Ist unsere Politik noch zu retten?

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Gerade kam es druckfrisch aus dem Verlag: Mein neues Buch „Ist unsere Politik noch zu retten? – Auswege aus der Wutbürger-Sackgasse“. Es ist im Wiener Picus-Verlag erschienen, und es handelt sich wieder (wie schon bei meinem Buch „Erklär mir die Finanzkrise“) um die in Druckfassung gebrachten Vorlesungen, die ich im Frühjahr in der Volkshochschule Ottakring hielt. Mehr dazu, auch einen Bestell-Link, finden Sie hier
Und hier mal zum Aufwärmen ein paar Takte Ausschnitte aus dem Schlusskapitel, das den Titel trägt: 
Müssen nur wollen!
Eine progressive Reformbewegung für das 21. Jahrhundert
Warum ist es so schwierig, sich heute für progressive Reformen einzusetzen? Ja, warum ist es schier unmöglich, sich heute überhaupt vorzustellen, dass das etwas realistisch mögliches wäre? 
Jetzt kann man es sich natürlich leicht machen, und sagen: Es ist deshalb unmöglich, weil die Neoliberalen und Neokonservativen die Hegemonie errungen haben, und weil sie ihren Turbokapitalismus etabliert haben; oder weil die Politiker und Politikerinnen auf der progressiven Seite einfach nicht das Format haben, eine solche Reformpolitik zu skizzieren, zu verfolgen, und die Bürger dafür zu gewinnen. 
Kurzum: Irgendwer ist schuld. Wir sind es nicht. Wie Sie wissen, glaube ich, dass es nicht so einfach ist. 
Fragen wir uns also einmal: Warum war progressive Reformpolitik von Beginn des 20. Jahrhunderts an so erfolgreich? Dafür sind im Grunde vor allem fünf Phänomene verantwortlich gewesen: 
Erstens gab es relativ homogene soziale Milieus, die kompakt genug waren, sich gemeinsam dafür einzusetzen, grob gesagt: die Arbeiterbewegung aus Arbeiterparteien, Gewerkschaften und mit ihnen verbundenen Vereinen und Bewegungen. 
Zweitens waren die in dieser Arbeitbewegung engagierten politischen Akteure von einem zukunftsfröhlichen Optimismus beseelt, sie waren intuitiv davon überzeugt, dass es einen Fortschritt in der Geschichte gibt, dass die Geschichte auf ihre Seite ist, dass es sogar so etwas wie eine „historische Notwendigkeit“ gäbe, die von „rückschrittlicheren“ zu „fortschrittlicheren“ gesellschaftlichen Formationen führe. Kurzum: Diese Akteure spürten den Wind der Geschichte in ihrem Rücken. 
Drittens waren vor allem die frühen Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts geprägt von der Revolutionsangst, der Aufstandsangst der herrschenden Klassen. Man kann beinahe formulieren: Die Annahme, dass revolutionäre Aufstände der Unterprivilegierten kommen werden, war Konsens. Angesichts dieser verbreiteten Aufstandsangst fuhren die herrschenden Eliten im wesentlichen mit zwei Strategien: Die einen setzten auf eine reaktionäre Verschärfung, auf autoritäre Herrschaft, um mögliche Aufstände im Keim zu ersticken und sie im Notfall mit brutaler Gewalt niederschlagen zu können, die anderen setzten auf soziale Reformen, um den Zorn der Unterprivilegierten zu besänftigen. 
Viertens gab es, insbesondere nach dem Zweiten Weltkrieg, das, was der französische Sozialforscher Pierre Rosanvallon in seinem Buch „Die Gesellschaft der Gleichen“ mit dem Begriff von der Gewissheit einer „sozialen Schuld“ beschrieben hat: In Deutschland, Österreich und den anderen postfaschistischen Ländern fühlten die ökonomischen Eliten eine Mitschuld am Aufstieg des Faschismus; in den Siegermächten des Zweiten Weltkrieges wiederum ließ sich nicht leugnen, dass die einfachen Leute die Hauptlast des Krieges getragen haben – es waren normale Arbeiter, Bauern, kleine Leute, die im Krieg als Soldaten gekämpft haben. Auch das wirkte gewissermaßen als sozialer Kitt. 
