American Diaries Nr. 1: Warten auf Hurricane „Sandy“

Schon Stunden vor der Ankunft des Hurricane „Sandy“ steht die Stadt, die niemals schläft, praktisch still. Aber die Polit-Strategen überlegen bereits, ob das Desaster eher Präsident Barack Obama oder seinem Herausforderer Mitt Romney nützen könnte. 
Es ist ein Gehupe und Gedränge auf den Highways, dabei ist es Sonntag Abend, und die Strecke zwischen dem John-F.-Kennedy-Flughafen und Manhattan sollte normalerweise eigentlich frei sein. Aber im Augenblick ist gar nichts „normalerweise“ in New York. Eine Blechlawine schiebt sich über die Straßen. Hunderttausende sind auf der Flucht, weg von den küstennahen Gebieten, weg von Long Island, weg von Coney Island, rein ins Landesinnere. Unterkommen, irgendwo. Wer Verwandte hat, bei denen er unterkriechen kann, fährt zu denen. Wer reich genug ist, kann noch versuchen, eines der letzten Hotelzimmer in Manhattan zu ergattern. Wer nicht reich genug ist, kann es in einer der Schulen versuchen, die zu Notquartieren umfunktioniert werden. 
Gerade erst bin ich gelandet und schon in einem eigentümlichen Film. Eigentlich sieht das ja nur aus wie ein ganz normaler Verkehrsstau. Es sieht aus wie ein Verkehrsstau, es riecht wie ein Verkehrsstau – aber es ist kein Verkehrsstau. Es ist eine Karawane von Fliehenden, und ich bin mittendrin. Nur bin ich kein Fliehender. Die Fliehenden sind mir nur im Weg. Auf meinem Weg nach Manhattan. 
Der Hurrican „Sandy“, den die lauten Schrei-Radiostationen schon „Monstersturm“ oder „Frankensturm“ nennen, ist noch längst nicht da, da steht die Stadt schon still. Die „City, that Never Sleeps“ ist eine einzige Geisterstadt. Sonntag abend weht erst ein kleines Lüfterl, aber auf den Straßen ist kaum jemand. Kaum ein Restaurant hat geöffnet. Die Subway, ohne die in der Stadt ohnehin nichts funktioniert, hat ihren Betrieb eingestellt, da die U-Bahn-Tunnels wohl überschwemmt werden. Wer daheim ist, und nicht in einer der Gegenden wohnt, deren Evakuierung befohlen ist, bleibt daheim und stellt sich darauf ein, seine Wohnung in den nächsten 48 Stunden nicht zu verlassen. Der schlimmste Sturm seit 1938 soll es werden. Damals hat sogar das Empire State Building gewackelt. 
Ein Montagmorgenspaziergang durch das dunkle Manhattan ist spooky. Wo sich normalerweise Tausende durch die Straßen schieben auf dem Weg zur Arbeit – praktisch niemand. Würden nicht ein paar Taxis herumfahren, könnte man glauben, eine Neutronenbombe sei abgeworfen worden.

