Schauspiel Frankfurt: Vom Nutzen der Utopie

Am Sonntag, 22. Oktober, sprach ich in der Reihe "Frankfurter Dialoge" über den "Nutzen der Utopie oder die Lesbarkeit der Welt". Die Reihe ist von Wolfgang Engler kuratiert.  Zum Nachlesen gibt es hier die Rede.

 

Vor einigen Wochen brachte der Liederschreiber, Sänger, Theatermacher und Buchautor Peter Licht eine Schallplatte mit dem aufreizend unzeitgemäßen Titel heraus: „Lieder vom Ende des Kapitalismus“.

 

Im titelgebenden Stück heißt es:

 

„Hast du schon hast du schon gehört / das ist das Ende /

das Ende vom Kapitalismus – / jetzt isser endlich vorbei. /

Vorbei / vorbei / vorbei / vorbei / vorbei vor-horbei /

vorbei / vorbei / vor vorbei vorbei /

Jetzt isser endlich vorbei.“

 

In einem erklärenden Interview führte der Sänger aus, ihm wäre es dabei um die Behauptung gegangen, „es könnte sich auch alles anders ändern“. Und im Nachsetzen: „Es könnte doch sein, dass es den Kapitalismus ab morgen nicht mehr gibt.“

 

Das ist natürlich eine Behauptung im Stil der „paradoxen Intervention“, die eine Wahrnehmung nahe legt, die völlig gegenläufig zu den gewohnten Wahrnehmungsformen ist. Der Satz „es könnte doch sein, dass es den Kapitalismus ab morgen nicht mehr gibt“, funktioniert nur angesichts eines anderen, unausgesprochenen Satzes, der ihm wie eine Art Subtext zugrunde liegt. Lichts Vers spielt gewissermaßen mit der allgemein geteilten Auffassung, dass es keineswegs sein könne, „dass es den Kapitalismus ab morgen nicht mehr gibt“. Er ist deswegen auch nur vordergründig eine Widerrede gegen diesen Satz, gleichzeitig ist er seine Bestätigung in Form einer Verneinung. Er lebt vom Thrill des Absurden. Würde eine nennenswerte Zahl an Zuhörern ihm zustimmen, wäre der Satz ziemlich nichts sagend. So verweist er auf den eklatanten Mangel an politischer und sozialer Phantasie, doch er verweist auf dieses Problem in einer Weise, die es sofort auch wieder verdoppelt. Denn natürlich wird die Option, dass alles auch anders sein oder „sich auch alles anders ändern“ könne, nicht als etwas Reales behandelt, sondern als esoterisches Phantasma: dass alles anders ist, kann man sich eben „nur“ vorstellen, so wie man sich alles mögliche vorstellen kann, etwa, dass die Schwerkraft morgen nicht mehr gilt oder die Erde um die Sonne kreist.

 

Ist es das, was von der Utopie nach dem Utopieverlust geblieben ist – dass man sich alles doch irgendwie ausmalen kann, jenseits von Realisierbarkeiten und Probabilitäten? Nur noch als die irre Hoffnung, dass das bisher Existierende über Nacht zu existieren aufhört, aus irgendwelchen undurchschaubaren Motiven?

 

Ich möchte hier überlegen, was genau verloren gegangen ist, wenn wir von „Utopieverlust“ sprechen. Ich möchte, schließlich sind wir hier in einem Theater, diese Überlegungen entlang der Zusammenarbeit von Bertolt Brecht und Walter Benjamin anstellen, also der Zusammenarbeit von zwei, wenngleich recht eigenartigen, Marxisten. Das ist nicht nur deshalb nahe liegend, weil wir in einem Brecht-Jahr sind, sondern weil entlang der gemeinsamen Projekte von Brecht und Benjamin einiges über den Zusammenhang von Utopie, Krise und Kritik entschlüsselt werden kann. Und weil ja gerade innerhalb des Weichbildes des Marxismus die Utopisik eigentlich keinen Platz haben sollte: Ja, sie ist im Kreise der Marxisten geradezu verpönt. So lassen Sie mich grundsätzlich beginnen.

