„Bush hat 9/11 gekapert“

Pünktlich zum Jahresstag erzählt sich Amerika die Geschichte vom 11. September neu und verwandelt sie in einen uramerikanischen Mythos über die Tapferkeit freiheitsliebender Menschen, die unverschuldet zu Opfern werden. Das ist auch eine Strategie gegen die politische Instrumentalisierung des epochalen Momentes. 

 

Man sieht die Menschen, wie sie hastig nach unten fliehen und die Feuerwehrleute, wie sie nach oben stürmen. Den Rauch. Die Pfützen der Löscharbeiten. Die staunenden, fragenden, entsetzten Gesichter. Man hört Lärm, von dem man nicht weiß, woher er kommt. Was man nicht sieht in Oliver Stones neuen Film World Trade Center (hierzulande ab 28. September im Kino), das sind die bekannten Bilder, die, die sich aller Welt eingebrannt haben. Und dann realisiert man, dass die einzigen Menschen auf diesem Planeten, die die kanonisierten Sequenzen nicht kennen, die die Flugzeuge nicht gesehen haben, wie sie am 11. September 2001 in die Türme des World Trade Center in New York gekracht sind, jene Menschen sind, die sich in den beiden Türmen befunden haben.

 

Es ist wie eine Allegorie auf die doppelte Existenz des 11. September: Hier der 11. September als welthistorisches Ereignis – da der 11. September als persönliches Drama der Amerikaner. Der 11. September als Urszene einer neuen globalen Konfrontation – und der 11. September der, ja buchstäblich: „kleinen Leute“, die von den zusammensackenden Wolkenkratzern zermalmt wurden wie Ameisen, denen ein Elefant auf den Bau steigt. Hier der 11.September als Startschuss zum „Krieg gegen den Terror“, der 11. September George W. Bush’ – hier der 11. September der Opfer.

 

Zum 5. Jahrestag des orchestrierten Anschlages auf das WTC in New York und das Pentagon in Washington erzählt sich Amerika seine Geschichte neu. „Der Anschlag wurde zur Rechtfertigung eines unpopulären Krieges, er wurde zur Waffe in Wahlkampagnen“, schreibt Bruce Kluger, Kommentator von USA Today, nur um sich geekelt abzuwenden. Was jetzt versucht wird, ist, noch einmal hinter diese politische Indienstnahme des 11. September zurückzugehen und ihn in einen amerikanischen Mythos zu verwandeln, in eine moderne Version jener alten Geschichte, die sich Amerika seit jeher erzählt – in die Geschichte vom egalitären Amerika der zupackenden Leute, der guten Typen ohne Arg, die nicht fragen, was ihr Land für sie, sondern sie für ihr Land tun können. In einen modernen Mythos von Amerika, „Home of the brave“, der „Last Best Hope“ für diese Welt. Der neue Mythos wird in Kinofilmen wie dem von Oliver Stone verfertigt, in Büchern auch, ja, paradoxerweise sogar in den Technikschuppen, in denen die Verschwörungstheoretiker die Filme zusammenmontieren, die dann im Internet zirkulieren, kurzum: in dem gesamten Erinnerungsstakkato, das pünktlich zum Jubiläum einsetzt.

 

„Eine Hymne, die das verherrlicht, was zum Besten gehört im amerikanischen Spirit“, nennt Richard Schickel im Magazin Time den Film Oliver Stones, diese in vieler Hinsicht wunderlichen Geschichte. Verwunderlich, weil Stone, der Linke, das Raubein, die Hassfigur der Rechten, einen patriotischen Film gedreht hat, einen, von dem er immer wieder sagt, er sei „nicht politisch“. Verwunderlich auch, weil die Helden, die beiden Feuerwehrleute Will Jimeno und John McLoughlin, es gar nicht schaffen, heroische Retter eingeschlossener Opfer zu werden – sie stürmen in das Hochhaus, und werden schon verschüttet, bevor sie noch mit dem retten beginnen konnten. Sie werden selbst zu Opfern, die auf ihre Rettung warten.

 

Und die Geschichte, die Stone erzählt, ist die Geschichte ihrer wundersamen Rettung.

 

Aber sie ist, auch wenn sich Stone, der Regisseur von „JFK“ diesmal jeden verschwörungstheoretischen Schlenker versagt, doch auch hoch politisch – weil sie von der Tapferkeit der einfachen Leute erzählt, ihrer Lauterkeit, weil sie die „verpolitisierte“ Geschichte des 11. September „humanisiert“ – so wie schon zuvor Paul Greengrass’ „Flug 93“, bei dem sich die Passagiere mit dem längst legendären Ruf „Let’s Roll“ die Luftpiraten vornahmen – der aber, da sich das Flugzeug in einen Acker bohrte, mit keinem Happy End aufwarten konnte, während Stones’ Rettung der Feuerwehrleute eine Metapher für Amerikas Unzerstörbarkeit ist.