Und fünftens war die Erinnerung an die fürchterliche Große Depression der dreißiger Jahre noch frisch, und damit das Bewusstsein, welche Katastrophen ungezügelte Märkte anrichten können, wenn der Staat nicht entschlossen ins Wirtschaftsgeschehen eingreift. 

Keine dieser fünf Umstände ist heute noch vorhanden. Deshalb greift es auch zu kurz, den Politikern alleine die Schuld zu geben. Sie stehen gewissermaßen vor dem Problem, unter Absenz dieser Bedingungen progressive Politik machen zu müssen. Ist aber angesichts dessen progressive Reformpolitik, die ambitioniert ist, unmöglich? 
Nein, ich glaube es nicht. Aber wir müssen die Lektionen lernen. Wir müssen begreifen, inwiefern die Absenz dieser fünf Bedingungen die Umstände ändert, und wir müssen aus den Erfahrungen der vergangenen dreißig Jahren lernen. Denn ein paar haben wir ja. Positive. Halb Positive. Und Negative. 
Ich will hier neun Probleme und neun Lehren kurz skizzieren: 
1.) Soziale Vielfalt statt kompakte Homogenität
Heute können sich progressive Reformbewegungen ganz offensichtlich auf keine klar umgrenzten sozialen Milieus mehr stützen, wie es früher einmal beispielsweise die Arbeiterklasse war, die manche schon ihrer schieren Masse wegen und ihrer relativ klaren gemeinsamen Interessenslage zum „revolutionären Subjekt“ stilisierten. Natürlich war diese Arbeiterklasse nicht völlig homogen und unterschiedliche Interessenslagen wurden oft auch hinter einem vereinheitlichenden Wortschleier verborgen, aber es gab doch breite Gesellschaftsschichten, deren Angehörige sich in einem eminenten Sinn „ähnlich“ waren. Das hatte durchaus seine positiven, aber natürlich auch seine negativen Seiten: Die Kehrseite dieser Ähnlichkeit war ein Konformitätsdruck, gegen den ja gerade seit den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts eine junge Generation zu revoltieren begann. Die positive Seite dieser „Ähnlichkeit“ war aber natürlich, dass man den Anderen, den Nachbarn als „meinesgleichen“ ansah. Das führte zu so etwas wie einer „instinktiven Solidarität“, die eigentlich fast voraussetzungslos ist, nicht extra begründet werden muss. Ähnlichkeit führt zu Empathie, während Differenz auch eine Hürde für Empathie sein kann – wer ostentativ anders ist, als man selbst, den versteht man nicht instinktiv, wenn er Probleme hat, stachelt das nicht notwendigerweise unsere Empathie an, sondern wir neigen dann vielleicht eher dazu, seine Probleme mit seiner Andersheit zu begründen. 
Heute sind unsere Gesellschaften vielfältiger und heterogener geworden, es gibt eine Vielzahl an Interessen und unterschiedlichen Lebensstilen, soziale Milieus haben sich ausdifferenziert; Individualismus ist ein hoher Wert; auch ethnisch sind unsere Gesellschaften viel diverser. Progressive Reformbewegungen können hinter den „Individualismus“ und die „Diversität“, die wir erreicht haben, nicht mehr zurück – und sie sollen es auch gar nicht wollen. Schließlich waren es ja insbesondere die Progressiven, die neben dem kollektiven Wert der Solidarität auch immer die Freiheit der Einzelnen, ihr Leben nach ihren eigenen Präferenzen zu gestalten, hoch gehalten haben. Bloß sollen wir auch nicht übersehen, dass dieser Individualismus, diese Diversität und Heterogenität es auch erschweren, den Anderen als einem „Ähnlichen“ zu begegnen, sodass die „instinktive Solidarität“ erodiert. Auch gemeinsame „Interessen“ lassen sich oft nur mehr mit rhetorischen Kunstgriffen behaupten, da die Vielzahl an Lebensstilen, Lebenslagen und -Entwürfen ja auch eine Vielzahl unterschiedlicher Interessen gebiert. Das „gemeinsame Interesse“ an einem funktionstüchtigen und solidarischen Gemeinwesen, das allen gleiche Chancen und ein menschenwürdiges Auskommen garantiert, etabliert sich damit eher auf einer Metaebene – aufgrund der Einsicht, dass wir alle etwas davon haben, wenn die sozialen Differenzen nicht so groß werden, dass die gesellschaftlichen Bande zerreißen. 