 

Die großen Utopien gelten nicht zu Unrecht als „Träume von einem Himmel, der niemals auf der Erde existieren“ kann – wie das Immanuel Wallerstein nannte -, sie haben etwas von realitätsfremden Kopfgeburten und sie sind meist noch dazu von der Art aseptischer Phantasien, mögen wir etwa an Thomas Morus’ „Utopia“ aus dem 16. oder an Ernest Callenbachs „Ökotopia“ aus dem 20. Jahrhundert denken. Sie malen sich eine vernünftige, widerspruchsfreie, etwas zu sehr aufgeräumte Welt aus und ihren Betriebsmodus könnte man als pausbäckigen Vernunftglaube bezeichnen: Man muss sich eine gute Ordnung nur im Kopfe entwerfen, dann brächte man die Menschen, diese vernunftbegabten Wesen, schon dazu, eine solche Welt zu schaffen. Ja, die Utopistik musste sich sagen lassen, sie behindere sogar die Veränderung der Welt. Weil die reale und die utopische Welt so weit voneinander entfernt seien, erscheint erstere gerade eben nicht als veränderbar. Die Utopistik stand im Ruf, eine Ersatzhandlung zu sein: Die Energie, die man in die utopische Phantasie investierte, brauchte man dann nicht in die konkrete Veränderung investieren. 

 

Der Vorwurf, kurzum, den sich der Utopismus seit jeher ausgesetzt sieht, ist der der Wirklichkeitsvergessenheit. Und der Utopismus gleicht diese Wirklichkeitsvergessenheit in aller Regel nicht einmal durch ein besonderes Maß an sozialer, politischer oder sozialpsychologischer Phantasie aus. Wir können das noch am späteren, literarischen Nachfahren des utopischen Schrifttums, der Science Fiction, unschwer ausmachen. Deren phantastisches Personal, komme es auch aus einer anderen Weltzeit und aus fernsten Galaxien, tickt doch meist ganz ähnlich wie unsereins. E.T. unterscheidet sich in seiner Psychostruktur kaum von, sagen wir, Angela Merkel, allenfalls hat er eine etwas extravagante Statur und eine unnatürlich metallische Stimme.

 

Schon der junge Marx, der weder von E.T. noch von Angela Merkel etwas wusste, hat dem Utopismus entgegengehalten, dass es auf’s Wünschen, Träumen und Phantasieren nicht ankommt. Marx wollte in den Bedingungen seiner Gegenwart die Bewegungen ausmachen, die zu einer anderen Gesellschaft führen. „Die Befreiung ist eine geschichtliche Tat, keine Gedankentat“, formuliert Marx in der „Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ und wenig später, in einer berühmten Passage seiner „Deutschen Ideologie“, proklamiert er, der Kommunismus sei kein „Ideal, wonach die Wirklichkeit sich zu richten haben wird“.

 

Der Schlüsselsatz dieser Passage lautet: „Wir nennen den Kommunismus die wirkliche Bewegung, welche den jetzigen Zustand aufhebt. Die Bedingungen dieser Bewegung ergeben sich aus der jetzt bestehenden Voraussetzung“. Marx hat nicht zuletzt darum immer vermieden, sich die kommunistische Gesellschaft auszumalen. Der Marxismus ist also eine eminent anti-utopische Theorie, ja, man könnte sagen, er ist eine Theorie, weil er anti-utopisch ist.

 

Dies ist aber nur eine Seite der Chose. Gleichzeitig gibt es utopische Elemente in dieser Anti-Utopie, sodass wir die marxistische Theorie wohl am korrektesten als „anti-utopische Utopie“ bezeichnen. Man könnte sagen: In sie sind Motive des Utopischen eingeschrieben, von denen sie selbst nichts weiss – oder, sofern sie etwas von ihnen ahnt, nichts wissen will. Ich verrate Ihnen gewiss keine Neuigkeit, wenn ich daran erinnere, dass Marx sein Modell historischer Formationen in die Zukunft verlängerte. Wie auf die Sklavenhaltergesellschaft der Feudalismus und auf den Feudalismus der Kapitalismus so würde auf den Kapitalismus der Sozialismus folgen, war Marx gewiss. Zumindest der Untergang der kapitalistischen Klassengesellschaft würde, so Marx, „notwendigerweise“ geschehen. Zwar entwickelte Marx nie ein lupenrein deterministisches Konzept, beispielsweise räumte er ein, der Klassenkampf könne mit dem Sieg einer Klasse aber auch mit dem Untergang beider Klassen enden – bei Rosa Luxemburg hieß das später in einer berühmten Wendung „Sozialismus oder Barbarei“ -, doch im Grunde ist der klassische orthodoxe Marxismus durchdrungen gewesen von Zukunftsoptimismus, sodass ihn nicht wenige auch als linke Spielart des bürgerlichen Fortschrittsglaubens kritisierten. Adorno benützte dafür die böse Vokabel „Mimikri“. Die sozialistischen Bewegungen, die sich auf den Marxismus beriefen und bezogen, waren von der Sicherheit getragen, auf die schlechte Gegenwart werde eine bessere Zukunft folgen. Kurzum: Auch wenn man debattieren kann, ob eine Geschichtsteleologie eine Utopie ist, so ist zumindest eine utopietypische, auf die Zukunft ausgerichtete Zielstrebigkeit leicht auszumachen.

