Wozu Gewerkschaften?

Ist der Bawagskandal nur ein Kriminalfall? Nein. Sind die Gewerkschaften in einer Krise? Klar. Sind sie unnütz? Ganz sicher nicht. April, 2006

 

Es gibt einen antigewerkschaftlichen Affekt. Gewiss, es mag allen Grund zur Kritik am Vorgehen der Gewerkschaftsspitzen in der BAWAG-Causa geben – an der Untätigkeit des Aufsichtsrats, die womöglich vom Glauben genährt war, im Kapitalismus müsse man sich eben so, sprich: hochspekulativ verhalten; an der einsamen Entscheidung des zurückgetretenen Präsidenten, zur Rettung der Bank faktisch das gesamte Gewerkschaftsvermögen zu verpfänden (Frage am Rande: Wie genau hätte die Alternative dazu ausgesehen?). Aber es mischt sich in die Kritik ein unüberhörbarer Zungenschlag: ‚Aufsteiger sind eben so; Parvenues können es eben nicht, die haben keinen Stil und auch nicht das Herrschaftswissen, das man braucht, um in der Wirtschaftswelt zu bestehen; das lernt man an keiner HAK und HTL und schon gar nicht in einer Gewerkschaftsschulung. Schuster bleib bei deinen Leisten, Klempner bleib bei deinen Rohren.’ Kurzum: die Kritik ist voller Dünkelhaftigkeit.

 

Aber es ist eine Dünkelhaftigkeit der modernen Art. Selbstverständlich gibt es auch noch die altbekannten Ausprägungen der Schnöseligkeit der eingesessenen Eliten, die mit den goldenen Löffeln im Mund geboren wurden und die es im Grunde bis heute als eine empörende Anmaßung ansehen, dass es Installateurs- und Kaufmannsgesellen über den zweiten Bildungsweg, zielgerichteten Fleiß und die Ochsentour im Apparat bis nach Oben schaffen. Über die Angehörigen dieser „Eliten“, die schon genagelte Schuhe im Schrank haben, bevor sie noch gehen können, könnte man viele Worte verlieren – man kann es sich aber auch sparen und sie jener Nichtachtung anheim stellen, die ihnen zukommt.

 

Denn interessanter ist womöglich die neuere Art von Dünkel: der Dünkel des modernen Aufsteigers. Der Mittelschichtsspross, dem im Zuge der Sozialreformen und der Bildungsexplosion der Aufstieg in die oberen Ränge der Wissensgesellschaft geglückt ist; der das Gewußt-Wie der postmodernen globalen Kultur verinnerlicht hat; individualistisch, pflegt er eine ironische Distanz in jede Richtung, er ist offen für alles und hält sich überall raus.

 

Ihm gilt die Welt der Gewerkschafter für hoffnungslos von gestern. Ihre Stilunsicherheit erinnert ihn daran, wie mühsam er sich seine Stilsicherheit antrainiert hat – und wie brüchig diese Sicherheit ist. Ihre rührende Treue zu den überholten Sitten und Riten eines Herkunftsmilieus verweist ihn darauf, dass er in dieses nicht mehr, in das Oberklassenmilieu, das er anstrebt, aber noch nicht gehört. Und wenn sich diese Prolls anschicken, ihrerseits die Beschränkungen ihres Herkunftsmilieus zu überschreiten (etwa, indem sie sich als Banker aufspielen oder ins mittlere Management wechseln), dann sind sie in aller Regel erst recht ein Beweis dafür, dass man im Innersten bleibt, was man ist, mag man sich auch äußerlich über sein Herkommen erheben – ein Sachverhalt, der freilich auch für ihn bedrohlicher ist, als er sich vielleicht eingesteht. Kurzum: der grassierende Dünkel gegenüber den Gewerkschaften ist der Dünkel moderner Aufsteigermilieus gegenüber dem traditionellen Aufsteigermilieu. Sein Betriebsgeheimnis ist das, was Freud den „Narzissmus der kleinen Differenz“ nannte.

 

Der moderne Aufsteiger personifiziert die Illusion der Aufhebung der Klassengesellschaft. Der Gewerkschafter stört diese Illusion – sogar dann noch, wenn er im Penthouse wohnt. Der moderne Aufsteiger ist die paradigmatische Figur unseres Zeitalters, er verkörpert die Phantasie, dass man es nur auf sich allein gestellt schafft, mit Flexibilität, indem man alle Bindungen hinter sich lässt und die Ellbogen einsetzt. Der Typus des gewerkschaftlichen Aufstiegs dagegen repräsentiert die Idee, dass man es nur gemeinsam schafft, indem man sich zusammentut.

 

Der moderne Aufsteiger muss vergessen, auch wenn er sich nur zu gut erinnert: woher er kommt, wo er vorgestern war, wo er gestern noch stand. Der Gewerkschafter muss sich erinnern, selbst dann, wenn er gerne vergessen würde: er ist das, was er wurde, durch das Milieu, aus dem er kommt („alles was ich bin, bin ich durch die Organisation“, ist ein beliebter Satz von Spitzenleuten von Parteien und Gewerkschaften).

 

Der Gewerkschafter ist so gesehen die stetige narzistische Kränkung des postmodernen Subjektes. Er ist, bei allem, was Apparaten an Unmodernität und Schwerfälligkeit eigen ist, doch ein Exempel für eine andere Art von Sozialität – jenseits der Konkurrenzkultur und des „There-is-no-such-think-as-society“-Individualismus. Und er ist, gerade in seiner Unmodernität, auch Repräsentant eines anderen Zeitmaßes. Es ist dies eine Physiognomie, die der zeitgenössische Gewerkschafter übrigens keineswegs an sich liebt. Er ist selbst Kind seiner Zeit. Er träumt von der Möglichkeit, Gewerkschafter und trotzdem hip zu sein.

 

Was man gemeinhin die „Krise der Gewerkschaften“ nennt, hat darin seine Begründung. Die Raison d’Etre allen gewerkschaftlichen Handelns – und deren spektakulärer Erfolg – in der Vergangenheit war die Schaffung dessen, was der französische Sozialforscher Robert Castel eine „Gesellschaft der Ähnlichen“ nennt. Die Pointe der neoliberalen Subjektivierung ist nunmehr, dass keiner so sein will wie der andere. Jeder will ein unverwechselbares, einzigartiges Subjekt sein. Die Paradoxie liegt darin, dass gerade der Erfolg der gewerkschaftlichen Aktivitäten diesen Individualismus ermöglichte. Der Sozialstaat und die Regulierung der Arbeitsmarktverhältnisse haben „als ein mächtiger Individualisierungsfaktor gewirkt“, weil sie den Individuen jene Sicherheiten garantierten, die diese als Ressourcen zur Selbstverwirklichung benötigen. Nur zieht die Individualisierung neue Verwundbarkeiten nach sich.

 

Es gab einen historischen Moment, an dem man sagen konnte: Je erfolgreicher Gewerkschaften, umso unnötiger werden sie. Der Punkt ist freilich längst überschritten und jetzt muss man sagen: Je unnötiger sie sind, umso dringender werden sie gebraucht.

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