Halbe und ganze Freiheit

Warum es bizarr ist, wenn sich Konservative und Wirtschaftsliberale als Champions der „Freiheit“ aufspielen.

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Ab heute sollte mein neues, kleines Büchlein in den Buchhandlungen liegen: „Halbe Freiheit. Warum Freiheit und Gleichheit zusammen gehören“. (Suhrkamp-Verlag, Berlin, 64 Seiten. 6,20.- Euro). Hier ein paar kleine Auszüge, die heute auf standard.at und vorgestern in der „tageszeitung“ erschienen sind. 
Zugegeben: Ganz neu ist das nicht, dass sich die Priester eines ökonomischen Fundamentalliberalismus als „Kraft der Freiheit“ grosstun und den Linken und Progressiven die Punze anhängen wollen, diese seien für Gängelung. Es war immer schon ein Standard konservativer Propaganda, zeitweise hatte er mehr Evidenzen auf seiner Seite, zeitweise wurde er auch als schrullig-weltfremde Ideologie-Phantasie mit Recht belächelt. In den letzten dreißig Jahren wurde der Chor jener aber zunehmend lauter, die meinen, dass „die Freiheit“ von Gleichheitsfanatikern bedroht sei. In jüngster Zeit wurde dieses Lied noch einen Dreh schriller: Deutschlands Neo-Bundespräsident Joachim Gauck singt hier mit, sein „Freiheits“-Büchlein führte wochenlang die „Sachbuch“-Bestsellerlisten an, und FAZ-Wirtschaftredakteur Rainer Hanz stimmt ein schwulstiges „Hoch auf die Freiheit“ an. 
Nun kann man sich da doch ein bisschen darüber wundern: Man hätte annehmen können, dass die Chorbrüder einer solchen ideologisch überladenen „Wirtschaftsfreiheit“ ein bisschen leiser treten, nachdem ja seit dem Beinahe-Kollaps der globalen Marktwirtschaft 2008 empirisch klar ist, wohin uns radikale Wirtschaftsfreiheit geführt hat. Schließlich haben die Anhänger der „ganz freien Marktwirtschaft“ die „real existierende Marktwirtschaft“ beinahe ruiniert. Aber Empirie hat Ideologen noch nie beeindruckt.
Warum also gerade jetzt? Nun, seit 2008 geben die Progressiven – im weitesten Sinn gesprochen: Politiker, Denker, Autoren, Aktivisten -, nicht mehr gar so klein bei. Sie wagen es auch zu sagen, dass die soziale Gerechtigkeit unter die Räder gekommen ist. Sie sprechen sogar wieder das Wort „Gleichheit“ aus. Mehr noch, sie untermauern mit viel empirischen Beweisen den Hinweis, dass mehr Gleichheit sowohl ökonomisch wie gesellschaftlich günstige Auswirkungen hätte. Sogar der IMF und die OECD sagen das schon. 


Es gibt also zumindest wieder eine Minivariante einer ideologischen Auseinandersetzung, also schwenken manche Konservative und neoliberale Stellungskrieger ihr „Freiheits“-Winkelement. 
Freilich haben es die Progressiven den Konservativen auch nicht eben schwer gemacht. Sie haben den Konservativen den Freiheitsbegriff überlassen, und sich ganz auf die Begriffe „Gerechtigkeit“ und „mehr Gleichheit“ kapriziert. Das ist natürlich eine Falle: Denn „Freiheit“ und „Gleichheit“ sind keine Antipoden, sondern Zwillinge. Freiheit unter den Bedingungen von Ungleichheit hat grob freiheitseinschränkende Wirkungen für jene, die weniger begütert sind, die weniger materielle und kulturelle Ressourcen haben. Das heißt dann: Viel Freiheit für die einen, wenig Freiheit für die anderen. 