2.) Maximalismus versus Realismus
Ein Politiker wie etwa Bruno Kreisky war noch in einer Situation, in der seine Partei mit absoluter Mehrheit regierte. Das politische System als ganzes war weniger aufgefächert. Gewiss hieß auch damals absolute Mehrheit nicht absolute Macht. In einem System mit Checks and Balances und starken Interessensvertretungen, angesichts der Notwendigkeit, oft auch Konsens vor Konflikt zu stellen, waren Regierende mit vielfältigen Widerständen konfrontiert und de fakto in so etwas wie unausgesprochenen Koalitionsregierungen. Es wäre also sehr versimpelt und ein sehr rosiges Bild, würde man sagen, dass damals alles viel einfacher war. Aber heute ist es so: Progressive Parteien, dort wo sie an die Regierung kommen, haben selten mehr als 30 Prozent der Stimmen. Meistens gibt es auch noch mehrere progressive Parteien, die gegeneinander konkurrieren. Man braucht Koalitionspartner, mit denen man sich auf viele Kompromisse einigen muss. Man muss die Obstruktion der Gegner gewärtigen. Oft kommt man nur millimeterweise voran. 
Hinzu kommen bei uns in Europa noch die Verkomplizierungen durch das Regieren in einem zunehmend integrierten Mehrebenensystem aus Bundesländern, nationalen Regierungen und Europäischer Union. In diesem vielfach interdependenten System, gibt es für jeden, der versucht, etwas durchzusetzen, einen anderen, der entschlossen ist, ihn zu blockieren, und der auch die Möglichkeiten hat, ihn zu blockieren. 
Aber was heißt das nun exakt? Heißt das, dass unsere Gesellschaften letztendlich zunehmend unregierbar werden? Manche politischen Beobachter sehen das so. Aber wie auch immer, eines heißt es ganz gewiss: Progressive Politik muss mit dem Umstand zurande kommen, dass sie, selbst im optimalen Fall nicht alles realisieren kann. 
Auf diese Tatsache wird üblicherweise von den Akteuren der demokratischen Linken auf unterschiedliche Weise reagiert, die sich grob folgendermaßen charakterisieren lassen: Variante eins ist die Reduktion der Erwartungen auf das geringstmögliche Niveau, das sich-fügen in den Umstand, dass mehr als die Verwaltung der Krise plus ein paar Reförmchen gar nicht möglich sein wird. Variante zwei ist ein großmäuliger Maximalismus, der so tut, als wären die objektiven Hürden für progressives Regieren überhaupt nicht vorhandnen, im stillen Vertrauen darauf, dass der Beweis ohnehin nicht angetreten werden muss. 
Ich erinnere mich mit einem gewissen Amüsement an die fünf Zeilen, mit denen ich bereits vor fünfzehn Jahren mein Buch „Mythos Weltmarkt“ beendete. Ich schrieb damals: Es ist Mode geworden, dass Politiker, die sich im Wahlkampf als ehrliche Haut empfehlen wollen, ihre Plakate mit einem eindringlichen Slogan schmücken: „Wir versprechen nichts, was wir nicht halten können.“ Es könnte sein, dass genau das ihr – und unser – Problem ist. Damals hatte dieser Wind des Minimalismus, der es als Ehrlichkeit ansah, überhaupt keine Ziele mehr zu verfolgen, gerade erst zu wehen begonnen. Der Maximalismus, der die schönsten Dinge fordert und über die besten Gesellschaften phantasiert, ohne sich aber einen Deut darum zu kümmern, wie man realistisch dahin kommt, ist aber um nichts besser.  
