Werden wir immer dümmer, Herr Liessmann?

Dieser Tage erschien Konrad Paul Liessmanns Buch "Theorie der Unbildung", ein feuriges Pamphlet gegen die jüngsten Universitätreformen, die Ranking-Kultur in der Bildungsdebatte und einen blinden "Reformgeist". Für den "Falter" habe ich mich mit Liessmann über seine Thesen unterhalten.

 

 

Immanuel Kant hätte heute keine Chance mehr im Universitätsbetrieb?

 

Liessmann: Wahrscheinlich. Und dies aus mehreren Gründen. Kant hat Königsberg bekanntlich nie verlassen – er ist das Paradebeispiel des Wissenschaftlers, der die Mobilität verweigert. Was übrigens nicht heißt, dass er nicht “vernetzt“ war – er hatte rege Briefkontakte. Er wollte aber unbedingt in Königsberg eine Professur und hat lange auf diese gewartet. Kaum hatte er sie, hat er zehn Jahre lang keine Zeile publiziert. In diesen zehn Jahren hat er allerdings nachgedacht. In seinem Kopf wuchs die „Kritik der reinen Vernunft“. Welchem Wissenschaftler würde man heute eine solche Zeitspanne gönnen, sein Hauptwerk vorzubereiten?

 

Auf heutige Verhältnisse umgelegt: Er hätte vielleicht eine Assistentenstelle bekommen, in Deutschland möglicherweise eine Juniorprofessur und wäre dann wegen chronischer Inaktivität rausgeworfen worden?

 

Liessmann: Zumindest hätte er Auflagen bekommen: Er hätte mehr publizieren, vielleicht ein Forschungsprojekt einreichen müssen, wahrscheinlich wäre er einem „innovativen“, sprich: zeitgeistigen Forschungsschwerpunkt zugeordnet worden. Er wäre gezwungen worden, den Druck auf sich selbst zu erhöhen. Außerdem hätte er natürlich einen Teil seiner Zeit der Aufgabe widmen müssen, Drittmittel einzuwerben. Denn ein guter Wissenschaftler ist heute, wer imstande ist, Geld aufzutreiben.

 

Jahrhundertfiguren wie Kant würden sich vielleicht auch heute durchsetzen. Was ist denn so schlimm daran, wenn man Wissenschaftler ein bisschen unter Druck setzt?

 

Liessmann: Ich habe gar nichts gegen Leistungsanreize und damit verbundenem sinnvollen Druck. Nur, was wir heute haben, ist eine absurder werdende Konkurrenzspirale: Wer wirbt mehr Drittmittel ein? Wer publiziert mehr? Wer hat mehr Forschungsprojekte laufen? Wer ist öfter im Ausland? Solches verkennt das Geschäft, um das es hier geht: Wissenschaft braucht Zeit. Und zweitens, gerade wenn man für Leistungsanreize ist, müsste das doch ein Anreiz zu wissenschaftlichen Leistungen sein – die Reform- und Evaluierungskultur erhöht den Druck aber gerade nicht in diese Richtung. So bekommt man keine Wissenschaftler, eher Finanzgenies und Mobilitätsweltmeister.

 

Kategorien der Ökonomie, der Jargon der Managementdiskurse fallen in die Wissenschaft ein?

 

Liessmann: Natürlich sind Forschungs- und Bildungseinrichtungen auch Institutionen, die gut und effizient verwaltet werden müssen – keine Frage. Aber wenn Wissenschaftler primär mit Management beschäftigt sind, läuft etwas schief. Das Wichtigste ist aber: Wissenschaft ist ein offener Prozess, der davon lebt, dass man Thesen durchdenkt und der Kritik aussetzt. Doch heute gehen wir immer mehr von diesem inhaltlichen Diskurs weg, hin zu formalisierten Bewertungskriterien.

 

Werden die Universitäten dadurch kaputt gemacht?

 

Liessmann: Universitäten wird es noch geben, da wird der Evaluierungswahn schon Geschichte sein. Aber sie werden gelähmt.

 

Aber der Reformdiskurs verengt sie doch sehr auf das, was bewertbar und verwertbar ist?

 

Liessmann: Es gibt ja mittlerweile nicht nur Evaluierung, sondern selbst eine Evaluationsforschung. Die zeigt: Evaluierung beobachtet nicht nur, sondern sie gibt selbst Normen vor. Sie produziert gewissermaßen das, was sie später bewerten soll. Evaluationsverfahren haben immer steuernden Charakter. Wenn dann noch ökonomische Interessen dazu kommen, dann wird deutlich, dass von der Autonomie der Universität nicht viel übrig bleibt.

