgeschlagen in eine klassische Vampirgeschichte, von den Unwesen, die den Menschen ihr Wesenhaftes aussaugen?

 

Ohne Zweifel läßt sich darüber streiten, wie sehr Marx‘ Schilderung mit dem Kapitalismus unserer oder früherer Tage zu tun hat, wenngleich feststehen dürfte, daß mit der äußeren Landnahme der warenproduzierenden Gesellschaft auch eine innere Kolonisation stattgefunden hat, menschliche Bedürfnisse zurechtgebogen, diszipliniert, an das fabrikmäßige Funktionieren angeschlossen, die Menschen buchstäblich hergerichtet wurden. Noch die Befreiung von äußeren Reglementierungen, wie wir sie im neuesten, flexiblen Kapitalismus erleben, bestätigt diesen Prozeß, setzt dieser doch ein innerlich abgerichtetes – oder, um es mit einem modernen Wort zu sagen: formatiertes – Produzenten- und Unternehmer-Individuum voraus, ohne welches derselbe gar nicht zu funktionieren vermöchte – die Subjekte müssen nicht mehr an der kurzen Leine gehalten werden, schier unsichtbare Fäden sachlicher Abhängigkeit reichen aus, produziert die Produktion schließlich seit fast zweihundert Jahren "nicht nur einen Gegenstand für das Subjekt, sondern auch ein Subjekt für den Gegenstand"[44].

 

Und ist die systemtheoretische These vom autopoietische Selbstlauf des Systems Ökonomie auf globaler Grundlage nicht vorweggenommen in Marx‘ knapper Notiz in den Grundrissen, "im Weltmarkt hat sich der Zusammenhang des Einzelnen mit Allen, aber auch zugleich die Unabhängigkeit dieses Zusammenhangs von den Einzelnen" zu voller Höhe entwickelt? Doch Marx schildert natürlich den Kapitalismus nicht nur in seinem Raffinement, seiner eigensinnigen Wucht. "Daß Widersprüche im Kapital enthalten sind, sind wir die letzten zu leugnen. Unser Zweck ist vielmehr sie völlig zu entwickeln", formuliert er[45]. Mit dem Kapitalismus wird "die Verrücktheit" als "ein Moment der Ökonomie" eingeführt und für "das praktische Leben der Völker bestimmend"[46]. So begegnen wir im "Kapital" dem uns heute unter dem Titel "Krise der Arbeit" bestens bekannten Paradoxon, daß das auf Lohnarbeit basierende Produktionsverhältnis mittels Technisierung und Verwissenschaftlichung tendenziell Arbeit überflüssig macht, mit dem absurden Resultat freilich, daß die ungeheuren Potenzen zur Verkürzung der Arbeitszeit und zur Befreiung vom Trott, den die Automatisierung und die informationstechnologische Revolution der Produktion bietet, die Menschen nur umso mehr dem Terror der Lohnarbeit unterwirft, weil das Gerangel um die letzten verbliebenen Arbeitsplätze in den volltechnisierten Fertigungsstätten umso wilder wird: "Das gewaltigste Mittel zur Verkürzung der Arbeitszeit (schlägt) in das unfehlbarste Mittel um, alle Lebenszeit des Arbeiters und seiner Familie in disponible Arbeitszeit für die Verwertung des Kapitals zu verwandeln.[47]" Kaum überschaubar ist das Ensemble einander widerstreitender Teilrationalitäten, die nicht nur die Gesellschaft, sondern die Subjekte selbst durchfurchen. Wie heute die Stahlwerker, die ihre Ersparnisse in Pensionsfonds anlegen, sich falsch verhalten, indem sie sich richtig verhalten, so erscheint, führt Marx aus, jedem Kapitalisten die Gesamtmasse aller Arbeiter, "mit der Ausnahme seiner eignen Arbeiter … nicht als Arbeiter, sondern als Konsumenten"[48]. So "verlangt jeder Kapitalist zwar, daß seine Arbeiter sparen sollen, aber nur seine, weil sie ihm als Arbeiter gegenüberstehen; beileibe nicht die übrige Welt der Arbeiter, denn sie stehn ihm als Konsumenten gegenüber". Daher versucht er alles, "sie zum Konsum anzuspornen, neue Reize seinen Waren zu geben, neue Bedürfnisse ihnen anzuschwatzen etc."[49] Noch der Umstand, daß die Werte nicht nur produziert, sondern auch realisiert werden müssen, gebiert die große Paradoxie der Krise, die auf Überproduktion an Waren beruht, für die sich keine Käufer finden: erst eine Gesellschaft, in der das Elend nicht den Mangel, sondern den Überfluß zur Ursache hat, muß den Widerspruch aushalten, Armut im größten Reichtum, schwarze Löcher im kommerziellen Glitzeruniversum immer fort zu produzieren. Daß die Produktion von Gütern nur begrenzt ist von der "Produktivkraft der Gesellschaft", die Realisierung dieser Werte dagegen durch die "Konsumtionskraft der Gesellschaft", hat Marx im 3. Band des "Kapital" ausgeführt[50]. Dieser Widerspruch, der von den einzelnen Kapitalbesitzern immerfort selbst am Leben gehalten wird, indem sie die Konsumtionskraft ihrer Arbeiter versuchen so niedrig wie möglich zu halten, während sie gleichzeitig doch an einer maximalen Konsumtionskraft aller Arbeiter in höchsten Maße interessiert sind, ist für Marx die letzte Ursache der immer wiederkehrenden Krisen und Rezessionen, für jene "gewaltsamen Eruptionen, die das gestörte Gleichgewicht für den Augenblick wiederherstellen"[51]. Um der Krise zu entfliehen, muß der Markt "daher beständig ausgedehnt werden", jede Grenze ist nur eine Schranke, die es zu überwinden gilt, doch "die wahre Schranke der kapitalistischen Produktion ist das Kapital selbst"[52]. Jeder neue Aufschwung trägt die nächste Krise bereits in sich: "Die kapitalistische Produktion strebt beständig, diese ihr immanenten Schranken zu überwinden, aber sie überwindet sie nur durch Mittel, die ihr diese Schranken aufs neue und auf gewaltigerm Maßstab entgegenstellen.[53]" 

