Gott schadet

Viele, die sich über Kardinal Meisner jetzt aufregen, stimmen ihm insgeheim zu, dass mehr Religiosität der Moral gut täte. Dabei ist nicht weniger wahr als dieser Abiturentengemeinplatz. taz, 22. September, 2007

 

Wenn der Mensch Gott aus seiner Mitte verbannt, dann entartet die Kultur, aber eigentlich die Zivilisation, sagt Kölns Katholenkalif Meisner. Damit formuliert er freilich nur besonders blöd, was der gläubige Mainstream so denkt. Denn man hört das ja an allen Kirchenecken: Wenn der Mensch keinen Gott über sich fühlt, dann macht er sich zum Maß aller Dinge, dann „herrscht immer mehr die Willkür, verfällt der Mensch“ (Josef Ratzinger[1]), ist unentwegt von religiöser Seite zu hören. Es ist ein abgedroschener Abiturentengemeinplatz, den man, ähnlich wie einen Ohrwurm, kaum mehr aus dem Kopf bekommt, dass dort, wo Gott nicht existiert, alles erlaubt wäre. Gewiss, es hat schon Ungläubige gegeben, die sie in verrückter Egomanie als Herren über Leben und Tod gefühlt haben und berechtigt, Hunderttausende oder gar Millionen in den Tod zu schicken. Aber, um das einmal deutlich zu sagen: Es hat auch schon genügend Gläubige gegeben, die das getan haben, gerade weil sie geglaubt haben, der Gott, den sie über sich fühlten, würde genau das von ihnen erwarten. Man braucht keinen Gott, um Massenmorde zu begehen. Aber wenn man sich einbildet, dass Gott gerade das von einen wünscht, dann fällt das Massakrieren entschieden leichter.

 

Dennoch hält sich die fixe Idee in den Köpfen vieler, dass gläubige Leute irgendwie leichter moralisch Kurs im Leben halten können. „Viele religiöse Menschen finden es schwer vorstellbar, wie jemand ohne Religion gut sein kann, mehr noch, sie können nicht glauben, dass er überhaupt gut sein wollen könnte“, stellt  Dawkins fest, um mit dem ihm eigenen Spott dann hinzuzufügen: „Davon ist es kurioserweise nicht weit zum Hass auf die, die ihren Glauben nicht teilen“[2].

 

Menschen, die meinen, dass moralisches Verhalten von Menschen darin motiviert sei, dass sie auf Gottes Lohn hoffen oder seinen Zorn fürchten, sollte man mit Skepsis begegnen – besser, man sollte vorsichtshalber Abstand von ihnen halten. „Heißt das, wenn es Gott nicht gäbe, würden sie rauben, vergewaltigen, morden? Wenn diese Leute das wirklich meinen, sollte man ihnen aus dem Weg gehen“, schreibt Dawkins[3].

 

Oder aber sie sind doch der Ansicht, sie könnten auch eine moralische Person bleiben, ohne dass Gott sein Auge auf sie hat – dann ahnen sie aber schon, was die meisten von uns wissen: dass es nämlich keinen Zusammenhang zwischen Moral und Glaube gibt – oder wenn, dann einen ziemlich komplizierten und widersprüchlichen Zusammenhang. Die Quellen, aus denen sich ethische Überzeugungen speisen können, sind vielfältig. Ein gesundes Solidaritätsgefühl für unsere Mitmenschen braucht keine religiösen Wurzeln. Ja, der Altruismus ist eine gute Sache, aber moralisches Handeln muss nicht einmal besonders altruistische Ursachen haben, es ist vielleicht sogar ein stabileres Fundament für ein gerechtes Gemeinwesen, wenn die Moral die Selbstlosigkeit nicht nötig hat. Wir Menschen sind soziale Wesen und wissen, dass wir in Interaktion mit anderen unser Leben meistern müssen. Daraus allein folgt das Postulat: „Was du nicht willst, dass man dir tut, das füg auch keinem anderen zu.“ Eine sozial gerechte Gesellschaft ist für uns alle gut. Ich habe auch einen eigenen Nutzen davon, wenn nicht allzu viele meiner Mitmenschen im Elend leben – die Gefahr ist dann geringer, dass ich von einem, der nichts hat als sein nacktes Leben, im Park erschlagen werde. In einer Gesellschaft, in der sich alle nur um sich, nicht aber um das Geschick ihrer Mitmenschen bekümmern, wäre es schnell für alle ungemütlich – auch der „Glücklichsten“ müssten dann in den „Gated Commuinties“ leben, in die sich in manchen Ländern heute schon die Reichen zurückziehen müssen, damit sie sicher sind. Das ist dann freilich ein Leben im goldenen Käfig. Schon der „aufgeklärte Eigennutz“, schrieb der große Denker Bertrand Russell, müsse deshalb zur Abschaffung der Sklaverei führen, allein weil „in einem Staat mit zahlreichen Sklaven … dauernd Sklavenaufstände zu befürchten“ seien[4].