 

Dies hatte natürlich Folgen für die beiden Konzepte, denen ich mich im Folgenden widmen will: Auf das Konzept der Krise. Und auf das Konzept der Kritik. Denn die Begriffe „Krise“ und „Kritik“ sind, im Sinne Brechts und Benjamins gebraucht, eingefärbt von dem Optimismus, wie er der klassischen Linken eigen war. Wenn ich der festen Überzeugung bin, dass das Alte schlecht ist und auf dieses zumindest potentiell etwas Besseres folgt, dann hat die Krise einen anderen Status als wenn ich nur das erlebe, was wir in unserem umgangssprachlichen Gebrauch heutzutage eine „Krise“ nennen.

 

Im ersten Fall ist sie der „Krisis“ des Kranken verwandt, markiert sie eine notwendige Verschärfung der Malaise, auf die, sofern der Sieche sie überlebt, die Genesung folgt. Diese Art von Krise ist ein Versprechen, eben, weil sie die Kumulation aller einzelnen Krisen ist. Als Symptom der Verschärfung ist sie nichts, was den Raum politischer Phantasie einengt, sondern etwas, was diesen im Gegenteil gerade eröffnet. Sie ist ein gefährliche Zeit, aber auch der Moment systemischer Weichenstellungen, ein „Verwandlungs-Zeitraum“ (Wallerstein). Nur wenn man „Krise“ in diesem Sinn versteht, kann man, wie in einer Notiz aus der Vorbereitungsphase von „Krise und Kritik“ – eine Zeitschrift, die Brecht und Benjamin herauszugeben gedachten – formulieren, Aufgabe der Zeitschrift sei es, die „Krise festzustellen oder herbeizuführen, und zwar mit den Mitteln der Kritik“. Man muss zumindest auf den Boden einer „anti-utopischen Utopie“ stehen, um, wie Brecht, als Titel der ersten Nummer vorzuschlagen: „Die Begrüßung der Krise“.

 

Lassen Sie mich ein erstes Zwischenresumee ziehen. Der Begriff der Krise bedeutet also etwas Spezifisches, wenn ich den historischen Prozess als grundsätzlich offen sehe, wenn ich mir, wie rudimentär auch immer, vom alten Fortschrittsbegriff zumindest zweierlei bewahrt habe: habituellen Optimismus und die Zuversicht, das Neue werde besser, fortschrittlicher, zumindest interessanter als das Alte sein. Und er bedeutet etwas gänzlich anderes, wenn mir diese Zuversicht abhanden gekommen ist. In diesem Fall beschreibt Krise nicht erstrebenswertes, sondern einen Verlust, nichts als eine Bedrohung. Der Begriff der „Krise“, wie er in der klassischen Linken gebraucht war, war also auf eigentümliche Weise mit „Utopie“ – zumindest in diesem schwachen Sinn – verbunden, sodass der polnische Philosoph Leszek Kolakowski mit Fug und Recht die schöne Wendung prägen konnte: „Die Linke scheidet Utopien aus wie die Bauchspeicheldrüse Insulin.“

 

Ohne diese Einfärbung mit Utopie kann man wohl nur schwer formulieren, wie Brecht das sinngemäß tat: „Hallo Krise, schön dass Du da bist.“ Ja, ohne Einfärbung mit Utopie kann man streng besehen nicht einmal „Krisenbewußtsein“ entwickeln. Gewiss, gerade heute ist Gesellschaftsanalyse von einem depressiven Sound durchzogen. Nehmen wir nur die Themen, die die Leitartikel, den Buchmarkt, die Feuilletons dominieren. Was lesen wir da täglich: Der Arbeitsgesellschaft geht die Arbeit aus. Die fortschrittlichen Industriegesellschaften des Westens bevölkern Kohorten „überflüssiger Menschen“. Da tickt es, dort tickt es. Da die demographische, dort die ökologische Zeitbombe. Nicht zu vergessen: Afrika. Klimawandel. Der Clash of Civilizations. Das Öl geht aus. In den Sachbuchbestsellerlisten Bücher mit so unzweideutigen Titeln wie „Kollaps“. Kurzum: Es ist fürchterlich.