Beide Varianten, die Entpolitisierung im Zeichen der Professionalität und der großmäulige Maximalismus, sind Sackgassen. Progressive Politik muss die Chancen sehen und beim Schopf packen, gleichzeitig aber den Umstand, dass man nicht alles realisieren kann, selbst thematisieren. Was genau darunter verstanden werden könnte, darauf werde ich im Folgenden noch zurück kommen. 
3.) Das Verhältnis von Regierungen und Bewegungen
Es ist gerade dieses Spannungsfeld zwischen Minimalismus und Maximalismus, in dem sich das Verhältnis von progressiven Regierungen und zivilgesellschaftlichen Akteuren, Graswurzelbewegungen und Basisaktivisten entfaltet. Denn eines ist ja klar: Progressive Reformpolitik wird nie von Kabinetten, Ministern, Regierungspart
eien allein durchgesetzt werden können. Selbst für die besten, wohlmeinendsten und idealistischsten Politiker gilt schließlich: auf sich alleine gestellt können sie nur scheitern. Sie brauchen den Elan und den Schwung progressiver Bewegungen im Rücken, und zwar gerade wegen der vielfältigen Schwierigkeiten und den Widerständen, denen sich progressive Reformpolitik gegenüber sieht. 
Das Verhältnis von Bewegungen und progressiven Regierungen ist dabei durchaus ambivalent. Angesichts der Schwierigkeiten – und manchmal auch des Unvermögens und der mangelnden Entschlossenheit zu mutigen Reformen – sind zivilgesellschaftliche und Bewegungsakteure sehr schnell von „ihren“ Regierungen enttäuscht. Die Folge ist die altbekannte Spirale aus geweckten und enttäuschten Hoffnungen und beiderseitiger Verbitterung. 
Denn die Verbitterung ist, übersehen wir das nicht, sehr oft und sehr schnell durchaus auf beiden Seiten anzutreffen: 
Bewegungsakteure, Basisaktivsten oder kritische Beobachter sind enttäuscht von der Unfähigkeit und der Unentschlossenheit der Mitte-Links-Regierungen, manchmal auch von ihrer Mutlosigkeit und ihrer Bereitschaft, vor dem neoliberalen Zeitgeist in die Knie zu gehen. 
Progressive Parteien wiederum finden schnell, sobald sie die Regierung stellen, dass Bewegungen, Basisaktivisten und sonstige Kritiker mit ihren „nervtötenden Mäkeleien“ routiniertes Regieren stören. Die Kritik jener, die finden, alles ginge zu zaghaft, nicht in die richtige Richtung, nicht entschlossen genug, kurzum: derer, die sich sehr schnell enttäuscht zeigen, führt wieder beim Personal der Regierungsparteien zu Frustration und Gereiztheit. Man betrachtet die Basis eher als eine Ansammlung von Querulanten denn als Verbündete. 
Vielleicht erinnern Sie sich an den legendären Wutausbruch von Barack Obamas seinerzeitigen Pressesprecher, der vor der versammelter Journalistencrew in Washington klagte, die Linken seien „Berufsnörgler“. 
Das erinnerte übrigens ein wenig an den patscherten Satz des seinerzeitigen österreichischen Bundeskanzlers Alfred Gusenbauer, der, bevor er sich auf die Reise zu einer möglicherweise renitenten Parteibasis-Veranstaltung machte, die Frage klären wollte, ob da denn das „übliche Gesudere“ zu erwarten sei. 
Daher müsste das Verhältnis von progressiven Parteien, besonders, wenn sie die Regierung stellen, und linken Basisbewegungen, Gewerkschaften und Aktivistengruppen neu justiert werden. Gerade unter den Bedingungen widriger Umstände und des Widerstandes von Lobbys und gut vernetzten Eliten auf der einen Seite, angespannten Haushaltlagen auf der anderen Seite, müssen progressive Parteien selbst deutlich machen, dass es ein Spannungsverhältnis zwischen dem gibt, was sie wollen, und dem, was kurz- und mittelfristig realisierbar ist. Man muss diese Differenz selbst betonen und thematisieren, und den progressiven Bewegungen damit auch signalisieren, dass es von ihrem Grad an Engagement und Enthusiasmus abhängt, was erreichbar ist. Wer sich auf die Akteure der professionellen Politik verlässt (oder sie, umgekehrt, von vornherein abschreibt, nach dem Motto: ‚Es ändert sich ja doch nichts‘), der oder die muss sich auch nicht wundern, wenn die Hoffnungen, mit deren Enttäuschung man schon vorauseilend rechnet, dann tatsächlich enttäuscht werden.  
