Darf man „türkenfrei“ sagen?

Ein Nachtrag zur Fliege-Debatte. Gegenblende, 5. März 2013
Es wird gerade wieder hyperventiliert. Hat er das wirklich gesagt? Ja, er hat es gesagt! Das ist doch rassistisch! Das klingt ja wie das „judenfrei“ der Nazis! Da muss er sich aber sofort entschuldigen! Und natürlich, der Delinquent entschuldigt sich stante pede.
Was war geschehen? Pfarrer Fliege war bei einer dieser unzähligen Talk-Shows wegen des Papst-Rücktritts zu Gast, bei denen es unvermeidlich ist, dass irgendjemand irgendwann einmal eine schwulstige Suada über die Schönheit der Tradition, den Zauber des Spirituellen und ähnliches anstimmt. Eigentlich hätte das ja durchaus auch der Part des Pfarrers Fliege sein können. Aber in der Show hatte den Part der noch pfäffisch-ranzigere Matthias Mattusek übernommen, der anhob, daherzuschwadronieren, wegen des Geheimnis des Glaubens und dem Zauber des Ritus wären kirchliche Privatschulen und Privatkindergärten so beliebt. 
In dem Moment plärrte ihm Fliege ins Wort, die seien doch schlicht und einfach deshalb bei manchen Leute so beliebt, „weil die katholische Kirche türkenfrei ist.“

Und sofort stimmte das Empörungsgeschrei an und eine bizarre Hermeneutik. Wie habe der das denn gemeint? Preist der die kirchlichen Institutionen dafür an, dass sie „türkenfrei“ sind? Oder sprach er „wertfrei“, aber unter Gebrauch eines Wortes, das er zu vermeiden verpflichtet wäre? Ist Fliege gar ein verkappter Nazi, weil er die gleichen Begriffe benutzt wie die NPD-Dolme? 
Wie absurd ist das eigentlich? „Wertfrei“ war die Aussage allerhöchstens in dem Sinn, als Fliege eine Tatsache zum Ausdruck brachte, ohne sie weiter zu kommentieren. Aber kann irgendjemand ernsthaft glauben, Fliege fände daran irgendetwas Positives? Oder an der „türkenfreiheit“ einer Institution irgendetwas Lobenswertes? 
Nein, Fliege hat einfach einen Sachverhalt auf die brutalstmögliche Weise auf den Punkt gebracht: Mittel- und Oberschichtseltern geben ihre Kinder gerne auf Schulen, auf die keine Türken, keine Prolls, keine Kinder mit Sprachschwierigkeiten gehen. Oder zumindest so wenige wie möglich. Sie ziehen dafür schon mal in einen anderen Stadtteil. Sie zahlen, wenn sie es sich leisten können, Geld für Privatschulen. Und auf kirchlichen Privatschulen kriegt man das ganze einigermaßen billig oder ganz gratis, weil man davon ausgehen kann, dass vielleicht nicht ganz so viele Muslime ihre Kinder auf Christenschulen geben. Let’s Face it, das sind die Beweggründe. 
Oft ist nicht einmal lupenreiner Rassismus ein Beweggrund, sondern Dünkel, Distinktionsbedürfnis und panische Sorge um das schulische Fortkommen der eigenen Kleinen. Man kann es ja sogar ein bisschen verstehen. Es gibt ja sogar türkischstämmige Familien aus der gehobenen Mittelschicht, die selbst ihre Kinder auf kirchliche Privatschulen geben – und aus exakt dem selben Grund. Weil sie nicht möchten, dass die eigenen Kinder von Unterschichtsrabauken am Lernerfolg gehindert werden, so dass sie dafür sogar den katholischen Klimbim zu Ostern und Weihnachten in Kauf nehmen. Oft ist es ja sogar so, dass, je fragiler der eigene Aufstieg noch ist, umso mehr auf Abgrenzung geachtet wird. Im Grunde geht es bei all dem eher um eine Klassensegregation und die (Selbst-)Abkapselung von Milieus, die ethnisiert wird, weil eben Armut und die damit verbundene Chancenlosigkeit eine stark ethnische Komponente hat. 