 

Doch all diese Krisen summieren sich seltsamerweise zu keinem „Krisenbewußtsein“ in einem eminenten Sinn. Dass eine ganze Epoche als Krisenphase erlebt wird, braucht offenbar mehr: das Bewußtsein, dass das „große Ganze“ nicht mehr funktioniert und hoffentlich bald durch etwas Neues, Zeitgemäßes ersetzt wird. Dies dazu.

 

Lassen Sie mich nun zum Begriff der „Kritik“ kommen, für den mutatis mutandis Ähnliches gilt. Kritik und Krise gingen ja seit jeher Hand in Hand wie Laurel und Hardy. Krise und Kritik haben, wie Boris Buden sagt, etwas gemeinsam, zwischen ihnen gibt es eine authentische Beziehung, eine Interaktion. Ein Akt der Kritik impliziert fast notwendig das Bewusstsein der Krise – die Diagnose der Kritik impliziert die Notwendigkeit der Kritik. Aber wir dürfen auch hier wieder nicht das spezifisch moderne Zeitbewusstsein übersehen. „Zu sagen, dass etwas in die Krise geraten war, bedeutet vor allem, zu sagen, dass es alt geworden war, dass es sein Existenzrecht verloren hatte und daher mit etwas Neuem ersetzt werden sollte. Kritik ist nichts als der Akt dieses Urteils, das dem Alten helfen sollte, rasch zu sterben, und das dem Neuen zu einer leichten Geburt verhelfen sollte.“

 

Der Gestus der Kritik ändert sich, ihr Fluchtpunkt gewissermaßen, je nachdem, ob der Kritiker sich einen utopischen Impuls bewahrt hat. Es macht einen großen Unterschied, ob meine Kritik darauf abzielt, einen Prozess der Krisenverschärfung im Gang zu setzen oder in Gang zu halten, mit einem positiven Ziel vor Augen – wie vage dieses immer sein mag; oder ob ich Aspekte meiner Zeit kritisiere, womöglich noch im kulturkritischen Moll, in jenem tragischen Sound, der seit jeher auch auf konservativer Seite die Veränderungen begleitet, die der kapitalistischen Dynamik geschuldet sind.

 

Es ist jedenfalls nicht so simpel, wie uns einige ultralinke oder ultraorthodoxe Marxisten weißmachen wollen, dass nämlich Kritik und Utopie gewissermaßen Antipoden sind. Von dieser Seite wird dann darauf hingewiesen, dass Marx kein utopischer Schwärmer, sondern ein Kritiker des Bestehenden gewesen sei, und die Pointe wird dann mit dem unschlagbaren Hinweis gekrönt, dass Marx’ Hauptwerk schließlich „Das Kapital“ heiße und eben nicht „Der Kommunismus“.

 

Aber um den Kapitalismus kritisieren zu können, musste die kritische Theorie doch von der Utopie, gewissermaßen als inneres Motiv, durchzogen sein.

 

Ohne Utopie, dies ist der Fluchtpunkt des bisher Gesagten, – meine These -, wird aus Krise und Kritik die Krise der Kritik – dann nämlich ist das eigentliche Charakteristikum der Krise eine Krise politischer Vorstellungskraft. Utopieverlust heißt Zukunftsverlust. Oder, um das mit der schönen Wendung zu sagen, die ich unlängst auf einer amerikanischen Internetsite fand: die Sentimentaltiät des postutopischen Zeitalters ist eine „Nostalgia for the future“.

 

Ich bin nun, wenn wir hier über das Krisenbewußtsein unserer Epoche nachdenken, tatsächlich der Meinung, dass wir, wenn wir von einer Krise im „eminenten“ Sinn sprechen wollen, neben allen Detail- und Einzelaspekten vor allem den zentralen Aspekt im Bewußtsein haben müssen: die ideologische Krise, die Krise politischer Vorstellungskraft. Noch nie war politische Phantasie derart verpönt wie heute – und das, obwohl sie noch nie derart abwesend war wie heute.