 

All das schließt freilich nicht aus, dass ich auch Mitgefühl mit der Bedrückung meines Nächsten habe. Moral gehört, kurzum, zur Conditio Humana dazu. Gott ist dafür nicht notwendig.

 

Eher im Gegenteil. Denn die Religion ist ein gutes Mittel, solche spontanen moralischen Empfindungen auszuschalten. In der Geschichte und in der Gegenwart gibt es genügend Beispiele, dass normale Individuen in anderen normalen Individuen nicht den Mitmenschen, sondern den Feind gesehen haben, sobald sie von diesem durch einen Graben religiösen Eifers getrennt waren. Natürlich, die Menschen brauchen nicht unbedingt Religion, um Kriege vom Zaun zu brechen – aber die Religion nützt sehr, lange und tiefe Gefühle der Aggression zu mobilisieren. Natürlich braucht es keine Religion, um andere Länder zu überfallen und zu besetzen – aber die Religion ist ein gutes Mittel, im Unterdrückten ein moralisch minderwertiges Subjekt zu sehen, das froh sein soll, dass man ihm die Zivilisation, den wahren Glauben oder was auch immer bringt, und im Unterdrücker die Gewissheit zu wecken, dass sein Handeln von Gott gerechtfertigt ist. Und Unrecht, das sich religiös begründen lässt, wird eher akzeptiert, als Unrecht, für das das nicht gilt. Man kann das nicht besser formulieren als Richard Dawkins, dem hier deshalb wieder das Wort erteilt werden soll: „Wenn die Fürsprecher der Apartheid darauf insistiert hätten, dass die Rassenmischung gegen ihre Religion verstoße, wäre ein Gutteil der Opposition gegen sie verschwunden – aus Respekt vor dem Glauben.“[5]

 

Gewiss gibt es viele religiöse Menschen, die moralische Individuen sind, die Gutes tun, und das mit ihrem Glauben begründen. Es gibt, wie ein weiser Mann einmal formulierte, gute Menschen, die gute Dinge tun, und schlechte Menschen, die schlechte Dinge tun, ganz unabhängig davon, ob sie einen Glauben haben oder nicht. „Aber“, so fügte er sarkastisch hinzu, „damit gute Menschen schlechte Dinge tun, braucht es Religion.“

 

Nimmt man die historische Realität, dann wissen wir, dass es viele Ungläubige gab, die sich an den Menschenrechten vergingen, aber auch sehr, sehr viele Gläubige. Und es gab viele Gläubige, die gegen Unrecht aufstanden, aber auch viele Ungläubige. Martin Luther King trat für die Nachkommen der Sklaven ein, sein Namenspatron Martin Luther hetzte gegen die Juden und segnete die Obrigkeit, die während der Bauernaufstände die „mörderischen Rotten“ der Freiheitskämpfer erschlagen ließ. Franjo Tudjman, der kroatische Staatspräsident, war gläubiger Katholik, General Radko Mladic, der Führer der serbischen Armee, ein orthodoxer Christ. Beide waren große Fans des Konzepts der ethnischen Säuberung und des genozidalen Massenmords, das ohne die Versessenheit auf ethno-religiöse Identitäten gar nicht hätte funktionieren können – denn die ansonsten völlig ununterscheidbaren Südslawen waren nur anhand der Kriterien „katholisch“, „orthodox“ und „muslimisch“ überhaupt auseinander zu halten. Oskar Romero, der Erzbischof von San Salvador, stellte sich vor dreißig Jahren mutig auf die Seite des unterdrückten Volkes, und er war, kein Wunder in seinem Job, ein gläubiger Christ – das waren aber die Anführer der faschistischen Todesschwadrone, die ihn hinterrücks während einer Predigt erschossen, ebenfalls. Sieht man sich die Geschichte der meisten Freiheitsbewegungen an, dann waren es jedenfalls meist die säkularen Kräfte, die sich mit dem Unrecht der Welt nicht abfinden wollten, während die Gläubigen in der überwiegenden Mehrzahl ihr Heil im Gebet suchten – ganz abgesehen davon, dass sich meist eine Bibelstelle fand, die die Eroberung eines Landes, die Unterdrückung der Frauen oder die Beibehaltung der Sklaverei legitimierte. „Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand, der säkular oder Freidenker war, sich gegen das Unrecht stellte, war extrem hoch“, schreibt Christopher Hitchens in Hinblick auf den Kampf gegen die Sklaverei in Amerika. „Die Wahrscheinlichkeit, dass jemand auf Grund seiner religiösen Überzeugungen gegen die Sklaverei und Rassismus stellte, war ziemlich klein. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass jemand auf Grund seines Glaubens die Sklaverei und den Rassismus verteidigte, war statistisch extrem hoch, und das war auch der Grund dafür, dass der Sieg über das Unrecht so lange auf sich warten ließ.“[6]