Der Verkäufer am Zeitungsstand hat seinen Laden aufgesperrt, aber leider keine Zeitungen zu verkaufen. Ein paar Lebensmittelgeschäfte haben geöffnet, in denen sich die Leute mit Vorräten eindecken. An jeder Ecke lungern Polizisten herum. Seit gestern ist offiziell der Ausnahmezustand verhängt. 
Am Times Square hat ein Computerladen Sandsäcke vor den Türen aufgetürmt. Dabei liegt der Platz in der Mitte von Manhattan, weitab von Hudson- und East-River und deutlich über dem Meeresspiegel. Überschwemmungsgefahr, hier? Da müsste schon ein Tsunami über die Stadt schwappen. 
Es ist eine Naturkatastrophe. Klar. Es ist die Natur, die den Menschen für diesen Tag, und wohl für die nächsten paar Tage sagt: Stopp. Daheim bleiben. Dichtmachen, die Büros. Das Geschäftemachen macht Pause. Sogar die Wall-Street hat den Handel ausgesetzt. Aber irgendwie wabert über dem allem auch eine Blase aus Politik. Die Frage steht im Raum: Was hat das alles mit der Politik zu tun, eine Woche vor der Präsidentschaftswahl?
Natürlich hat all das viel mit Politik zu tun. Dass der Ausnahmezustand schon verhängt wird, obwohl klar ist, dass noch 24 Stunden mindestens nichts passieren wird, hat mit Politik zu tun. Niemand will etwas falsch machen. Lieber ein bisschen zu vorsichtig sein, lieber ein paar hunderttausend Leute zu viel evakuieren, als fünftausend zu wenig. Diese Maxime steht hinter all den eindringlichen Warnungen und den strengen Ukas von Bürgermeister Michael Bloomberg und Gouverneur Andrew Cuomo. 
Aber der Sturm hat noch eine andere politische Seite. Schon wird gefragt: Wie wirkt sich all das auf die Präsidentschaftswahl aus? 
Denn es ist gerade noch einmal acht Tage bis zur Wahl und Präsident Barack Obama und sein Herausforderer Mitt Romney liefern sich ein Kopf-an-Kopf-Rennen. In den Umfragen sind sie gleichauf, es scheint sogar so, dass Romney die Nase ein wenig vorne hat. Aber auch das hat ja nicht so viel zu bedeuten, denn entscheidend ist ja, wer die meisten Wahlmänner auf sich vereinigt. Und es ist diesmal sogar gut möglich, dass Romney die Mehrheit der Wählerstimmen erhält, Obama dennoch die Mehrheit der Wahlmännerstimmen. Jedenfalls ist das Rennen so knapp, dass jede Seite nervös darauf bedacht ist, nur ja keinen Fehler zu machen. In einer solchen Situation haben Politiker gerne alle Zügel in der Hand, sie wollen alles unter Kontrolle behalten, und nichts hassen sie mehr, als plötzlich mit etwas Unvorhersehbarem konfrontiert zu sein. Und dann bricht in so einem Augenblick ein Naturdesaster ein – gewissermaßen das „Unvorhersehbare an sich“. 
Grundsätzlich sind solche Katastrophen wohl für den Amtsinhaber, wer immer das ist, vom Vorteil. Er kann sich als Notfall-Helfer, als Katastrophenmanager präsentieren, als der, der die Hilfsmaßnahmen koordiniert – der Herausforderer dagegen kann nicht viel mehr tun, als in Gummistiefeln vor den Kameras herumstapfen. Es klingt zwar absurd, aber genau diese Überlegungen stellen gerade alle Polit-Experten an, und man darf darauf wetten, dass sie auch in den Taktik-Zirkeln der Kandidaten darüber grübeln. Andererseits hat der Amtsinhaber auch am meisten zu verlieren. Läuft irgendetwas extrem schief, dann wird man in ihm den (Mit-)Schuldigen sehen. 
Gibt es schwere Verwüstungen an der Ostküste, könnte auch die Wahlbeteiligung leiden. Denn wessen Haus gerade vom Hurricane weggeweht wurde, oder wer von zu Hause fliehen musste, der wird wohl nicht zur Wahl gehen. Eine niedrige Wahlbeteiligung nützt wohl eher den Republikanern, warnen schon die Spin-Doctoren aus dem Obama-Lager. Alle beugen sich jetzt über die Landkarten und überlegen, welche Swing-Staaten aufgrund einer möglichen Katastrophe in die eine oder andere Richtung kippen könnten. North Carolina, möglicherweise. Wenn es arg kommt, auch Pennsylvania, obwohl es nicht direkt an der Küste liegt. 
Für wen solche Überlegungen zynisch klingen: So ist es nun einmal in der Politik, sieben Tage vor einem Wahlgang, dessen Ausgang für die nächsten Jahre über das Geschick der Welt bestimmt, aber dessen Ausgang wiederum von einem Sturm beeinflusst wird, von dem wir vor ein paar Tage noch nicht wussten, dass es ihn geben wird. Hier ist es jetzt Montag, Mittag Ortszeit, und draußen ist noch immer nichts zu sehen vom Sturm, aber das, dass er irgendwo da draußen ist, aber sich noch nicht zeigt, das macht ihn nur noch unheimlicher. 

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