Zur Lage der Linken

Die Kapitalismus-Krise führte absurderweise vor allem zu einem Abwahlorgie sozialdemokratischer Regierungen. Doch seit Francois Hollandes Wahlsieg und dem SPD-Triumph in Nordrhein-Westfalen fühlen die Linken wieder ein bisschen Aufwind. Ist der Optimismus berechtigt? Falter, 5. Juni 2012

Der Kapitalismus ist in einer Systemkrise, aber jenen, die ihn zähmen wollen, geht es auch nicht gut. Spricht man heute etwas länger mit einem Sozialdemokraten oder Funktionären anderer demokratischer Linksparteien, dann schleicht schnell ein depressiver Sound in das Gespräch: Eigentlich sei doch der Neoliberalismus gescheitert, eigentlich habe sich doch erwiesen, dass all die Neokonservativen die Marktwirtschaft an die Wand gefahren haben, eigentlich müsste das doch ein „sozialdemokratischer Moment“ sein. Ja – sollte, müsste, könnte. 
In der Praxis ist es aber genau umgekehrt: Die konservative Hegemonie in Europa ist so stark wie lange nicht, in Deutschland regiert Angela Merkel, in Großbritannien und Spanien wurden sozialdemokratische Regierungen abgewählt, in Italien bekommen die Linken trotz Berlusconis Abgang kein Bein auf den Boden und auch in traditionell „linken“ Gesellschaften wie Schweden bieten sozialdemokratische Parteien ein eher klägliches Bild. Mit ihren Slogans „gesunde Staatsfinanzen“ und „Budgetdisziplin“ haben die Konservativen auch ein starkes hegemoniales Thema, an dem sich die Linken die Zähne ausbeißen. 
Aber seit ein paar Wochen hat sich die düstere Stimmung unter Europas Linkspolitikern etwas aufgehellt. Francois Hollande wurde zum französischen Präsidenten gewählt und brachte einen neuen Ton in die europäische Politik, in Nordrhein-Westfalen, dem größten deutschen Bundesland, feierte die SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft einen triumphalen Wahlsieg, und auch der Aufstieg der griechischen linkssozialistischen Syriza-Partei wird, irgendwie und zumindest gefühlsmäßig, dieser Indizienkette zugerechnet: dass sich jetzt wieder eine politische Wende ankündigt, weil das konservative Mantra vom „sparen“ nicht nur menschliche Tragödien nach sich zieht, sondern die Krise in Europa sogar verstärkt hat. 
Kommt jetzt also wieder eine Tendenzwende? Ist das jetzt der Moment, ab dem es für die Linksparteien wieder bergauf geht? 
Daniel Cohn-Bendit, Fraktionschef der Grünen im Europaparlament, ist normalerweise ja eher eine sonnige Natur und ein optimistischer Mensch, jetzt aber sagt er: „Ich bin da skeptisch, ob sich dieser Schwung in einen wirklichen Kurswechsel übersetzen wird lassen.“ Schon ein Sieg der französischen Sozialisten bei den Parlamentswahlen (der erste Durchgang findet am kommenden Sonntag statt), ist fraglich. „Das scheint knapper zu werden, als man dachte“, fürchtet Cohn-Bendit. Und dass Europas Sozialdemokraten und die anderen Linksparteien gemeinsam an einem Strang ziehen – davon ist man weit entfernt. 
Möglicherweise wird in den nächsten Monaten eine etwas „linkere“ Politik in Europa gemacht; der brutale Sparkurs, der die Konjunktur abwürgt und die Arbeitslosigkeit hochschnellen lässt, wird in den besonders arg gebeutelten Länder gestreckt werden, es werden vielleicht auch ein paar Wachstumsimpulse gesetzt werden. Womöglich wird sogar eine Schmalspurvariante von „Eurobonds“ eingeführt, gemeinsame Europäische Staatsanleihen mit denen innovative Projekte finanziert werden – im Volumen von ein paar hundert Millionen Euro. Wasser auf dem heißen Stein. 
