Skeptizismus-Motor

 

Europäische Union. Kaum wo ist die Europäische Union so unpopulär wie in Österreich, nirgendwo die Aversion gegen die Osterweiterung ähnlich stark. Dabei profitiert gerade Österreich von der Erweiterung. Woher kommen die Ressentiments?

 

„Im Grunde“, lacht Wolfgang Petritsch, gegenwärtig Österreichs Botschafter bei den Vereinten Nationen in Genf, „ist das ein Komplex, der ins Freud-Jahr gehört“. Was er damit sagen will: Alle simplen Erklärungen greifen letztlich zu kurz, will man ergründen, warum eigentlich die Österreicher so besonders EU-skeptisch sind. Natürlich kann man es sich leicht machen, und die üblichen Hinweise geben, etwa, dass die Medienlandschaft in Österreich speziell verrottet und die politische Klasse extra-provinziell ist. Aber erstens ist dies mehr  Teil dieses Komplexes als dessen Ursache und zweitens wäre das doch eine gar einfache Erklärung für eine derart schroffe Aversion und Abwehrhaltung, die im Rest von Europa kaum jemand mehr verstehen kann.

 

Gerade haben es wieder eine Reihe von Umfragen gezeigt. 70 Prozent der Österreicher, so eine Erhebung des Linzer Market-Instituts, meinen, der EU-Beitritt habe ihnen keinen Vorteil gebracht. 77 Prozent haben kaum Vertrauen in die EU-Insitutionen. Nun kann man über die Methodik der Demoskopen debattieren, aber eines ist kaum zu bestreiten: es sind nicht viel mehr als 30 Prozent der Österreicher, die die EU für „eine gute Sache“ halten. Etwa genauso viele sind der festen und unverrückbaren Meinung, die EU bringe nur Nachteile. Ein Drittel liegt mehr oder minder unentschieden in der Mitte und tendiert mal in die eine, mal eher in die andere Richtung. „Die Mehrheit ist ganz sicher nicht gegen die Europäische Union“, relativiert darum Gerd Feistritzer vom IFES-Meinungsforschungsinstitut allzu aufgeregte Schlagzeilen – wirklich ablehnend zur EU stehe nur ein starkes Drittel.

 

Wie auch immer, eines läßt sich nicht relativieren: Kaum irgendwo in Westeuropa ist die EU-Ablehnung so stark, und nirgendwo ist die negative Haltung zur EU-Erweiterung so ausgeprägt wie hierzulande. Gerade 29 Prozent der Österreicher können sich für eine zusätzliche Erweiterungsrunde – der Beitritt Bulgariens und Rumäniens etwa ist abgemacht – erwärmen.

 

Gewiss, man kennt die Argumente, man muss nur die „Kronen“-Zeitung aufschlagen: es käme Kriminalität ins Land und die billigen Ostler würden sich die Arbeitsplätze schnappen. Man hat sich hierzulande daran gewöhnt.

 

Im Rest Europas verliert man mit der hiesigen Europajammerei aber langsam die Geduld. Denn für die Osterweiterung zahlen alle EU-Staaten, doch keiner hat von ihr so profitiert wie Österreich – und dennoch führt Österreich die Rangliste der Erweiterungsgegner an. Österreich hat, im Gegensatz zu Deutschland, keine eigene Ostzone zu alimentieren; österreichische Unternehmen machen im Osten gute Geschäfte; Österreichs Wirtschaftswachstum ist nicht zuletzt deshalb – verglichen mit anderen EU-Staaten – relativ komfortabel. Nicht, dass die österreichischen Beschäftigten automatisch vom Geschäftsgang ihrer Firmen profitieren würden – aber alles in allem macht die Osterweiterung ihre Jobs eher sicherer als unsicherer.

 

Denn wenn internationale Unternehmen, wie etwa Henkel, ihre hiesigen regionalen Niederlassungen zu Sub-Headquaters aufwerten, wenn 300 Konzerne von Wien aus ihr Osteuropageschäft steuern, dann wird das wohl – vorsichtig ausgedrückt – nicht unbedingt zum Nachteil der österreichischen Beschäftigten sein.