Partei-Akteure und Bewegungs-Akteure müssen, wenn ein progressives Reformprojekt Erfolg haben will, gemeinsam an einem Strang ziehen. Die Neujustierung des Verhältnisses von Parteiakteuren – in Parlamenten, in der parlamentarischen Opposition, oder in der Regierung – und Bürgerengagements unterschiedlicher Art ist aber eben auch eine Notwendigkeit in Hinblick auf die wichtige Wiederbelebung der Demokratie. Das postdemokratische Arrangement zeichnet sich dadurch aus, dass Wahlen zur Casting-Konkurrenz verkommen und jenseits gelegentlicher Urnengänge Politik Sache von Berufspolitikern und Experten ist, die Bürgerinnen und Bürger in Passivität verharren und mächtige Lobbys einen privilegierten Zugang haben, um Entscheidungen zu beeinflussen. Die Öffnung der Politik für Bürgerentscheidungen, aber auch für Impulse unterschiedlicher Bewegungen, Aktiver und Engagierter ist daher entscheidend für ein progressives Projekt, aber auch für die Neulegitimation der Demokratie. 
4.) Einig in der Uneinigkeit
In den meisten Ländern zerfallen die politischen Kräfte links der Mitte heute in zwei, drei oder mehr Parteien und in praktisch allen in eine Reihe unterschiedlicher Milieus – Aktivistengruppen, Initiativen etc. Diese verschiedenen politischen Kräfte haben unterschiedliche Auffassungen in einer Reihe von Fragen: Vom Verhältnis von Reform und „Systemtransformation“ angefangen, bis hin zur Frage von Auslandseinsätzen der Armee oder zur Organisation der sozialen Sicherheitssysteme oder zur Frage von Studiengebühren. Sie haben aber über eine Reihe grundlegender Fragen auch Einigkeit. Ich sage immer gerne: Man ist sich in 90 Prozent einig. In 10 Prozent gibt es Differenz. Bloß sind die Linken extrem gut darin, auf diese 10 Prozent allen Ton zu legen. 

5.) Ein falsches Verständnis der politischen Mitte
Ich erinnere hier nur noch einmal kurz an den Fehler, der sich in den Mitte-Links-Parteien in den vergangenen Jahren ausgebreitet hat, nämlich das falsche Verständnis von einer politischen Mitte – also die Vorstellung, dass es eine politische Mitte mit eigenen politischen Haltungen gibt, der man sich anpassen müsse. Und zwar nicht einmal deshalb, weil diese Mitte so groß wäre, sondern weil sie das kleine, aber entscheidende Reservoir der Wechselwähler darstelle. Aber ist diese Mitte tatsächlich „moderat“? Vertritt die zu jeder denkbaren Frage die Mittelposition – sagen wir, auf einer 1-10 Skala die Position vier, fünf oder sechs? Oder ist es nicht eher so, dass diese Mitte aus sehr unterschiedlichen Leuten besteht, die mal in der einen Frage eher progressiv, in der anderen eher konservativ oder rechts denken? 
Gewinne ich diese Leute eher, indem ich meine eigene Position verwässere? Oder indem ich jene „partiell progressiven Elemente“, wie George Lakoff sagen würde, zu aktivieren versuche? 
Oder ganz anders gesagt: Goutieren diese Leute es eher, wenn man ihnen nach dem Maul redet, entschlossen, möglichst unentschlossenes Wischiwaschizeug zu formulieren? Oder goutieren sie es eher, wenn man sagt, was man denkt, echt ist, sagt: davon bin ich absolut überzeugt, und ich versuche Euch, davon zu überzeugen!
Hinzu kommt: Wenn man auf die längst gängig gewordene Weise die Mitte zu umgarnen sucht, hat das einen Nebeneffekt, der alle denkbaren nützlichen Wirkungen konterkariert – nämlich die Demotivation der eigenen Unterstützerbasis.