 

Man kann das kitschig nennen; man kann sagen, dass solche vordergründig „menschlichen“ Geschichten auch nicht wahrer sind als die Einpassung des 11. September in die politische Erzählung des „War on Terror“; man kann das meinungsarm nennen, wie alle Versuche, in politischen Konflikten das „allgemein Menschliche“ ins Zentrum zu stellen. All das ist wahr, ändert aber gerade nichts daran, dass beides radikal unterschiedliche Weisen sind, die Geschehnisse zu rationalisieren.

 

Man kann auch sagen: Das Fünf-Jahres-Jubiläum steht im Zeichen der Verteidigung der persönlichen Erfahrung der New Yorker gegen die Usurpation der Geschehnisse. „Downtown New York war in diesem Moment ein Utopia der Trauer“, schreibt John Homans im New Yorker. „Die Stadt schien komplett neu.“ Aber die Bush-Regierung „hat den 11. September einfach gekapert“, von einer Geschichte der Verletzung in eine Geschichte der Vergeltung verwandelt.

 

Die Zeichensprache des Hollywoodkinos ist natürlich besonders gut geeignet, solche kathartischen Storys zu erzählen, die Geschichte zurückzudrehen zum Augenblick des 11. September – in der Sehnsucht, den Moment zu säubern von all dem was darauf folgte: Afghanistankrieg, Guantanamo Bay, Irakkrieg, Abu Ghraib, die Folterbilder. Schließlich ist es ja das, was versucht wird: Noch einmal die Bilder auferstehen zu lassen von Amerika als Opfer statt den Bildern von den Schandtaten Amerikas. Das ist ein Stoff für Filme. Dagegen, schreibt der Literaturkritiker Louis Menand, „ist nicht klar, ob es auch ein Stoff für Romane ist“. Die Welt war für die New Yorker „wieder neu“ am Tag danach. „Sie haben mit ihren Leben Frieden geschlossen“, einfach, weil sie froh waren, überlebt zu haben. „Es ist eher wahrscheinlich, dass der 11. September eine außereheliche Affäre beendet als ermöglicht hätte.“ Soll heißen: Kompliziert war das Leben bis zum 11. September. Mit dem Einbruch der Katastrophe war es gewissermaßen simpler.

 

So richtig gut kommt deshalb keiner der sogenannten 9-11-Romane bei der Kritik weg: Jonathan Safran Foers „Extremely Loud & Incredible Close“ (dt: „Extrem laut und unglaublich nah“) nicht, in der er die Geschichte eines Jungen erzählt, der seinen Vater bei dem Anschlag verloren hat – als phantastisches Märchen; Jay McInerney „The Good Life“ nicht, die Geschichte eines Seitensprunges, der in einer der Suppenküchen für 9/11-Opfer beginnt. So ist es fast signifikant, dass als der „beste Roman über den 11. September“ (Slate) eine Satire gefeiert wird, deren Plot den Pathos vom Kampf der freien Welt gegen das Böse furios unterläuft: Ken Kalfus’ „A Disorder Peculiar to the Country“. Die Geschichte handelt von einem Paar, heillos verstrickt in einem brutalen Rosenkrieg. Der Mann arbeitet im WTC, die Frau ein paar Ecken weiter, war aber am 11. September auf den Flug gebucht, der später in den Pentagon krachen sollte. So waren die zwei die einzigen New Yorker, die sich über die Terroranschläge freuten. Beide glaubten, sie seien den verhassten Partner los. Ihr Pech: Jeder der beiden hatte durch glückliche Fügung überlebt. In der Folge gestaltet sich ihr Verhältnis so ähnlich wie die Beziehung von al-Qaida und Bush-Regierung.

 

Der Grundton bei all dem: Wie fühlt sich normales amerikanisches Leben an, wenn Politik und Weltgeschichte in dieses einbrechen? Wie ordnet 9/11 die Dinge? Keine kleine Frage, denn 9/11 ist, wie ein Kritiker in einer schönen Wendung anmerkte, die „DNS unserer Zeit“. Mit einem solchen Bruch muss man erst umgehen lernen. In gewissem Sinne können sogar noch die abstrusesten Verschwörungstheorien als uramerikanische Reaktion auf das Geschehen entziffert werden.