 

Es mag eine unangenehme Wahrheit für so manchen sozial engagierten und wohlgesinnten Christen sein: An all dem hat sich bis heute kaum etwas verändert. Oder ist es etwa ein Zufall, dass „Christianity“ in den USA heute mit einer Partei verbunden ist, nämlich der „Republikanischen Partei“ von George W. Bush, und mit Leuten wie John Ashcroft, dem Generalstaatsanwalt, der nach dem 11. September die Anti-Terror-Gesetze durchboxte und der mit Sätzen berühmt wurde wie „Wir kennen keinen anderen König als Jesus“ und die Demarkationslinie, die die Trennung von Kirche und Staat markiert, eine „Mauer des Unrechts“ nannte? Ist es wirklich nur ein unbedeutendes Apercu der Geschichte, dass man sich in unseren Breiten unter einem „christlichen Politiker“ meist Leute wie Andreas Khol vorstellt, den ehemaligen österreichischen Nationalratspräsidenten, einen Erzreaktionär mit schlechtem Charakter, von dessen „Nächstenliebe“ so mancher „Parteifreund“ aus der christdemokratischen „Österreichischen Volkspartei“ ein Lied singt? Sind diese Leute Vorbilder eines sündenfreien Lebens, einer moralischen Existenzweise, der Feindesliebe? Sind das die Figuren, die uns spontan in den Sinn kommen, wenn wir unseren Kindern Vorbilder für ein „gutes Leben“ präsentieren wollen?

 

Natürlich nicht.

 

Wir alle, ob gläubig oder nicht, wissen, dass wir uns gut fühlen, wenn wir etwas getan haben, was vor unseren Kriterien einer moralischen Lebensführung zu bestehen vermag, und dass wir uns schlecht fühlen, wenn wir etwas getan haben, was quer zu unserem inneren moralischen Kompass liegt. Wir haben in einem solchen Fall Gewissensbisse. Da brauchen wir keinen Gott über uns. Im Gegenteil: Meist sind es der Welt zugewandte Menschen, die Unrecht als besonders unerträglich empfinden, während ein guter Gläubiger oftmals die fixe Idee in seinem Kopf hat, dass die rein äußerlichen Unterschiede auf Erden keine Rolle spielen, da alles Irdische ohnehin eitel sei.

 

Gewiss sind die Heiligen Schriften der großen Monotheismen auch so etwas wie das Inhaltverzeichnis der moralischen Imperative der Menschheit. Freilich: Tötungsverbot, Nächstenliebe, Mitgefühl gegenüber den Mitbürgern, der Wert der Aufrichtigkeit, all das sind für das Funktionieren eines jeden Gemeinwesens zentrale Werte, so dass es nicht wundert, dass sie praktisch in allen Moralkatalogen vorkommen, egal ob religiös oder nicht. Und selbst wenn das, was man so „unsere Werte“ nennt, historisch gesehen auch religiös „bedingt“ wäre, spricht nichts dafür, dass die Bindekraft moralischer Normen abnimmt, wenn der Mensch Gottes Videoüberwachung nicht mehr über sich spürt. Im Grunde wissen wir das doch alle, und wenn nicht, beweist es jede Statistik: besonders religiöse Gesellschaften sind keineswegs moralischer als eher unreligiöse Gesellschaften. Oder glaubt irgendjemand wirklich, in Italien gäbe es weniger Morde als in Schweden, in Texas wären die Menschen sanftmütiger als in Kanada?

 

Es ist ein Irrglaube, dass die Religion wenn schon nicht wahr, dann nützlich sei, weil sie die Moral stärke. Solange auch Nichtgläubige dem etwas abgewinnen können, haben die Meisners leichtes Spiel.



[1]Peter Seewald / Joseph Ratzinger: Salz der Erde, Stuttgart 1996

[2] Dawkins, The God Delusion, London 2006 S. 211

[3] Dawkins, S. 226

[4] Bertrand Russell: Moral und Politik. München 1988. Seite 82

[5] Dawkins, S. 23

[6] Christopher Hitchens: God is not great, New York, 2007 Seite 180

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