Blickt man hinter die am Wahlabend so strahlenden Gesichter, hält sich der Optimismus bei Europas linken Strategiedenkern in ziemlich engen Grenzen. Lord Roger Liddle, Oberhausabgeordneter der britischen Labour-Party und einstiger Berater des Premierministers Tony Blair, formuliert das so: „Zyniker sagen, dass Wahlsiege der einen heute vor allem Wahlniederlagen der Amtsinhaber sind. Weil in Zeiten harter Sparpolitik keine Regierung die Konsequenzen ihrer Politik überleben kann“. Soll heißen: Wer regiert, wird abgewählt – egal ob konservativ oder links. Und an dieser These sei schon etwas dran, aber doch erklärt sie nicht alles, ist Liddle sicher: „In Frankreich hat Sarkozy nicht einfach verloren. Holland hat gewonnen.“ Die Wähler haben nicht nur gegen Sarkozy gestimmt, sondern für einen Kurswechsel in Richtung Progressive. 
Die nüchterne Faktenanalyse liest sich im monatlichen Survey „State of the Left“ („Zur Lage der Linken“) des sozialdemokratischen Londoner Think Tanks „Policy Network“ so: „Mitte-Links-Parteien haben in der jüngsten Zeit in Frankreich, Dänemark und der Slowakei Wahlen gewonnen. Ed Miliband in Großbritannien, Stefan Löfven in Schweden und Diederik Samsom in den Niederlanden haben ihre angeschlagenen Parteien stabilisiert. Andererseits haben seit Ausbruch der Finanzkrise beinahe alle amtierenden Regierungen Wahlniederlagen hinnehmen müssen. Alleine in den vergangenen 12 Monaten wurden 10 europäische Regierungen abgewählt. Aber es gibt eine bemerkenswerte Ausnahme: Wenn eine amtierende Regierung überlebt hat, dann war es praktisch ausnahmslos eine Mitte-Rechts-Regierung.“ Die nüchterne Bestandsanalyse ist also eindeutig: eine Linke Woge sieht anders aus. 
Warum das so ist, dafür könnte man ein paar einfache Antworten versuchen. Die einfachste ist, und an der ist gewiss etwas dran: Europas Mitte-Links-Parteien stehen so schlecht da, weil sie im Grunde selbst nicht wissen, was sie wollen, weil es ihnen schwer fällt, zu sagen, wofür sie stehen. Aber so ganz stimmt das auch wieder nicht: Vor 14 Jahren waren von den damals 15 Regierungen der Europäischen Union elf von Sozialdemokraten oder anderen demokratischen Linken geführt. Aber damals war die „linke Familie“ viel zerrissener. Die einen, die vom Briten Tony Blair und vom deutschen Gerhard Schröder angeführt wurden, verstanden sich als „Modernisierer“ und wollten allen sozialistischen Ballast abwerfen – sie favorisierten „flexible Arbeitsmärkte“ und hatten nichts gegen wachsende Einkommensungleichheiten, wenn die nur für eine brummende Konjunktur und Wachstum sorgen würden, während etwa die französischen Sozialdemokraten eher traditionsorientiert waren. Damals gab es kaum eine programmatische Gemeinsamkeit, die von allen Linksparteien unterschrieben worden wäre. Heute ist das anders: Dass die wachsenden Ungleichheiten bekämpft werden müssen, eine egalitärere Gesellschaft erstrebenswert ist, dass sparen allein keine Lösung ist, sondern in Wachstum investiert werden muss, dass die Löhne der normalen Arbeitnehmer in den starken EU-Staaten steigen müssen, aktivistische Wirtschaftspolitik wichtig ist und die Finanzmärkte stärker reguliert werden sollen – auf all das könnten sich heute Linkspolitiker aller Couleur ganz leicht einigen, von Francois Hollande bis zum deutschen Peer Steinbrück, von Ed Miliband bis Syriza-Chef Alexis Tsipras, von Werner Feymann bis zur Ex-Kommunistin Sahra Wagenknecht und dem deutschen Grünen-Chef Jürgen Trittin. Grundsätzlich und in der Sache sind die Differenzen heute viel geringer als noch vor zehn Jahren. Klar, die einen hätten es gerne etwas moderater, die anderen ein bisschen linker, aber die Differenz ist heute eher eine graduelle, keine prinzipielle und gegensätzliche. 