 

Der neueste Held der Szene ist der 22jährige Dylan Avery aus Oneonta im Bundesstaat New York, der auf einem simplen Laptop-Computer und aus Videomaterial normaler Mainstream-TV-Sender einen schnell geschnittenen Doku-Thriller zusammenpuzzelte, der beweisen soll, dass die Dinge nicht so gelaufen sein können, wie allgemein angenommen. „Loose Change“, heißt der abendfüllende Clip, der im Internet zu einem wahren Renner wurde und allein bei Google von mehr als zehn Millionen Menschen gesehen wurde. Der Film ist der erste Blockbuster des Internet-Zeitalters, hergestellt auf einem Compaq Pesario, zu Produktionskosten von 2000 Dollar, die der Regisseur hereinbrachte, in dem er in einem Starbucks in Silver Springs, Maryland, jobbte.

 

Natürlich ist das alles sehr fragwürdig, woraus die Verschwörungsfans, die sich selbst „9/11-Truth“-Bewegung nennen, ihre Theorien zusammenschrauben: da wird an Hand von Fotos vom Einschlag der Maschine ins Pentagon gefragt, ob denn wirklich ein Flugzeug mit der Flügelspannweite einer Boing 757 in ein solches Loch passe – und wo denn, wenn ja, eigentlich die Teile hingekommen seien? Etwa in das kleine Loch? Da wird geraunt, pyrochemisch sei das gar nicht vorstellbar, dass zwei Wolkenkratzer einstürzen, nur weil Flugzeuge, prallvoll mit Kerosin, hineinrasen – und wenn, dann bleibe der Einsturz des WTC-7-Gebäudes am Abend des 11. September unerklärlich, schließlich sei in dieses gar kein Flugzeug geflogen. Garniert wird das mit dem legendären Halbsatz aus einem Paper der rechten Neocons aus dem Jahr 2000, in dem es heißt, es werde sich nur langsam etwas ändern, „es sei denn, es geschieht eine katastrophales, katalytisches Ereignis – etwa ein neues Pearl Harbor“. Zeigt das nicht, dass die Bush-Leute schon länger von einer solchen Katastrophe träumten? Wäre es ihnen nicht zuzutrauen, dass sie sie selbst eingefädelt haben? Schnelle Schnitte, sehr viel Spin.

 

Klar, das ist schwer hanebüchen, besonders, weil Wahrheit mit fragwürdigen Expertisen, gute Fragen mit blöden Unterstellungen zusammengerührt werden. Natürlich haben die Bush-Leute 9/11 benutzt – absurd anzunehmen, dass sie deshalb die Anschläge gleich selbst organisiert haben.

 

Und doch sind Avery und seinesgleichen vielleicht viel näher am amerikanischen Mainstream als sie glauben. Der Jungstar selbst gibt sich in einer großen, glänzenden Story, die ihm das elegante Magazin Vanity Fair widmete (ja, auch das ist möglich in Amerika!) als aufrichtiger, bodenständiger US-Patriot, der die ganze Wahrheit einfordert, so von der Art Michael Moore. „Du musst skeptisch sein“, ist seine Botschaft. „Du kannst nichts glauben, nur weil Dir jemand sagt, dass Du es glauben sollst. Besonders wenn das die Regierung und die Medien sind – die beiden Institutionen, die dazu da sind, Dich zu kontrollieren.“

 

Amerikanisierung statt Politisierung, so könnte man zusammenfassen, was rund um den Jahrestag des 11. September in der US-Öffentlichkeit vor sich geht. Das verbindet die unterschiedlichsten Geschichtenerzähler, Hollywood-Celebrities wie Stone und Untergrundstars wie Avery: dass sie das epochale Ereignis selbst retten wollen gegen eine Politik, die es zu kleiner Münze macht. Das ist, natürlich, gänzlich aussichtslos. Denn wenn es ein historisches Ereignis ist – und es ist jetzt schon das historische Ereignis unserer Generation -, dann ist es auch Legitimationsquelle von Politik.

 

Aber mit der Humanisierung und die Einpassung in die Geschichten, die sich die Amerikaner seit jeher erzählen, in die Geschichten vom Mut und der Sturheit freiheitsliebender Leute, verwandelt sich das historische Geschehen selbst in eine mythologische Mustererzählung. So hat Korey Rowe, Averys Co-Produzent, mehr recht, als er vielleicht glaubt, wenn er über den 11. September sagt: „Das ist für unsere Generation, was für eine frühere der Kennedy-Mord war.“

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