6.) Fürchtet Euch nicht!
Politiker, die wie das Kaninchen auf die Schlange auf die ominöse Mitte starren oder die sich sklavisch irgendwelchen Spin-Doctoren anpassen sind meist von einer Sache besessen: Von Angst. Von der Angst, etwas tun, etwas sagen zu können, was diese wahlentscheidende Mitte entfremden könnte; oder einfach von der Angst, einen Fehler machen zu können. 
Ich bin ohnehin der Überzeugung, dass ein nicht zu kleiner Teil unserer Probleme – genauer: der Probleme der zeitgenössischen Politik – mit Angst zu tun hat; mit der Angst, die irgendwer hat. 
Nehmen wir nur ein ganz kleines, ganz simples Beispiel: Im vergangenen Jahr wollte der österreichische Bundeskanzler um alles in der Welt vermeiden, vor einem Untersuchungsausschuss aussagen zu müssen, de
r sich mit verschiedenen unsauberen und korrupten Praktiken diverser Parteien befasste. Der Hauptgrund für die Einrichtung des U-Ausschusses waren die Diebszüge, auf die sich ÖVP- und FPÖ-Politiker zu Zeiten der Schüssel-Haider-Koalition gemacht haben. Der gegenwärtige Kanzler Werner Faymann kam wegen eher geringfügiger Verfehlungen ins Gerede, nämlich unsauberer Inserate-Schaltungen in Zeitungen aus seiner Ministerzeit, deren Nebeneffekt wohl war, dass ihm diverse Zeitungsherausgeber gewogen waren – und deren zweiter Effekt Image-Kampagnen für Faymann selbst waren. Das heißt, er hatte öffentliche Gelder letztendlich auch für einen privaten Vorteil verwendet, was zwar möglicherweise nicht direkt illegal, aber doch moralisch recht fragwürdig war. 
Faymann hat also beschlossen, in diesen U-Ausschuss nicht zu gehen. Er hat wohl sogar, um eine Ladung zu vermeiden, mit seinem Koalitionspartner ÖVP eine Art Deal geschlossen: Ihr erspart mir die Ladung, dafür mache ich mit beim Abdrehen des U-Ausschusses, der eigentlich Eure Gaunereien aufdecken hätte sollen. 
Das Ergebnis war, dass Faymann erstens wie ein Feigling da stand. Und zweitens als einer, der genauso viel zu vertuschen hat wie die Konkurrenz. Angesichts der kriminellen Raubzüge von ÖVP und FPÖ kann man da nur sagen: Das muss man erst einmal schaffen. Chapeau vor dieser strategischen Meisterleistung. 
Und was hat ihm all das eingebrockt? Genau: Seine Angst. Die Angst, er könnte in dem U-Ausschuss gegrillt werden, sich verplappern, oder sonstwie miese Figur machen. Das heißt: Er wollte ein mögliches Problem abwenden. Und er hat sich dafür ein Problem eingehandelt, das größer war als alles andere, was ihn sonst noch blühen hätte können. 
Und das ist nur ein kleines Beispiel. Aber es gibt natürlich noch viel wichtigere Exempel.
Warum kommen in der größten Krise in Europa mit ihren sozialen Katastrophen, mit einer zerstörerischen Politik der Konservativen und Neoliberalen, die demokratischen Linken, die verschiedenen Mitte-Links-Parteien nicht vom Fleck? Warum thematisieren sie das nicht viel massiver? Oder die Gewerkschaften? 
Ich würde sagen: Aus Angst. Aus Angst, damit bei der Bevölkerung „nicht durchzukommen“; paralysiert vor Furcht, mit einem großen Kurswechsel-Konzept, das auf makroökonomischen Verständnis basiert, würde man sich vom Mainstream – der berühmten „Mitte“ – zu weit entfernen. Was ja nichts anderes heißt: Man traut sich gar nicht zu, diesen Mainstream zu beeinflussen oder gar zu verändern. 