Und dennoch tun sich Europas Linke so schwer, eine überzeugende Alternative zu formulieren. Wie so oft ist dafür auch ein Übermaß an Taktiererei verantwortlich. Ein Beispiel ist der Fiskalpakt, der vor ein paar Monaten in Brüssel verabredet wurde und jetzt in allen Parlamenten ratifiziert werden muss. Im Grunde findet wohl kein Sozialdemokrat in Europa, dass das eine besonders gute Idee ist – war keynesianische Politik in Europa in den vergangenen Jahren weitgehend schlechtgeredet worden, so wird sie durch den Fiskalpakt buchstäblich gesetzlich verboten. Blöderweise hat in Österreich etwa Bundeskanzler Werner Feymann dem Pakt zugestimmt, also müssen ihn jetzt die SPÖ-Parlamentarier durchwinken  – wie stünde der Kanzler denn da, wenn man das jetzt ablehnt? Ähnlich taktierend zeigen sich etwa die deutsche Sozialdemokratie und auch die dortigen Grünen. 
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Sie wagen es nicht, allzu fundamentale Opposition gegen den Austeritätskurs von Angela Merkel zu fahren, weil sie meinen, dass der unter der deutschen Wählerschaft populär ist. „Für deutsche Sozialdemokraten und ihre europäischen Kollegen müsste die derzeitige Existenzkrise des Kapitalismus eigentlich ein Glücksfall sein. Man hätte erwarten können, dass sie die Euro-Krise als Zeichen des geistigen Bankrotts konservativer Regierungen darstellen“, schreibt Wolfgang Münchau – und der ist nicht irgendwer, sondern als ehemaliger Chefredakteur der „Financial Times Deutschlands“ wohl der einflussreichste Wirtschaftsjournalist Deutschlands. „Man könnte die Banker und andere Hochverdiener jetzt zum ersten Mal seit 20 Jahren so richtig besteuern; mit einiger Phantasie könnte man sogar eine gemeinsame Lohnpolitik vorschlagen, um geringe und mittlere Einkommen zu stabilisieren“. Aber, so Münchaus Resümee, der SPD „fehlt der Killerinstinkt.“ Aus Angst, die Wähler zu verschrecken, scheut sie davor zurück, sich allzu stark mit Frankreichs Francois Hollande zu verbünden. 
Noch immer laborieren die Sozialdemokraten an den Nachwehen jener Politik, die vor zehn Jahren mit Attributen wie „Neue Mitte“ und „Dritter Weg“ versehen worden war. „Wir sind in Teilen mitverantwortlich für die Deregulierung und Entfesselung der Finanzmärkte“, sagt Sigmar Gabriel, der deutsche SPD-Chef und mögliche Kanzlerkandidat seiner Partei, und fügt hinzu: „Wir haben aus den Fehlern gelernt“ (siehe Interview Seite ???) Was genau aber aus Geständnissen wie diesen folgen soll, darüber herrscht nicht recht Klarheit bei den sozialdemokratischen Frontleuten. Sie wissen, dass sie aufgrund dieser „Modernisierungspolitik“ an Glaubwürdigkeit verloren haben, und es deshalb nicht so total glaubhaft wirkt, wenn sie jetzt die „Exzesse der Kapitalismus“ anprangern würden. Und vor allem sind sie nicht sicher, wie viel genau sie vom Blairismus über Bord werfen sollen. Denn es war ja auch nicht alles falsch am Modernisierungskurs. 