 

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Die kapitalistische Welt, in der wir leben, ist eine hochgradig seltsame – eine große Ordnung und eine Große Unordnung[54] zugleich. Wir alle gehorchen einer Ratio, die wir nicht zu beeinflussen vermögen. Hier kann man nicht kapitalistisch oder sozialistisch wirtschaften, nicht eigennützig oder humanistisch, sondern nur gut oder schlecht. Der Common Sense, daß kaum mehr unterschiedliche Entwicklungspfade denkbar sind, die zu beschreiten die Menschen sich entscheiden können, ist längst allgemein durchgesetzt. Die Austauschbarkeit der Programme der politischen Parteien, beispielsweise, der mächtige Drang zur "Mitte", ist nur ein Indiz dafür. Jeder ambitioniertere Eingriff ins Wirtschaftsleben, den Regierungen etwa wagen, hat Folgen, die nicht selten den Intentionen der Akteure entgegenwirken, und führt sofort ein Eigenleben, sodaß die Problemlösungen von heute oft nur die Probleme von morgen schaffen. Der stumme Zwang der Verhältnisse ist längst zur zweiten Natur der Bewohner moderner westlicher Gesellschaften geworden. Und – verkehrte Welt! – es ist ausgerechnet diese Epoche, die als Leitbild die "Individualisierung" erzeugte, als wären die ihrer selbst bewußten Subjekte Herren ihres Lebens. Was wir auch tun, wir verhalten uns richtig und falsch zugleich. Was wir falsch machen, machen wir richtig; was wir richtig machen, machen wir falsch. Indem wir unsere Interessen verfolgen, handeln wir unseren Interessen zuwider. Wenn ein Unternehmer die Einkommen seiner Beschäftigten erhöht, verhält er sich nicht nur menschenfreundlich, er tut dem Kapitalismus als ganzen etwas Gutes – nur läuft er höchste Gefahr, selbst ganz schnell bankrott zu gehen. Gute Vorsätze bringen die Menschen – wie einst Brechts Shen Te – "an den Rand des Abgrunds, gute Taten stürzen ihn herab". Die ökonomische Ratio setzt sich – nach einem Wort von Engels – als "eine Wechselwirkung", einer unendlichen "Menge von Zufälligkeiten durch", als Resultat vieler Einzelwillen, heraus kommt etwas, was streng besehen niemand gewollt hat. Die ökonomischen Kräfte sind so gesehen von Anfang an Kraft von niemandem[55]. Der Mächtigste und der Ohnmächtigste, sie sind beide nur Komparsen in einem absurden theatrum mundi – Gefangene von Rollen, deren Autoren sie nicht sind. Denn dieses Theater ist, um es mit Louis Althussers schöner Wendung zu sagen, "seinem Wesen nach ein Theater ohne Autor"[56].

