„Schrecken und einschüchtern“

Der New Yorker Historiker Tony Judt über die proisraelischen Lobbygruppen in Washington und deren Allianz mit George W. Bush profil, 10. September 2007

Verbreitet das Buch „Die Israel-Lobby“ eine antisemitische Verschwörungstheorie?

Judt: Nein, ganz und gar nicht.

Manche Leute sind aber sehr vehement dieser Meinung.

Judt: Die haben es entweder nicht gelesen oder schon vorher gewusst, was sie davon halten müssen. Es ist erstens keine Verschwörungstheorie und es ist zweitens nicht antisemitisch. Sicherlich, es behauptet, dass die „Israel-Lobby“ sehr erfolgreich darin war, die US-Außenpolitik zu beeinflussen. Aber das ist ja nicht im Geheimen passiert – also eine Verschwörung, ein Komplott sieht anders aus.

Aber spielen die Autoren nicht ein wenig mit Stereotypen – beispielsweise dem Stereotyp vom Juden, der illoyal ist, weil seine ganze Loyalität Israel gehört?

Judt: Unglücklicherweise haben manche Stereotype eine Prise Wahrheit. Die Funktionäre der Organisationen, die den Anspruch erheben, die amerikanischen Juden zu repräsentieren, haben tatsächlich immer die Frage im Kopf: ‚Was ist gut für Israel?’ Gerade stand Abraham Foxman, der Direktor der Anti Defamation League, im Kreuzfeuer der Kritik, weil er es ablehnte, den türkischen Völkermord an den Armeniern ein „Genozid“ zu nennen. Warum hat er das nicht tun wollen? Weil die Türkei ein Freund Israels ist. Das heißt nicht, dass Leute wie Foxman schlechte Amerikaner sind. Aber es zeigt, dass sie immer das Interesse Israels im Kopf haben. Nur: Das gilt für die Funktionäre, für die allermeisten jüdischen Amerikaner gilt das nicht.

Warum sind die Führer der offiziellen Organisationen derartig Pro-Bush, während die jüdische Bevölkerung mehrheitlich liberal ist?

Judt: Die Mehrheit der amerikanischen Juden, das ist wahr, sind mehrheitlich auf Seiten der Demokraten. Die Führer der organisierten Gruppen waren es gewohnt, in Opposition zu den US-Präsidenten zu stehen. Und mit George W. Bush war das plötzlich anders. Plötzlich gab es keine Kritik an Israel mehr. Sie hatten das Gefühl, sie haben direkten Zugang zur Macht. Ein Präsident mit ziemlich extremen Anschauungen hat sie geradezu adoptiert. Dadurch werden sie aber auch ermutigt, selbst extrem zu sein.

Aber wieso kommen sie damit durch?

Judt: Sie können Kritiker schrecken und einschüchtern, weil sie sehr effektiv Kampagnen steuern.

Die Öl- oder Waffenlobby kann ihre Parteigänger mit Geld belohnen, aber sie kann ihre Gegner nicht wirklich einschüchtern. Warum soll das die Israel-Lobby können?

Judt: Die Waffenlobby, die ist ziemlich aggressiv, die kann die Abgeordneten ganz schön in Bedrängnis bringen, aber sie würde zumindest nicht abstreiten, dass es sie gibt. Vor fünf Jahren konnte man kaum sagen, dass es überhaupt eine Israel-Lobby gibt. Und warum? Weil sie sofort mit dem Antisemitismus-Vorwurf kommt. Wer sie kritisiert, muss damit rechnen, dass man ihm vorwirft, er habe keine Sensibilität für die Tragödie des jüdischen Volkes. Und für die meisten Politiker hat es einfach keinen Sinn, sich dieser Gefahr auszusetzen. Die meisten Abgeordneten sind keine Juden, die meisten kommen aus Bundesstaaten, in denen praktisch keine Juden leben. Und die meisten sind mit Innenpolitik befasst. Das heißt, sie haben mit dem Thema nichts am Hut und sind darum interessiert daran, mit dieser Lobby nur keine Probleme zu bekommen.

Ändert sich das jetzt?

Judt: Ja, eindeutig. Mit dem Buch von Mearsheimer und Walt diskutiert man jetzt über das Thema. Leider diskutiert man darüber, ob die Autoren „antisemitisch“ sind. Man diskutiert zu wenig darüber, ob sie Recht haben.

Die Autoren schildern eine Lobby aus verschiedenen Strömungen, die alle nur die Interessen Israels im Kopf haben. Das ist doch etwas zu simpel, oder?

Judt: Gelegentlich formulieren die Autoren zu plump. Aber lassen Sie mich das so sagen: Seit fünfzig Jahren reiht sich in der amerikanischen Nahostpolitik ein Fehler an den nächsten. Dafür gibt es eine Reihe von Ursachen. Nur: Die Israel-Lobby hat die Sache leider noch viel, viel schlimmer gemacht. Früher hat sich die US-Politik aus schlechter Machtpolitik in die Sackgasse begeben, aber jetzt macht sie das auch noch mit moralischen Argumenten, garniert mit großen Ideen.

Aber es ist doch nicht so, dass Israel die US-Politik bestimmt. Wedelt der Schwanz wirklich mit dem Hund?

Judt: Nein, natürlich nicht. Es geht in beide Richtungen. Israel hat starken Einfluss auf die US-Politik – aber Israel kann auch nichts machen, wenn Amerika nicht zustimmt.

Könnte es nicht sein, dass die Debatte über die Israel-Lobby, so notwendig sie sein mag, doch dem Antisemitismus Auftrieb gibt?

Judt: Ich glaube nicht, dass wir den Antisemitismus fördern, wenn wir eine offene Debatte führen. Den Antisemitismus fördern wir, wenn wir auf der einen Seite moralische Imperative aufstellen, und gleichzeitig eine kritische Debatte über die israelische Politik unterdrücken, wenn wir ein künstliches Schweigen erzwingen. 

Interview: Georg Hoffmann-Ostenhof / Robert Misik

Zur Person
Tony Judt, 59, Professor an der New York University, ist ein weltweit renommierter Historiker. Für seine „Geschichte Europas von 1945 bis zur Gegenwart“ erhielt er jüngst den Bruno-Kreisky-Preis. Der linksliberale Jude Judt ist selbst schon mehrfach mit den Hardlinern aus der Lobby in Konflikt geraten.

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