Der Frankenstein-Komplex

Schweinegrippe als Metapher. taz, 28. April 2009

Es ist eine alte Weisheit unter Publizisten, dass sich die öffentliche Aufmerksamkeit nicht auf zwei Bedrohungen gleichzeitig konzentrieren könne. Aber manchmal gibt es Ausnahmen von der Regel. Gestern fielen die Börsenkurse, aus Angst vor der Schweinepandemie. „Der Dax hat die Grippe“, witzelten Börseanalysten.  Jetzt verstärkt die Schweinegrippe auch noch die Finanzkrise. Der Risikogesellschaft droht das Multiorganversagen.

 

Nicht zufällig hat sich der Soziologen-Begriff „Risikogesellschaft“ für moderne, komplexe Gesellschafen eingebürgert, obwohl sie sich angesichts der vielen Institutionen der Bedrohungsabwehr doch ebenso gut auch als „Sicherheitsgesellschaft“ charakterisieren ließe. Aber es ist nun einmal so: Wir sind immer öfter mit Geschehnissen konfrontiert, die uns auf sehr neuartige Weise Angst machen. Aids, Super-GAU,  Sars, Vogelgrippe, Finanzkrise und jetzt die Schweinepest.

 

Die Ähnlichkeiten sind nicht von der Hand zu weisen. Die Erreger verbreiten sich lautlos, die Gefahr kann überall sein und wir haben kein Verhältnis der Erfahrung zu ihnen. Die Bedrohung ist „irgendwo“ da draußen, aber gleichzeitig potentiell überall. Der Finanzmarktgau in irgendwelchen Glasfaserkabeln, der Krankheitserreger in der Atemluft, in den Speichelpartikel zufälliger Passanten. Was ist da gefährlich? Küssen? Oder ist schon atmen potentiell tödlich? Und wenn ja: die Einstellung der Atmung ist ja auch nicht gesund.

 

Gerade die Abstraktion der Gefahr lässt sie äußerst bedrohlich erscheinen. Anders als, beispielsweise, eine Hitzewelle – obwohl eine solche gelegentlich auch Tausende dahinrafft.

 

Gewiss gibt es im konkreten Fall noch einen Ekel-Faktor. Wer will schon die „gleiche“ Krankheit haben wie das Schwein von nebenan, das sich den halben Tag in seiner Scheiße suhlt? Hinzu kommt eine Art „Frankenstein“-Schauer: die Nutztiere, die von uns Menschen gezüchteten und gehaltenen Nahrungslieferanten, bedrohen uns plötzlich. Ein Virus „mutiert“, was, wenngleich das häufiger vorkommt, allein schon einen futuristisch-bedrohlichen Beiklang hat. Was wir aus Eigennutz produzierten, wird plötzlich zur todbringenden Gefahr. Das Essen ist ansteckend.

 

Womit wir übrigens wieder bei den Ähnlichkeiten zwischen der Schweinegrippe und dem Kapitalismus wären. Nicht zufällig hat ja Karl Marx seine Erzählung über den Kapitalismus in Anlehnung an Mary Shelleys Frankensteingeschichte modelliert: als System, vom Menschen geschaffen, das sich gegen diesen wendet.

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