Schwierigkeiten mit dem Chavismo

61 Prozent der Stimmen! Die Wahlen in Venezuela sind geschlagen, die Stimmen ausgezählt, Hugo Chávez kann eine weitere Amtszeit – voraussichtlich bis 2013 – im Miraflores-Palast regieren. Das ist wohl auch gut so. Warum ich so vorsichtig formuliere? Weil es verdammt schwierig geworden ist, eine rationale Position zu Chávez einzunehmen, gerade weil so Viele so eindeutige Meinungen zu seinem „bolivarischen Experiment“ haben.      


Schwierigkeiten mit dem Chavismo

 

 

 

Da ist natürlich zunächst der liberaldemokratische Mainstream, von sozialdemokratisch-abgeklärt bis neoliberal-bissig, der natürlich immer schon weiß, dass aus solchen Experimenten nichts werden kann: wer sich gegen den Zeitgeist mit seiner Doktrin von freiem Handel, Marktöffnung und positivem Investitionsklima zu stemmen versucht, der ist bestenfalls kindisch, meist ein verkappter Despot. Und liefert Chávez, mit seinem caudillohaften Comandante-Getue und seinen volkspädagogischen Allüren nicht einen Beweis nach dem anderen für diese These?

 

Da sind, zum zweiten, die aufgeklärten Linken, die womöglich in ihren Jugendtagen selbst solchen Figuren romantisch verfallen waren und die oft genug die Erfahrung gemacht haben, wie sich ihre angehimmelten Idealstaaten, sobald sie die ideologischen Scheuklappen abgelegt hatten, als ziemlich scheußliche Tyranneien entpuppten, oder zumindest als normal korrupte Drittwelt-Regierungen. Diese aufgeklärten Linken haben gewissermaßen einen automatischen skeptischen Reflex gegenüber Leuten wie Chávez.

 

Und da sind zum dritten die internationalen Venezuela-Solidaritäts-Fans. Sie weisen auf die Erfolge der Chávez-Regierung hin. Die mache in Wirklichkeit nichts anderes als eine linkssozialdemokratische Politik von der Art, wie sie in den sechziger und siebziger Jahren in den europäischen Sozialdemokratien ganz üblich war – gerade das Richtige für unterentwickelte Länder wie Venezuela. Gerne wird hinzugefügt, dass das Land beinahe 50 Jahre lang von US-hörigen korrupten Eliten regiert war, die es ausplünderten. Erstmals bekämen die Armen jetzt ihren Anteil am nationalen Reichtum. Vor allem die Einkünfte aus dem Ölgeschäft würden nun eingesetzt, um Gesundheitsfürsorge, Bildung, billige Grundnahrungsmittel in die Armutsviertel zu bringen.

 

Jede Seite erzählt eine verdammt schlüssige Geschichte. Womöglich aber handelt es sich dabei um zu schlüssige Geschichten.

 

Denn viel spricht dafür, dass die Wahrheit ambivalenter und – zumal von außen – nicht einmal noch vorläufig bilanzierbar ist. Was sind die Fakten? Chávez bolivarische Regierung ist kein autokratisches Einparteiensystem. Opposition ist erlaubt, und es ist gerade die (rechts-)liberale Opposition gewesen, die in den ersten sieben Jahren der Chávez-Regierung weit über die Grenzen demokratischer Gepflogenheiten hinausging. Weder hat Chávez die Opposition zerschlagen noch öffentliche Kritik brutal sanktioniert. Allerdings ist es natürlich auch keineswegs so, dass Venezuela vor Chávez eine finstere Oligarchenherrschaft war. Venezuela war ein verkrustetes Zwei-Parteiensystem, in dem die beiden führenden Parteien, Sozialdemokraten und Christdemokraten, ihre Klientel mit Pfründewirtschaft an sich banden. Nicht gerade eine liberale Demokratie, aber auch keine Diktatur. Wenn Volksaufstände aus dem Ruder liefen, wurden diese zwar niederkartäscht, aber das ist doch etwas anderes, als wenn eine Militärdiktatur Opposition systematisch in den Untergrund drängt.