Freiheit von Angst
Adelheid Popp, eine der frühesten Aktivistinnen der österreichischen Arbeiterbewegung, beschreibt in ihren Lebenserinnerungen, wie der Fabrikbesitzer sie einmal zu sich zitierte: »Eines Tages wurde ich in das Arbeitszimmer meines ›Herrn‹ beschieden. Herzklopfen hatte ich wohl, als ich, von den neugierigen Blicken meiner Kolleginnen gefolgt, dem Kontor zuschritt. Der Fabrikant erwartete mich mit der sozialdemokratischen Zeitung in der Hand. Unter einem Aufruf, für den Preßfonds zur Gründung einer sozialdemokratischen Frauenzeitung zu sammeln, stand auch mein Name! Er fragte mich, ob ich diese Zeitung kenne und ob ich den Aufruf unterschrieben habe. Auf meine bejahende Antwort sagte er ungefähr: ›Ich kann Ihnen keine Vorschriften machen, wie Sie Ihre freie Zeit verwenden wollen, um das eine bitte ich Sie aber: In meiner Fabrik unterlassen Sie jede Agitation für diese Zwecke.‹« 
Und an einer anderen Stelle beschreibt sie, wie sie ihre erste Rede vor einer größeren Menschenmenge hielt: » Ein unnennbares Glücksgefühl beseelte mich, ich kam mir vor, als hätte ich die Welt erobert.«  Die junge Arbeiterin Adelheid Popp hat sich für die sozialen Belange der Arbeiterinnen eingesetzt. Aber was sie in diesen Passagen beschreibt, sind Unfreiheits- bzw. Freiheitserfahrungen: das Verbot, im Betrieb den Mund aufzumachen, die Demütigung, vom Chef gemaßregelt zu werden, die Angst, die Stelle zu verlieren; und andererseits das Glücksgefühl, sich nichts anschaffen und sich auch nicht von der eigenen Angst einschüchtern zu lassen. 
Man könnte Hunderte solcher Exempel und Episoden anführen, und sie alle würden verdeutlichen: Natürlich waren progressive Bewegungen immer in erster Linie Freiheitsbewegungen. Es ist nicht zuletzt vor diesem Hintergrund regelrecht bizarr, dass sich heute die Konservativen und Neoliberalen als „Verteidiger der Freiheit“ aufspielen und den Linken das Etikett anpicken, sie wären für „Gängelung“. Und es ist nicht minder pervers, dass heute der Begriff der „Freiheit“ primär mit „Wirtschaftsfreiheit“ identifiziert wird. Freiheitsbedrohungen speisen sich heute aus Quellen, über die die konservativen und wirtschaftsliberalen Dampfplauderer schlicht nichts zu sagen haben. Sie kämpfen andauernd gegen abgenudelte Gespenster von gestern und gegen Probleme, die niemand hat. 
Materielle Privilegiertheit führt heute nicht nur dazu, dass die einen größere Freiheit haben, ihre Talente zu entwickeln und ein selbstbestimmtes Leben zu führen als die anderen, sie führt auch zu einem privilegierten Zugang zu Macht. Begüterte Lobbys können heute Gesetze kaufen und ihren Einfluss geltend machen, während die normalen Bürger das Gefühl haben, sie hätten keine Stimme und niemand würde auf sie hören. Nicht, dass dieses Publikum seiner Freiheit beraubt wäre. Alle vier Jahre darf es wählen. Es schleppt sich ohne viel Elan an die Urnen. 
Im Herbst 2011 setzte sich die deutsche Kanzlerin in die Berliner Bundespressekonferenz und beantwortete Journalistenfragen über die Eurorettungsprogramme und die Rechte des Parlaments. Im Zuge dieser Pressekonferenz passierte ihr ein beredter Lapsus, der beinahe untergegangen wäre. Man müsse Wege finden, sagte Angela Merkel, die parlamentarische Mitbestimmung so zu gestalten, »dass sie trotzdem marktkonform ist«.  Da war es raus: Das üble Wort von der »marktkonformen Demokratie«. Bürger können sich für manches stark machen, gewählte Parlamentarier für dieses und jenes votieren – aber Dinge, die die Märkte »beunruhigen«, ihr Misstrauen wecken oder gar »von den Märkten bestraft« würden, haben sie gefälligst zu unterlassen. 