 

Es ist dies die Geschichte einer automatischen Welt, einer eigensinnigen Weltmaschine, eines Autopiloten, den niemand mehr ins Steuer zu greifen vermag, die Marx in seinem Lebenswerk auf so grandiose Weise  beschrieben hat – jener Karl Marx, den manche heute nicht zu Unrecht einen großen Satiriker nennen.

 






[1] Brecht Werke, Band 5. Schriften. Seite 41. Berlin 19??

[2] Zitiert nach: Mayer: Seite 52

[3] Eine detaillierte Analyse des Fondsprinzips habe ich versucht in: Zur unpolitischen Ökonomie des Rentners. Pensionsfonds – ein Phänomen des neuesten Kapitalismus. In: Merkur. 582/583. Stuttgart 1997

[4] siehe: Michel Foucaul: Die Maschen der Macht. In: Freibeuter, Nr. 63, Berlin 1995

[5] Niklas Luhmann: Die Politik der Gesellschaft. Frankfurt/M. 2002. S. 168

[6] ibid. S. 128

[7] Karl Marx: Vorwort. MEAW 2. S. 501 f.

[8] Antonio Gramsci: Die Revolution gegen das "Kapital". In: Antonio Gramsci- vergessener Humanist. Berlin 1991. S. 32.

[9] MEW. Bd. 23. S. 12

[10] ibid. S. 12

[11] Karl Marx/Friedrich Engels: Briefe über "Das Kapital". S. 144

[12] MEW 23. S. 16

[13] Grundrisse. S. 75

[14] Karl Marx/Friedrich Engels: Briefe über "Das Kapital". S. 223

[15] Karl Marx: Inauguraladresse der Internationalen Arbeiter-Assoziation. MEAW 3, S. 15.

[16] Briefe. S. 167

[17] MEW 23. S. 85

[18] MEW 23. S. 86

[19] MEW 23. S. 86

[20] MEW 23. S. 92

[21] MEW 23. S. 88

[22] MEW 23. S. 85

[23] MEW 23. S. 98

[24] MEW 23. S. 90

[25] MEW 23. S. 161

[26] Grundrisse, S. 170

[27] Grundrisse, S. 174

[28] MEW 23. S. 147

[29] MEW 23. S. 185

[30] MEW 23. S. 185

[31] MEW. 23. S. 212

[32] Robert Skidelsky: What’s Left of Marx. In: New York Review of Books. November 16, 2000.

[33] Wheen, S. 362

[34] zitiert nach. Ernst Theodor Mohl: Anmerkungen zur Marx-Rezeption. In: Folgen einer Theorie. Essays über "Das Kapital" von Karl Marx. Frankfurt/M. 1967 S. 21

[35] MEW 23. S. 590

[36] MEW 23. S. 674

[37] Gramsci, Gefängnishefte Bd 4, Hamburg 1992. S. 888

[38] MEW 23. S. 613

[39] MEW 23. S. 618

[40] MEW 23. S. 621

[41] MEW 23. S. 442

[42] MEW 23. S. 402

[43] MEW 23. S. 446

[44] Grundrisse, S. 13

[45] Grundrisse, S. 257

[46] Grundrisse, S. 180

[47] MEW 23. S. 430

[48] Grundrisse S. 322

[49] Grundrisse S. 198

[50] Karl Marx: Das Kapital. Dritter Band. MEW 25. S. 254

[51] MEW 25. S. 259

[52] MEW 25. S. 260

[53] MEW 25. S. 260

[54] siehe Bertolt Brecht: Arbeitsjournal, Bd. 1, Frankfurt/M. 1993. S. 218

[55] Friedrich Engels: Brief an Joseph Bloch, MEAW 6, S. 556

[56] Louis Althusser/Etienne Balibar: Das Kapital lesen. Bd. 2. Reinbeck 1972. S. 260

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