 

Zur exemplarischen Illustration nur soviel: Hätte man Anfang der 30er Jahre einen Linken egal welcher Couleur mitten in der Nacht geweckt und ihn gefragt, was denn getan werden müsse, um die Krise zu überwinden, hätte er sicherlich im Halbschlaf und innerhalb von zehn Sekunden herunter zu rattern vermocht: Sturz der kapitalistischen Ordnung, Verstaatlichung der Produktionsmittel, Vergesellschaftung des gesellschaftlichen Reichtums. Würden Sie heute einen durchschnittlichen CDU- oder FDP-Wähler wecken und fragen, wie denn die Krise zu überwinden wäre, würde er ebenso schnell im Halbschlaf antworten: Sozialstaat verschlanken, Steuern runter, Investionshemmnisse wegräumen.

 

Und jetzt fragen Sie einmal einen Linken, egal welcher Spielart, gerne auch in wachem und ausgeschlafenen Zustand.

 

II.

 

Warum ist heute an der Zusammenarbeit von Benjamin und Brecht interessant, einmal von philologischem Wissensdurst abgesehen? Doch offenbar, weil wir uns erhoffen, etwas zu erfahren, was uns bei der Lösung der Krise der Kritik hilft, wenn wir uns mit Krise und Kritik beschäftigen. Da ist einmal Brecht, „der Spezialist des Von-vorn-Anfangens“, wie ihn Benjamin einmal nannte, und Benjamin, nach Hannah Arendts Worten „der seltsamste Marxist … den diese an Seltsamkeiten nicht arme Bewegung hervorgebracht hat“. Wir befinden uns im Moment des Zusammenbruchs der sozialen Ordnung. Eine Welt löst sich auf – aber im Moment der Auflösung ordnet sie sich um neue Achsen. Der zweite Sinn der Zerstörung ist der Neubeginn. „Man braucht die tabula rasa, auf der man spielt, das beginnergefühl“, notiert Brecht später in sein Arbeitsjournal. Benjamin schrieb bereits 1933 von der Notwendigkeit eines „neuen Barbarentums“, von dem er einen „positiven Begriff“ zu gewinnen versucht. Denn dieses Barbarentum zwinge einige dazu „von vorn zu beginnen; von Neuem anzufangen… Unter den großen Schöpfern hat es immer die Unerbittlichen gegeben, die erst einmal reinen Tisch machten.“

 

Ich meine, und sage im Grunde damit nur in anderen Worten das, was ich schon im ersten Teil meiner Anmerkungen ausgeführt habe, dass der ganz wesentliche Faden, den wir aufnehmen sollten, der des Begriffs von Zeitlichkeit ist – eines spezifischen historischen Zeiterlebens. Wir kennen das berühmte Diktum Brechts, nicht ans gute Alte, sondern an das schlechte Neue gelte es sich zu halten. Benjamin schrieb, auf Brecht gemünzt, „nur der Einverstandene hat Chancen, die Welt zu ändern“. Und Brecht selbst formulierte in einem Brief als Prinzip, man müsse „zu unserer Zeit stehen und gerade ihren Übergangscharakter als das eventuell Große ansehen“.

 

Hatte Brecht schon  1919 an seine Gefährtin Paula Banholzer depeschiert, „übrigens bin ich vollends ganz zum Bolschewiken geworden“, so tendierte Benjamin ab 1924 zu einem Marxismus eigener Art. In einem Brief an seinen Jugendfreund Gershom Scholem berichtet er zurückhaltend von „Anzeichen einer Wende“ in seinem Denken, von „kommunistischen Signalen“. Für ihn die intellektuelle Unternehmung, politische Momente „zu entwickeln, und das, versuchsweise, extrem“.

 

„Versuchsweise extrem“ – wohl selten wurde die Motivation radikalen Denkens in eine hübschere Wendung gefasst. Allenfalls die berühmte Wendung des britischen Historikers AJP Taylor kann es damit noch aufnehmen, der auf die Vorhaltung, er vertrete extreme Meinungen, erwiderte, dies täte er zwar, aber auf moderate Weise. Aber dies nur nebenbei.