Freiheitsrevolten gingen oft von gesellschaftlichen Nischen aus, etwa der Kunst oder den Universitäten. Künstler und Hippies haben sich im brachliegenden, billigen oder kostenlosen städtischen Raum eingenistet und hier neuen Lebensstilen zum Durchbruch verholfen, die sich bisweilen auch gegen den damals noch geltenden – freiheitseinschränkenden – Konformitätsdruck wandten. Der Wandel in der Arbeitswelt, beispielsweise der Aufstieg der »kreativen Klassen« und die »neue Selbstständigkeit« sind selbst Reaktionen auf diese Energien. Diese Befreiungsversuche hatten – selbst wenn sie sehr wohl auch emanzipatorische Wirkungen zeitigten -, im Endeffekt auch neue Formen der Knechtung zur Folge: Mit der Erosion des Normalarbeitsverhältnisses verbreiteten sich neue Zonen der Prekarität, mit der Individualisierung griff das »Recht des Stärkeren« wieder um sich. Und Kommerzialisierung zerstört Freiräume. Kurzum: Die Befreiungsversuche hatten neue Gefährdungen der Freiheit zur Folge. 
Würde man die in solch chronischer Unsicherheit arbeitenden Bürger (und nicht nur sie) fragen, wovon sie gerne »frei« wären, dann würden sie wohl spontan antworten: von Angst. Die Angst, heute zwar gerade noch so seinen Lebensunterhalt bestreiten, morgen aber womöglich die Miete nicht mehr bezahlen zu können, diese chronische Unsicherheit hat sich in die Mitte der Gesellschaft hineingefressen. De facto ist diese Angst heute womöglich die größte Bedrohung der Freiheit. 
Die Konservativen und Wirtschaftsliberalen haben zu all diesen Bedrohungen und all diesen realen Beschränkungen der Freiheit des Einzelnen nichts zu sagen, stilisieren sich aber dennoch als die großen Champions der Freiheit. Und die Progressiven haben ihnen den Begriff der Freiheit kampflos überlassen. Es ist an der Zeit, dass sie diesen Begriff zurückerobern. Die Progressiven sind die eigentlichen Kräfte der Freiheit, weil ihr Freiheitsbegriff umfassend ist. Sie sind nicht nur gegen obrigkeitlichen Zwang, gegen Zensur und für Meinungsfreiheit oder Konformitätsdruck. Sie haben auch ein waches Sensorium für die freiheitseinschränkenden Wirkungen grober materieller Ungleichheit, jener materiellen Ungleichheit, die Unterprivilegierten de facto ein selbstbestimmtes Leben versagt. 
Freiheit heißt, nicht kommandiert zu werden. Freiheit heißt, seine Stimme erheben zu können und gehört zu werden. Freiheit des Einzelnen heißt auch, dass jeder Einzelne gleich viel Wert ist. Freiheit heißt aber auch, nicht nur die theoretische Freiheit zu haben, sich auszuprobieren, sondern auch über die Ressourcen zu verfügen, die das praktisch ermöglichen. 
Es sind diese stetigen Versuche Einzelner oder von Gruppen, die der Freiheit etwas  Vibrierendes und auch Romantisches geben. Demokratische Freiheit heißt nicht zuletzt, dass man die Möglichkeit hat, den Dingen eine ganz andere Richtung zu geben, dass man immer aus dem Gewohnten, das sich als »Sachzwang« tarnt, ausbrechen kann. Freiheit ohne Freiheit von Angst ist halbe Freiheit. Freiheit ohne die Möglichkeit, sie auch zu leben, ist halbe Freiheit. 
Wir haben die halbe Freiheit verwirklicht. Das ist keine kleine Sache, und wir sollten sie nicht gering schätzen. Wir müssen aber die Mentalit

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