American Diaries Nr. 2: Der Sturm tanzte über der Stadt und trat ihr auf die Finger

Die Ruhe vor dem Sturm ist nichts gegen die Ruhe nach dem Sturm. Es ist ein bizarres Bild, das Downtown Manhattan am Dienstag morgen bietet: Alles was südlich der 34. Straße liegt, Chelsea, Greenwich-Village, das Bobo-Viertel Tribeca, und der Finanzdistrikt ganz im Süden, ist eine eigentümliche Katastrophenzone. Man kommt praktisch nur zu Fuß voran, überall flattern die gelben Bänder herum, wie man sie aus den Krimis kennt: „Crime Zone“. Keine Durchfahrt. Kein Strom, das Funktelefonnetz ist ohnehin down. Es hängt eine seltsame Stille über der Szenerie, die diese Stadt sonst nicht kennt. Weg ist der ewige Lärm der Klimaanlagen, die normalerweise in den New Yorker Himmel röhren. Ein paar Spaziergänger schlendern durch die Avenuen und Seitenstraßen. Höchstens brummt irgendwo einmal ein Notstromaggregat, hin und wieder fährt ein Polizei- oder Feuerwehrauto mit eingeschalteter Sirene durch die Stille. 
Auf der 5th Avenue, einer der teuersten Einkaufsstraßen der Welt, liegen Holzlatten und Eisenstreben zu einem pittoresken Riesenmikado aufgetürmt. Schwer zu sagen, was das einmal war, bevor hier Hurricane „Sandy“ durchwehte und die Flutwelle vom Meer her hochdrückte. Wohl am ehesten ein Baugerüst. Überall liegt Müll verstreut, geknickte Bäume liegen auf der Fahrbahn, Äste und Zeug. Auf der Houston Street türmt ein Bagger gerade Bäume am Straßenrand auf. Vor den Banken und Investmenthäusern haben sie richtig schöne Burgen mit Sandsäcken gebaut. Viel geholfen hat das nicht. In den U-Bahnstationen steht immer noch das Wasser, in den Autotunnels, die Manhattan mit den anderen Stadtteilen verbindet, steht es bis knapp unter die Decke. In dem Moment ist es schwer vorstellbar, dass hier demnächst wieder so etwas wie Normalbetrieb einzieht. 
Alle beugen sich über ihre Handys und hacken auf ihr Display ein. Ein ziemlich nutzloses Unterfangen. Das Mobilfunktnetz funktioniert nicht. 
Aber über der gesamten Szenerie hängt eine Atmosphäre lässiger Gemütlichkeit. Die Leute schlendern gelassen durch ihre Viertel und begutachten, was „Sandy“ angerichtet hat. Eilig hat es heute keiner. Fast ist es so, als hätte der Hurricane die Leute dazu gezwungen, es einmal einfach ruhig anzugehen. 
Nur ganz im Süden, am Battery Park, wo Hudson und East River aneinandertreffen und die Stadt den Gezeiten ausgesetzt ist, peitschen die Wogen noch immer ans Pier. Hin und wieder schwappt eine Welle an Land. Vor ein paar Stunden stand hier alles noch vier Meter unter Wasser. 
Manhattan ist in diesem Moment zweitgeteilt. Unterhalb der 34. Straße ist Ausnahmezustand. Notstand. Das Leben steht still. Oberhalb der 34. Straße ist fast alles einigermaßen normal. Wer die Nacht nördlich dieser Linie verbrachte, war auf der sicheren Seite. Wer sie südlich der Linie verbrachte, war in einer anderen Welt. 

Es ist irgendwie fast so, wie wenn in Bangladesh Katastrophe ist, und wir in Wien vor dem Fernseher sitzen. Dann wissen wir, irgendwo geht es Leuten gerade sehr übel, aber wir sind weit weg, haben damit nichts zu tun. So ähnlich war das in dieser Nacht auch in New York, bloß dass Normalzone und Katastrophenzone nur durch drei, vier Wohnblocks getrennt waren. 
Knapp vor Mitternacht Ortszeit schlug der Wirbelsturm über der Stadt ein. Es war ein beeindruckendes Schauspiel, die Windböen über den Wolkenkratzern. Der Sturm tanzte über der Stadt und trat ihr gelegentlich auf die Finger. 
Und dann kamen die Nachrichten: Das Village unter Wasser. Fast fünf Meter hoch war die Welle, die Wind und Gezeiten hochdrückten. Ein Umspannwerk explodierte. In Chelsea brach einfach eine Fassade von einem Block und ließ ihn aussehen wie ein überdimensioniertes Puppenhaus. Die ersten Meldungen von Toten. Freunde, die auf Facebook schrieben, sie säßen bei Kerzenlicht in ihren Wohnungen, während die Bäume an den Fenstern vorbei flogen. Andere berichteten, in der Lobby ihres Hauses schießt das Wasser wie durch einen Wasserfall. 
Im Austrian Cultural Forum, Ecke 52nd Street und 5th Avenue, wo ich die Nacht verbrachte, hatten wir ein Spontankonzert organisiert. Die Freunde vom Hugo-Wolff-Quartett, die in der Stadt gestrandet waren, weil sie es nicht mehr heraus schafften, spielten Brahms und Heydn. Ein paar Unentwegte kamen vom Village hoch, Andres, ein Autor aus Venezuela, von um die Ecke. Es blies ein bisschen der Wind, aber das war es schon. Später kam noch der Regisseur Markus Kupferblum, dem es im Süden zu mulmig wurde, allein in der Wohnung in der Dunkelheit. Von hier oben sah es so aus, als wäre die Stadt noch irgendwie glimpflich davon gekommen. Erst als die Nachrichten eintrafen, in zwei Atomkraftwerken gäbe es Probleme und Alarm, wurde die Stimmung etwas angespannter. 
Das Eigentümliche ist, dass die Stadt, die eine Medienstadt ist wie kaum eine andere, jetzt auch voll von Gerüchten ist. In Queens brenne es, berichtet jemand. Viel mehr Tote als gemeldet gäbe es in Brooklyn, erzählt eine Frau. Noch ein Sturm ist im Anzug, weiß eine andere. Jeder weiß irgendetwas. Jeder hat erschreckende oder auch nur amüsante Nachrichten per SMS bekommen. Überprüfen lässt sich wenig. 
Jetzt ist es Midtown in Manhattan, und durch das Fenster kommen erstmals seit Tagen ein paar Sonnenstrahlen. Es ist, als würde das Wetter sagen, es habe all das doch gar nicht so böse gemeint. War ja nur ein Spiel. Durch den Liftschacht hört man das Geigespiel der Musiker, die spielen, damit die Zeit vergeht. 

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