 

Dem zuvorgegangen war die Begegnung mit einer schönen Frau. Im Mai 1924 lernt Benjamin auf Capri die bolschewistische Schauspielerin Asja Lacis kennen. „Benjamin, der depravierte Privatgelehrte“, berichtet Werner Fuld in seiner Benjamin-Biographie, „trifft auf eine schöne Kommunistin, in die er sich verliebt, die aber ihn von der Idee des Kommunismus überzeugt“. Asja Lacis war es übrigens auch, die Benjamin im Mai 1929 mit Bertolt Brecht bekannt macht. Die Bekanntschaft mit Brecht muss für Benjamin von jener Intensität gewesen sein, die er – in anderem Zusammenhang – einmal „profane Erleuchtung“ genannt hat; – eine Inspiration von der Art eines Blitzes. Schon bald nach den ersten Kontakten schrieb er, „dass das Einverständnis mit der Produktion von Brecht einen der wichtigsten und bewährtesten Punkte meiner gesamten Produktion darstellt“. Benjamin, der seltsame Marxist, „der Widersprecher, Vieles wissende, Neues suchende“ (Brecht in einem Gedicht nach Benjamins Tode) und Brecht, der „Spezialist des Von-vorn-Anfangens“ gehen eine Kollaboration ein, die, um der Wahrheit genüge zu tun, für Benjamin wohl von größerer Bedeutung ist als für Brecht.

 

Benjamin, der Herätiker, und Brecht, der Bolschewik, der nie einer KP beitreten sollte, doch öffentlich kaum ein Abweichen von der „Generallinie“ des Parteikommunismus bekundete. Brecht umgibt sich mit Vorliebe mit solch merkwürdigen, dissidenten Marxisten wie Benjamin. Seine marxistischen Lehrer sind Karl Korsch und Fritz Sternberg, zwei Kommunisten, die zeitlebens über Kreuz sind mit den Politbürokraten des offiziösen Marxismus.

 

Bolschewiken ohne Partei, begeben sie sich auf das Abenteuer des verwegenen Denkens, des „eingreifenden Denkens“.

 

"Schön ist es, / Das Wort zu ergreifen im Klassenkampf", heißt es schon in Bechts frühem Lehrstück "Die Maßnahme". Und wenn es in diesem Klassenkampf die Aufgabe des Revolutionärs ist, konsequent in seinem Tun zu sein, so bleibt es die Forderung an den revolutionären Intellektuellen, konsequent in seinem Denken zu sein, nicht halt zu machen beim Vorläufigen und Halben, sondern seine Position zu finden – und sei es, nach Benjamin, "versuchweise, extrem…"

 

In der "Maßnahme" heißt es:

 

Klagend zerschlugen wir unsere Köpfe mit unseren Fäusten

Daß sie uns nur den furchtbaren Rat wußten: jetzt

Abzuschneiden den eigenen Fuß vom Körper; denn

Furchtbar ist es zu töten.

Aber nicht andere nur, auch uns töten wir, wenn es nottut

Da doch nur mit Gewalt diese tötende

Welt zu ändern ist, wie

Jeder Lebende weiß.

Noch ist es uns, sagten wir

nicht vergönnt, nicht zu töten. Einzig mit dem

Unbeugbaren Willen, die Welt zu verändern, begründeten wir

die Maßnahme.

 

Und das Prinzip, das Brecht formuliert, wird zum geflügelten Wort:

 

Umarme den Schlächter, aber

Ändere die Welt: sie braucht es!

 

Benjamin verstand sich derweil, in einem Brief an Scholem, als „immer radikal, niemals konsequent“. Die kommunistischen „Ziele“ hielt er „für Unsinn und für nichtexistent“. Doch die kommunistische Aktion galt ihm als „das Korrektiv“ dieser Ziele. „Auf mich ist für ein ‚System des Materialismus’ (!) weiß Gott nicht zu rechnen.“

 

Die Begriffe „Einverständnis“ und „das schlechte Neue“ finden sich zentral in den Benjaminschen Notizen für seine Brecht-Kommentare. Die Brechtsche Maxime, wonach es gelte, sich nicht an das gute Alte, sondern an das schlechte Neue zu halten, musste auf Benjamin eine faszinierende Wirkung tun, ging dieser ja in gewisser Weise als letzter Überlebender des 19. Jahrhunderts durch das Zwanzigste. Doch was Benjamin, diesen Auf-heber der Tradtition, und Brecht, den modernen Zerstörer (und damit auch: Stifter neuer Tradition) verbinden musste, war das Wissen darüber, dass das schlechte Neue die Verbindungen zum guten Alten schon deshalb kappen muss, weil die Zeit selbst diese Fäden radikal durchschlagen hat.