 

Die bolivarische Verfassung, die Chávez ausarbeiten ließ, und die Realverfassung, die sich herausbildete, hat manches demokratischer gemacht, manches undemokratischer. Es gibt mehr Machtkonzentration beim Präsidenten, aber auch mehr Kontrollmöglichkeit und „Ermächtigung“ der einfachen Leute.

 

Ähnlich ambivalent ist die Bilanz der Wirtschafts- und Sozialpolitik. Ja, die durch die hohen Ölpreise dramatisch gestiegenen Einnahmen des Staates kommen in erheblichem Maß den Armen zugute. Das ist gerecht und auch ökonomisch sinnvoll übrigens – als Investition in „Humankapital“, also in qualifizierte Arbeitskräfte. Nur durch Bildung und Qualifikation werden die Armen dauerhaft aus der Armut zu bringen sein. Fraglich ist freilich, wie effizient diese Umverteilung ist. Nicht nur, dass eher wenig der zur Zeit recht umfangreich vorhandenen öffentlichen Ressourcen in den Aufbau produktiver Industrien und Branchen geht, die eine Ausdifferenzierung der ökonomischen Basis bedeuten und die Abhängigkeit von den Ölmärkten reduzieren würde; offenkundig versickert auch viel Geld im Staatsapparat. Das ist wohl auch gar nicht anders möglich und keineswegs Folge übler Absichten – wenn der Staat derart viele Milliarden einfach umschlägt, der öffentliche Apparat aufgebläht wird, effektive Kontrollen fehlen, dann ist das ein nahezu automatisches Resultat. Ebenso wie der Machtzuwachs der zentralen staatlichen Institutionen, was zum Machtmissbrauch immer einlädt.

 

Andererseits hält sich dieser Machtmissbrauch doch in relativ engen Grenzen. Gewiss, den Medienmächtigen, die gegen Chàvez agitieren, wird regelmäßig mit ökonomischen Nachteilen gedroht; wer 2004 für die Abwahl des Präsidenten unterschrieb, braucht sich dem Vernehmen nach um einen Job im Staatsdienst nicht einmal mehr bewerben. All das ist auch in entwickelteren Demokratien nicht unüblich – man denke an Österreich unter Schüssel. Allerdings, das nur nebenbei: schön ist das deswegen noch lange nicht.

 

Zum Kernargument der Chávez-Gegner gehört der Caudillismus des Präsidenten. Aber wie weit ist der nur Projektion auf der Basis von Vorannahmen über den „üblichen“ lateinamerikanischen Caudillopolitiker? Und wie viel davon ist Chávez-Show? Wie viel (oder sollte man nicht besser sagen: wie wenig?) davon ist also ein rein postmodernes Spiel mit Zeichen, das seine praktische Aussagekraft weitgehend eingebüßt hat? Dabei geht es um Gestisches, das keineswegs gering geschätzt werden soll, aber doch wohl weniger zählt als der Umstand, dass Chávez mit Sicherheit mehr Wahlen gewonnen hat als alle seine Gegenspieler, George W. Bush angefangen.

 

Über Chávez zu schreiben, ist also gar nicht so einfach. Die Chávez-Gegner die von der „Kubanisierung“ faseln, müssen sich fragen lassen: Welche Medien wurden gleichgeschaltet? Welche Oppositionsparteien wurden unterdrückt? Wo sind die politischen Gefangenen, wo die Erschießungspelotons? Aber auch die Chávez-Bewunderer, die so überzeugt sind, hier würde der erfolgreiche westeuropäisch-sozialdemokratische Weg unter lateinamerikanischen Bedingungen beschritten, müssen sich fragen lassen: Reicht es ihnen wirklich, dass die Demokratiebilanz der Chávez-Regierung nicht schlechter ausfällt als in anderen lateinamerikanischen Staaten? Wo sind die produktiven Investitionen? Und ist das, was Chávez macht, wirklich mit dem gesellschaftlichen Kompromiss vergleichbar, der zum Erfolgsgeheimnis des sozialdemokratischen Wunders der europäischen Nachkriegszeit dazugehörte: mit der Mobilisierung der Unter-, Mittel- und Oberschichten für ein gemeinsames Projekt der demokratischen und ökonomischen Fortentwicklung der Gesellschaft?

 

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