 

Aber mit Realität und Rationalität haben Ressentiments ohnehin meist nicht sehr viel zu tun.

 

„Österreich hat hundert Jahre eine Sonderrolle gespielt“, versucht Johannes Voggenhuber, der Grüne EU-Parlamentarier, eine Erklärung: Erst Monarchie, dann Zwischenkriegszeit, dann Nationalsozialismus, dann Kalter Krieg und Neutralitätsstatus. „Der Linie lief von der Größe zur Kleinheit, und die emotionale Tendenz hieß Selbstverniedlichung“, so Voggenhuber. Im kollektiven Bewußtsein wurde das affektiv einerseits – negativ – als stetige „Bedrohung der Identität“ empfunden, oder andererseits – positiv – zur „Insel der Seligen“ behübscht.

 

„Der Beitritt zur EU hat diese Sonderrolle abrupt beendet“, formuliert Voggenhuber, „man war plötzlich entblößt“.

 

Nicht unbedeutend ist womöglich eine weitere nationalkulturelle Besonderheit: ein geradezu fanatischer Anti-Zentralismus der Provinz, der sich in früheren Zeiten gegen den Wasserkopf Wien richtete. „Das Ressentiment gegen Wien ist verschwunden“, sagt IFES-Forscher Feistritzer, „und hat sich auf Brüssel verschoben.“

 

Die spezielle Eigenart der österreichischen politischen Kultur, die große Welt jenseits der eigenen Kleinheit als Bedrohung zu empfinden, hat aber in der neuen Konstellation überdauert – und ist jederzeit abrufbar. So wurden auch die diplomatische Quarantäne, die im Jahr 2000 die EU-14 über die schwarz-blaue Bundesregierung verhängten, als Affront „gegen Österreich“ und damit als narzistische Kränkung empfunden. Die Folgen dieses Liebensentzugs sind wohl heute noch wirksam. Peter Ulram vom Umfrage-Institut Fessel GfK hat, obzwar in dieser Frage selbst gewiss nicht unparteilich, sicher nicht ganz unrecht, wenn er meint, die Folgen dieser Quarantäne dürften die Österreicher erst in zehn Jahren vollends verdaut haben.

 

Zumal die Regierung, gegen die sie sich einst richtete, auch heute noch amtiert und bei allem proeuropäischen Minenspiel „Europa“ weiter als Gegner sieht, dies auch in ihrer politischen Kommunikation spüren läßt und Konflikte eher hochkocht als zu lösen versucht – von Benesdekreten über Temelin, Transitstreit bis zur Debatte über den Hochschulzugang ausländischer Studenten. Ihr zur Seite steht eine sozialdemokratische Opposition, die ihr Heil darin sucht, sie in EU-Bashing zu überholen und ein Boulevard, der gerade das mit freundlicher Berichterstattung belohnt. Das Resultat, heißt es in einer Studie der „Arbeitsgemeinschaft für Informations- und Medienforschung“ unter Leitung von Ex-Industrie-General Herbert Krejci aus dem Jahr 2004, ist ein „Circulus vitiosus“, der sich selbst verstärkt, ein regelrechter „Skeptizismus-Motor“, der die Frage längst schon sinnlos erscheinen läßt, was denn primär sei – die Affekte der Mehrheit oder die Bedienung derselben durch Regierung, Opposition und Boulevard.

 

Kurzum: Die Kultur der Regierten ist nicht einfach Resultat der Kultur der Regierenden oder umgekehrt, und der Boulevard formt nicht nur Meinungen, er wird auch von ihnen geformt. Das Ergebnis ist, was man „nationale Identität“ nennt. So gesehen ist das, was manche fürchten eher etwas, was zu erhoffen wäre: Ach, würd’ die EU doch wirklich die „Identität“ ihrer Mitgliedsgesellschaften bedrohen.

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