Im Grunde wissen die Sozialdemokraten immer noch nicht, wohin sie sich nach dem „Dritten Weg“ hinorientieren sollen, meint Ralf Fücks, der Chef der grünen deutschen „Heinrich-Böll-Stiftung“. Sie sind in einem strategischen Dilemma, führt er am Beispiel der deutschen SPD aus: „Wenn sie ihre Anhänger mobilisieren und eine Regierungsmehrheit erkämpfen wollen, müssen sie auf Kampfbetrieb umschalten und eine schärfere Oppositionslinie gegen Frau Merkel und ihre Politik einschlagen. Aber wenn sie dabei zu links werden, werden sie die politische Mitte den Christdemokraten überlassen. In anderen Worten: wenn sie moderat, pragmatisch und konsensorientiert bleiben, werden sie sich schwerlich als grundsätzliche Alternative präsentieren können, aber wenn sie mit Polarisierung überziehen, werden sie die Wahlen wohl auch verlieren.“ Auch wenn man fragen kann, ob es diese imaginäre „politische Mitte“ überhaupt gibt, auf die alle starren wie das Kaninchen auf die Schlage, beschreibt das doch ganz gut das Dilemma, in dem auch andere Sozialdemokratien stecken.
Und mit ihnen stecken natürlich auch die anderen Linksparteien in diesem Dilemma, auch wenn ihnen das manchmal gar nicht wirklich auffällt. Denn ohne Sozialdemokraten sind auch die anderen Linksparteien zu ewiger Opposition verdammt. Das gilt letztlich sogar für Griechenland, wo Tsipras Linkssozialisten die Sozialdemokraten überholt haben, aber, wenn überhaupt, nur mit diesen regieren können. Überall anders gilt: Die Sozialdemokraten sind die stärkste Mitte-Links-Partei, aber längst nicht mehr die einzige. Fast überall gibt es „Grüne“, dazu noch traditionellere oder populistische Linksformationen wie etwa in Frankreich die „Parti de Gauche“ des SP-Dissidenten Jean-Luc Mélenchon, der bei den Präsidentschaftswahlen immerhin elf Prozent ergatterte. In Deutschland werden demnächst womöglich gleich vier „progressive“ Parteien im Bundestag sitzen – SPD, Grüne, Die Linke und die Piraten. Gerade sozialistische Linksparteien neigen leicht dazu, die Sozialdemokraten als Hauptfeind anzusehen, was es aber nicht gerade erleichtert, linke Regierungen zusammenzuschrauben – selbst dann, wenn es eine rechnerische Mehrheit gäbe. Spiegel-Online-Kolumnist Jakob Augstein schreibt deshalb etwas süffisant: „Die Überwindung dessen, was die Linken gerne die ‚herrschenden Verhältnisse‘ nennen, kann in Deutschland nur in ihrer Verbesserung liegen. Wer bei den Linken glaubt, das werde ohne die SPD gehen, sollte sich noch mal die Wahlergebnisse der vergangenen Jahre ansehen und zum Taschenrechner greifen.“
Hinzu kommen noch eine Handvoll andere Umstände, die die Sache kompliziert machen: Ihr Führungspersonal und ihr inneres Funktionieren macht die Sozialdemokraten kaum irgendwo besonders attraktiv, und viele Reformen, die angepackt werden müssten – wie eine gemeinsame europäische Fiskal- und Wirtschaftspolitik, eine Stärkung von EU-Kommission und EU-Parlament oder die Einführung von Eurobonds – setzen „mehr Europa“ voraus, was unter vielen sozialdemokratischen Wählern nicht eben besonders populär ist. „Es gibt da eine teilweise wirklich absurde Gemengelage“, sagt Daniel Cohn-Bendit. 
Zu allzu überbordender Euphorie besteht also wenig Anlass. Aber Pessimismus und Schlechtreden wäre auch nur der Rückfall in eine bekannte linke Krankheit. Cohn-Bendit: „Im kommenden Jahr wird sich zeigen, ob es Francois Hollande schafft, auch mit geschickter Diplomatie einen Kurswechsel in Europa anzustoßen.“ Womöglich gelingt es ja auch der deutschen SPD, ihre offene – und lähmende – Führungskrise zu überwinden und zu entscheiden, wer ihr nächster Kanzlerkandidat wird. Wenn dann auch noch die paar politischen Kernthemen, die heute unter den demokratischen Linksparteien im Grunde Konsens sind, selbstbewusster vertreten werden, und man nicht dauernd vor lauter Angst vor dem Wähler in Taktiererei verfällt – ja, vielleicht wird dann aus einem französischen Lüfterl ein „Wind of Change“. 
Aber bis dahin gibt es noch ein paar Meter zu gehen. 
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