 

Aber war nicht Rationalisierung ein Projekt der Moderne seit der Aufklärung? Ist das Ranking die Rache der Geschichte an der aufgeklärten Vernunft?

 

Liessmann: In der Wissenschaft selbst gibt es eine starke Tendenz zur Quantifizierung, das stimmt: „Messen, was messbar ist, und was nicht messbar ist, messbar machen“, dieser berühmte Satz von Galilei markiert auch die Geburtsstunde der modernen Wissenschaft. Das wirkt jetzt zurück. Aber es haben sich seither unterschiedliche Wissenschaftskulturen herausgebildet. Heute ist das Problem, dass Standards, die sich in den Naturwissenschaften entwickelt haben,  auf alle Wissenschaften übertragen werden.

 

All das geschieht vor der Folie der Rede von der Wissensgesellschaft, in der, wie sie schreiben „alles gleich Gültig“ ist. Was ist die Wissensgesellschaft?

 

Liessmann: Ja, das wollte ich auch wissen. Ich habe ja schon in vielen Gesellschaften gelebt – im Spätkapitalismus, im Atomzeitalter, in der postindustriellen Gesellschaft, dann in der Informationsgesellschaft, jetzt lebe ich in der Wissensgesellschaft. Aber sind die Tätigkeiten, die die Arbeit in der Fabrik ablösen, tatsächlich wissensbasierte Tätigkeiten? Wenn man meint, dass man ein bestimmtes Wissen braucht, um diese Technologien zu beherrschen, dann war jede bisherige Gesellschaft eine Wissensgesellschaft. Und das Fräulein vom Amt in der Zeit der frühen Fernmeldetechnik war ganz zweifelsfrei eine Wissensarbeiterin. Und vor allem: die rezente Wissensgesellschaft hat offensichtlich nicht mehr mit Erkenntnis und Weisheit zu tun als andere Gesellschaften vor ihr. Ich zweifle daran, daß die Wissensgesellschaft die Industriegesellschaft ablöst, eher scheint mir das Wissen industrialisiert zu werden.

 

Eines der paradigmatischen Phänomene ist für sie die Wissensshow. Der Geist dieser Shows ist doch immerhin: „Du sollst viel wissen!“ Ist doch gar nicht so schlecht, oder?

 

Liessmann: Nein, überhaupt nicht! Ich sage in meiner „Theorie der Unbildung“ ja nicht, dass wir dümmer werden. Im Gegenteil: Das Wissen, über das wir verfügen können, das wir teilweise auch in uns haben, ist immens. Es ist nur zusammenhanglos, wir schwimmen gewissermaßen im endlosen Datenozean. Was uns abhanden kommt ist das, was man etwas nostalgisch eine Idee von Bildung nennt, die eine normativ steuernde Funktion für die Organisation dieses Wissens haben könnte. Gleichzeitig haben wir das dumpfe Gefühl, dass das Verstehen eines physikalischen Gesetzes oder die Kenntnis der Weltliteratur doch einen anderen Status hat als das Wissen über die jüngste Liaison eines x-beliebigen Popstars – obwohl das in den Wissensshows und in vielen Medien gleichrangig behandelt wird. In dem Moment, wo die synthetisierende und organisierende Kraft solch einer Bildungsidee abnimmt, werden wir unseren eigenen Wissensmöglichkeiten gegenüber ohnmächtig. Gerade angesichts der Unendlichkeit des Wissens, das uns im Prinzip zur Verfügung stünde, fühlen wir uns ja auch extrem unwissend.

 

Sind Sie ein Nostalgiker, der der guten alten Zeit nachtrauert, in der alles besser war?

 

Liessmann: Bin ich gar nicht! Ich beobachte eine Transformation, über die ich mir vor der Folie der Vergangenheit klarer werden will. Es schadet deshalb sicher nicht, die Idee der humanistischen Bildung, wie wir sie seit Humboldt kennen, dem gegenwärtigen Geist entgegenzuhalten. Wir haben jede Bildungsidee ersetzt durch Wettbewerb – gut ist das Wissen, das uns nützt, um in der Konkurrenz mit anderen zu bestehen. Das ist meines Erachtens doch etwas eng. Dabei schätze ich den Stimulus des Wettbewerbs sehr. Aber Entscheidendes geht dabei verloren: die ursprüngliche Neugier und die Lust an der Erkenntnis.

 

Das Buch: Konrad Paul Liessmann: Theorie der Unbildung. Wien, Zsolnay-Verlag, 2006, 175 Seiten. 18,40.- €

 

Konrad Paul Liessmann, geboren 1953, ist Professor für Philosophie an der Universität Wien.

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