 

Ich will hier keine Heldengeschichte vortragen, deshalb erlauben Sie, dass ich das Netz ein wenig zuziehe, bevor ich zum Schluss komme: Was an dieser Kollaboration von Brecht und Benjamin für uns von Interesse sein kann, ist die Physiognomie des radikalen Intellektuellen im Augenblick einer Krise, positiv verstanden als „Verwandlungs-Zeit-Raum“.

 

Was sind, kurz resumiert, die Charakteristika dieses Denkens?

 

         die Bereitschaft, immer auf Neue Neu zu beginnen, weil die Wirklichkeit selbst die Fäden des Hergebrachten zerschneidet.

         Eine Schonungslogkeit verschiedenen Grades, doch immer die Bereitschaft, an die Grenzen der eigenen intellektuellen Konsequenz zu gehen.

         Eine sich zum Abenteuertum übersteigende Liebe zum Chaos, zum Risiko. „Das Chaos ist aufgebraucht, es war die beste Zeit“, lautet der letzte Satz von Brechts „Dickicht der Städte“.

         Die Gewissheit, dass der Status quo immer prekär ist, auf des Messers Schneide steht.

 

III.

 

Ich habe die Aspekte, auf die es mir ankommt in feuilletonistischer Rasanz unter Verletzung aller philologischer Regeln herausgearbeitet. Ich bitte Sie, das zu entschuldigen, aber immerhin haben wir ja erst die zweite Etappe genommen in unserer Reise zu den „Intellektuellen und die Utopie“ und die Zeit drängt. Ich habe einige Begriffe berührt, denen ich mich abschließend noch genauer widmen will: die marxistische Theorie als „anti-utopische Utopie“; „das gute Alte und das schlechte Neue“; „Einverständnis mit seiner Zeit“, gerade angesichts deren Krisenhaftigkeit; „Verwandlungs-Zeit-Raum“.

 

Wir haben gesehen, dass es spezifische, gewissermaßen unscharfe Momente des Utopischen im Marxismus gibt, ohne die Begriffe wie „Krise“ und „Kritik“ ihre Bedeutung verändern. Präziser formulierend können wir nun feststellen, dass es sich dabei weniger um eine Utopie des Zieles handelt – wie in der klassischen utopistischen Literatur -, sondern eher um einen Utopismus des Prozesses. Die klassische Linke hatte keine „Vision“, aber die Gewissheit, dass die Zukunft strukturell der Gegenwart inhärent ist, während aber gleichzeitig die Zukunft von der Gegenwart durch einen monumentalen Graben geschieden ist – durch die Revolution, für die glücklicherweise ein historischer Agent bereit steht. Die utopische Kraft, die in aller linken Theorie, allem linken Denken immer am Werke war, war eine Utopie des Überganges – und zwar nicht nur in den revolutionären, sondern auch in den reformerischen Ausprägungen der klassischen Linken. Die Utopie behauptete nicht, so oder so sieht die zukünftige ideale Gesellschaft aus, sie insistierte aber darauf, dass es Phasen systemischer Weichenstellung gibt, eines historischen Übergangs, dass es verschiedene Möglichkeiten gibt (und sie gab vor, zu wissen, was getan werden müsse, damit die Freundlichere der verschiedenen Möglichkeiten gewählt würde).

 

Es ist angebracht, in diesem Zusammenhang an dem Begriff der „Überdeterminiertheit“ zu erinnern, wie ihn Louis Althusser in die sozialphilosophische Diskussion einführte. Und zwar aus zweierlei Gründen. Eine epochale Krise, also eine Krise von der Art, die erst mit Recht ein „Krisenbewußtsein“ zu entwickeln gestattet, ist immer überdeterminiert. Sie ist nicht einfach eine ökonomische Delle, sie markiert auch nicht nur einen sozialen Wandel, der ein wenig die Gewohnheiten durcheinander bringt, nein, sie bedeutet, dass „das Ganze“ auf fundamentale Weise nicht mehr so funktioniert, wie es bisher funktionierte. Sie ist, auch hier wieder die etymologische Nähe von Krise und Kritik, ein „kritischer Punkt“.  Diese Überdeterminiertheit bedeutet aber auch, dass man nicht mehr das Bisherige einfach wieder funktionstüchtig machen kann, indem man ein wenig da, ein wenig dort repariert. Dies aber heißt nichts anderes, als dass die „Geschichte“ voranschreitet. Hier kreuzen sich wieder Utopie und Antiutopie. Im Faktum, dass die Geschichte voranschreitet, können wir das utopische Moment ausmachen, im Umstand, dass sie wegen der Zuspitzung der Widersprüche fortschreitet, „nach der schlechten Seite“ hin  – dies ist die Pointe aller negativen Dialektik -, können wir das antiutopische Moment ausmachen.

