Wählen ohne Wahlmöglichkeit

Der große Konsens und seine Folgen: Was passiert, wenn man zwischen politischen Programmatiken wählen darf, die etwa so stark divergieren wie Coke und Pepsi. Standard-Album, Juni 2005

 

 

Dem slowenischen Philosophen Slavoj Zizek verdanken wir die These, dass die westliche liberale Demokratie, die eigentlich doch die Ordnung der Freiheit sein sollte, die freie Entscheidung abgeschafft hat. "Es ist allgemein bekannt, dass der ‚Schließen"-Knopf in den meisten Aufzügen ein völlig funktionsloser Placebo ist, um den Individuen den Eindruck zu vermitteln, sie hätten irgendeinen Einfluss auf die Schnelligkeit, mit der der Fahrstuhl arbeitet. Dieser extreme Fall vorgegaukelter Partizipationsmöglichkeiten ist eine passende Metapher für die Einflussmöglichkeiten der Individuen auf unseren ‚postmodernen‘ politischen Prozess."

 

In global vernetzten Gesellschaften geben politische Parteien oft nicht einmal mehr vor, es würde zwischen ihnen ein grundlegender Unterschied existieren. Gerhard Schröder, damals noch niedersächsischer Ministerpräsident und Quergeist in der deutschen SPD, empörte vor zehn Jahren seine Genossen, in dem er bekundete, es gebe keine linke und keine rechte Wirtschaftspolitik, sondern nur richtige und falsche. Das war nur die radikal zugespitzte Konsequenz eines allgemeinen Trends. Wahlen sind heute oft Wahlen ohne Wahlmöglichkeiten.

 

Wählen heißt aus solcher Perspektive, sich für oder dagegen zu entscheiden, den ‚Schließen‘-Knopf im Fahrstuhl zu betätigen. Welche Wahl immer getroffen wird, sie zeitigen alle die gleichen Resultate. Politik ist dann weniger Konflikt als Konsum, man entscheidet nach Gusto von der Art: Coke oder Pepsi.

 

Je kleiner die Differenz, umso stärker wiegt das Marketing. Da Skoda und Audi zu 90 Prozent das idente mechanische Innenleben aufweisen, ist es an der Werbung, die verbliebenen zehn Prozent derart mythisch zu überladen, dass dies den doppelten Preis für das Produkt mit den Ringen rechtfertigt. Es braucht hierfür nicht nur die spielerischen Extras, sondern die Differenz muss zur Lifestyledifferenz erhöht werden. So ähnlich ist das in der Politik heute auch: Je kleiner die Differenz, desto gestylter die Kandidaten, desto schärfer der Spin der immergleichen Botschaften.

 

Die Steuern sind zu hoch, Investionshemmnisse müssen weggeräumt, Kapital muss angelockt werden, es gelten die Sachzwänge des globalen Marktplatzes: Es ist dieses Mantra, das heute von allen Akteuren am politischen Feld mit leichten Nuancen vertreten wird. Wer irgendwie meint, es muss doch noch etwas anderes geben, der ist im politischen Prozess nicht mehr repräsentiert. Es ist diese Phantasielosigkeit, die für Verdruss sorgt. Allenfalls sind es "die kleinen Unterschiede, die den Wählern noch suggerieren, sie hätten eine Wahl", kommentiert die Berliner "tageszeitung" in Hinblick auf die kommende Bundestagswahl, die die Autoren schon jetzt eine "Wahl ohne Wahl" nennen. Die Kultur der Alternativlosigkeit höhlt das Politische aus.

 

Der Verdruss entlädt sich gelegentlich und dann erruptiv. Das "Non" und das "Nee" der Franzosen  und der Niederländer zur EU-Verfassung wurde nicht zufällig als Revolte gegen eine Fragestellung interpretiert, bei der nur eine Antwort als erlaubt erschien. Das Nein, hatte Jean Baudrillard schon vor der Abstimmung leicht verschwurbelt gemeint, sei kein Nein zu Europa, sondern ein Nein zu jenem allzu selbstverständlichen Ja, von dem die Europapolitiker ausgingen. Das Setting war dergestalt, dass man nur "vernünftig" absegnen oder "unvernünftig" revoltieren konnte. Abweichen ist in solchen Fällen zwar nicht verboten, aber wer es tut, schießt sich selbst ins Bein. Eine Entscheidung, die als eine zwischen "Wissen und Dummheit" (Zizek) inszeniert wird, ist natürlich eine Nicht-Wahl.

 

Zu diesem Arrangement gehört der Siegeszug der "Experten". Politik wird aus dem Feld des Konfliktes herausgenommen, indem man Kommissionen beruft. In diesen erarbeiten Fachleute scheinbar wertfrei Lösungen, die dann Abgeordneten oder im Extremfall den Wählern selbst zur Entscheidung vorgelegt werden. In diesen Fällen gibt es bezeichnenderweise praktisch nie konkurrierende Lösungsvorschläge, zwischen denen zu wählen ist, sondern nur die Alternative, zuzustimmen oder sich infantil zu verweigern – und damit die Probleme zu prolongieren (oder gar zu verschärfen), für die die Vorschläge die Lösung darstellen sollten. 

 

Der totale Konsens hat natürlich eine Reihe von Ursachen. Eine davon ist das Erkalten der politischen Leidenschaften, die noch die Ära der großen Ideologien beherrschten. Diese Neutralisierung der Großkonflikte ist selbstredend nicht nur schlecht: kaum jemand wird beweinen, dass die Zeit überwunden ist, in der das Politische in Metaphern des Militärischen gedacht wurde und als Charakteristikum der politischen Unterscheidung – nach der berühmten Formel des deutschen Staastrechtlers Carl Schmitt – die Freund-Feind-Unterscheidung galt. Aber die Pointe ist, dass eine Welt ohne Außen Konflikte in ihrem Inneren züchtet: Etwa als gesellschaftliche Desintegrationsprozesse, wenn es die politischen Akteure immer weniger schaffen, die Mitglieder eines Gemeinwesens via den gehegten Konflikt, der ja immer auch ein Engagement für ein Gemeinwesen ist, einzubeziehen.

 

So ist die logische und für das Publikum meist höchst amüsante Konsequenz dieses Sachverhaltes, dass sich die brutalsten politischen Auseinandersetzungen nicht mehr zwischen den Parteien abspielen sondern innerhalb der Parteien selbst. Statt des Bürgerkrieges zwischen den Lagern gibt es jetzt die Schlammschlacht unter Parteifreunden.

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