All das hat Fliege in diesem Satz gesagt, indem er den maximal schonungslosen Begriff benutzt hat. 
Hätte er sich das sparen sollen? Man kann das so sehen. Man kann der Meinung sein, er hätte das auch auf andere, korrektere Weise sagen können. Er hätte eben sagen können, dass Familien kirchliche Privatschulen wählen, weil sie davon ausgehen, dass dort weniger Kinder aus bildungsfernen Schichten und weniger Kinder mit Migrationshintergrund die Schulbank drücken. Er hätte es, kurzum, in der sicheren, formelhaften Sprache sagen können, die den Vorteil hat, dass sie niemanden aufregt, und den Nachteil, dass sie bei einem Ohr hinein und beim anderen hinaus geht, weil sie unschöne Tatsachen in weichgespülte Worte packt. 
Aber er hat „türkenfrei“ gesagt. Er hat Klartext gesprochen. Nun wäre das natürlich selbst ein wenig unpräzise: Klartext ist das Wort „türkenfrei“ zweifellos, aber auch das Wort „Migrationshintergrund“ ist klar. Das, was er gesagt hat, hat durch die Wortwahl in einem begrifflichen Sinn ja nicht an Klarheit gewonnen. Klartext ist die Formulierung eher in einem anderen Sinn: Sie hat den Schleier und Vorhang vor der emotionalen Seite der Motive weggerissen, die hinter der Schulwahl der Eltern liegt. Die unverfängliche, weichgespülte Sprache erlaubt auch, Dinge vor sich selbst zu rechtfertigen, die man eigentlich nicht legitimieren wollen würde. Grundsätzlich liberale Eltern, die so handeln, können schon leise in sich hineinmurmeln, sie würden das eben zum Wohl ihre Kinder tun, und dass nun einmal eine Klasse mit vielen Kindern, die schlecht deutsch können und aus Neuköllner Hartz-IV-Haushalten stammen, möglicherweise einen schlechten Einfluss auf den Schulerfolg, ja auch auf das Schulklima und damit auf das Lebensglück der Kinder haben. Aber sie würden sich nie und nimmer sagen, sie geben ihre Kinder auf diese Schulen, weil sie „türkenfrei“ sind. Das würden sie sich so nicht eingestehen. Nein, so könne man das auch nicht sagen, würden sie sich, wenn es zu diesem gemurmelten Selbstgespräch käme, einwenden. Kurzum: Fliege hat den Sachverhalt formuliert, ohne ihn mit süßlichem Streuselzucker zu dekorieren. Er hat den Schleier von Selbstbetrug weggerissen. 
Hermeneutisches Verstehen ist etwas, was eigentlich jeder und jede kann: Einen Satz auch danach zu beurteilen, wer spricht, in welchem Zusammenhang – also so etwas wie ein spontanes Verständnis des Kontextes. Wären wir dazu so unfähig, wie die Skandal-Schreier in diesem Fall glauben machen, wir könnten uns schlechterdings unseren Mitmenschen nicht mitteilen – und sie auch nicht verstehen. „Türkenfrei“ ist in diesem Kontext eben nicht nur die wertfreie Beschreibung eines Sachverhaltes ohne Kommentar; „türkenfrei“ ist schon der Kommentar, der implizit aussagt, dass der, der da spricht, und von dem wir, während er spricht, ein Wissen haben, das seinem Sprechakt vorgängig ist, das beschriebene Verhalten mindestens moralisch fragwürdig, wenn nicht niederträchtig findet. Wer vorgibt, das nicht zu begreifen, muss sich fragen lassen, wie er oder sie in der Lage ist, im Alltag auch nur ein Gespräch zu führen, ohne ständig von Missverständnissen aus der Bahn geworfen zu werden.
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