 

Lassen Sie mich, zum Abschluss, noch etwas unsystematisch auf ein paar Punkte eingehen, die im Kontext Utopie / Krise / und Kritik nicht unerwähnt bleiben dürfen.

 

Zunächst: In Phasen historischer Stabilität funktionieren Systeme aus sich heraus, auf Basis ihres strukturellen Determinismus. In diesen Phasen hat der Einzelne nicht allzu viel Gewicht. „Aber in Zeiten des Übergangs und der Krise“, möchte ich mit Immanuel Wallerstein anmerken, „wird der Faktor des freien Willens zentral“. Die Krise ist keine Einbahnstraße, im Gegenteil, erst die Krise „eröffnet unserem Handeln, unserem Engagement und unserem moralischen Urteil einen Freiraum“.

 

Weiters: Kritik und Utopie stehen in einem komplizierten Verhältnis. Kritik ohne utopisches Zeitempfinden läuft Gefahr, lamoyant zu werden, aber Kritik ist natürlich immer auch ins Bestehende verstrickt. Man kritisiert schließlich, was ist – und nicht, was nicht ist. So hat Kritik stets „etwas“ gemeinsam mit dem, was sie kritisieren will. Alles bisher über die Utopie Gesagte impliziert ausdrücklich nicht, dass Kritik nur „der üben könne, der etwas Besseres anstelle des Kritisierten vorzuschlagen habe“. Über dieses Konstruktivitätsgebot hat schon Adorno gesagt: „Durch die Auflage des Positiven wird Kritik von vornherein gezähmt und um ihre Vehemenz gebracht“ und er hat entgegengehalten, dass „das Falsche, einmal bestimmt erkannt und präzisiert, bereits Index des Richtigen, Besseren ist.“

 

Nur stoßen wir auch hier stante pede wieder auf die Utopie als inneres, unausgesprochenes Motiv: das Falsche ist nicht nur Ausweis des Falschen, nein, es ist der Index des Richtigen, Besseren. Kritik und Krise sind im Diskurs der Moderne Wegmarken Richtung Paradies auf Erden, Kritik und Krise sind nicht nur miteinander verbunden, die Krise ist, dies zuletzt, selbst eine Art von tätiger Selbstkritik des Bestehenden selbst.

 

Ich komme zum Schluss. Ich habe zu formulieren versucht, was den radikalen Intellektuellen ausmacht: radikales Einverständnis mit seiner Zeit, aber nicht der Affirmation wegen, sondern der Entschiedenheit wegen, über sie hinauszugehen. Heute sind die Antiutopisten die Erben der Punks: „No Future“ ist ihre Devise. Dagegen ist daran zu erinnern: Radikales Denken kann nur futuristisches Denken sein. Gewiss, es hat keinen Sinn, nach dem Ende der Großutopien „mehr Utopie“ zu fordern – dies ist etwa so nützlich, wie wenn Agnostiker sich sinnlos mühen, an Gott zu glauben, weil sie zu der Ansicht gelangt sind, dass die Bindekräfte des Religiösen gar nicht so schlecht waren. Es geht eher darum, die Welt wieder als veränderbar und als verbesserbar zu begreifen – das ist sie nämlich selbst dann, wenn sie nicht mit einem großen Plan zu einer idealen Welt verändert werden kann. Außerdem: auch die großen Pläne haben noch ihren Nutzen, denn an ihnen kann man wenigstens scheitern und noch in diesem Scheitern die Welt weiterbringen. Und: die Abgeklärtheit ist nicht zum Nulltarif zu haben. Nun bleibt mir nicht mehr, als Ihnen zu danken und die Krise zu begrüßen. Und wenn’s denn dem Fortschritt dient, gerne auch „versuchsweise extrem“.

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