Die Sozialdemokraten, und das gilt letztlich für alle in Europa, sagen ja manchmal auch die richtigen Dinge. Aber sehr verhalten eben und in diesem defensiven Habitus, der ihnen gewissermaßen zur zweiten Haut geworden ist. Bloß, wie sollen Leute überzeugend wirken, denen man schon von weitem ansieht, dass sie Angst haben? Wie so oft setzt sich der größte Blödsinn nicht wegen der Macht der Blödsinnigen durch, sondern wegen der Angst und dem Kleinmut derer, die es eigentlich besser wissen sollten. 
Ich möchte Sie in diesem Zusammenhang an einen schönen Satz des Philosophen Hegel erinnern, der meinte, die Furcht zu irren sei schon der Irrtum selbst. Und an Franklin D. Roosevelt, dessen Wendung legendär wurde: Wir haben nichts zu fürchten als die Furcht selbst. 

7.) Aus Wählern eine Bewegung machen
Über die Probleme, vor denen wir stehen, kann man einiges lernen, wenn man sich die vergangenen neun Jahre des politischen Aufstieges von Barack Obama genauer ansieht – den Enthusiasmus, den er auslöste, die Enttäuschungen, die er zeitweise seinen Anhängern bereitete und seinen Versuch, in seiner nunmehr zweiten Amtszeit darauf zu reagieren. Zunächst stieg er richtig kometenhaft auf als einer, der in einer Sprache, auf die die amerikanischen Progressiven buchstäblich gewartet haben, wieder über Gemeinsinn und eine Vision für eine gute Gesellschaft gesprochen hat. 2004, da war er noch ein kleiner Senats-Kandidat aus Illinois, elektrisierte er damit bereits die demokratische Convention. Das politische System der USA mit seinem Persönlichkeitswahlrecht und den eher schwachen Parteiapparaten erlaubte seinen rasanten Aufstieg von Kandidaten aus Illinois zum Bundessenator und dann zum Präsidentschaftskandidaten innerhalb von bloß drei Jahren. In seiner Präsidentschaftskampagne schmiedete er eine Regenbogenkoalition, die aber nicht nur Wähler unter einen großen bunten Schirm versammelte, sondern Millionen dazu brachte, mitzumachen, selbst in der Wahlkampagne mitzutun. Es war eine Mitmachkampagne. Als er dann Präsident war, hat er dieses Netzwerk etwas einschlafen lassen. Seine Unterstützer hatten ihre Arbeit getan, wozu man sie im normalen Regierungsalltag brauchen könnte, wusste der Präsident nicht so recht. 
In diesem Regierungsalltag musste er viele Kompromisse eingehen und hat viele seiner Anhänger enttäuscht. Dabei hat er natürlich dennoch eine ganze Reihe grundlegender Weichenstellungen vorgenommen. Unlängst hieß es in einem großen, grundsätzlichen Essay von Michael Tomasky in der „New York Review of Books“, Obama sei auf nichts anderes aus als auf eine „große, stille Transformation, die aber sei eigentlich schon vier Jahre im Gange – es sei bloß nicht aufgefallen, wie tief sie bereits gehe. „Diese Transformation hat sich nur nicht historisch angefühlt, weil jeder kleine Sieg so schwer erkämpft war, und weil alle Erfolge von Kompromissen kompromittiert waren, sodass gar nicht immer erkennbar war, wie sehr der Kurs der Geschichte verändert wurde.“
Und mit den Kompromissen ist das so eine Sache: Es gibt meist ja durchaus gute Gründe für sie. Verweigert man sich ihnen, scheitert man womöglich vollends. Ein Konflikt, der jede Einigung verunmöglicht, lässt einen zwar moralisch unbefleckt, nützt aber ansonsten keinem Menschen. 
Obama war zu vielen solcher Kompromisse gezwungen, die seine Anhänger enttäuschten. Und oft war er natürlich auch nachgiebig, ohne dass das irgendwelche Konzessionen der Gegenseite nach sich zog. Dennoch ist es ihm 2012 dann abermals gelungen, seine große Regenbogenkoalition zu schmieden und noch einmal hunderttausende Leute zum Mitmachen bei seiner Wahlkampagne zu motivieren, so dass er ein zweites Mal mit absoluter Mehrheit gewählt wurde – was seit Franklin D. Roosevelt keinem demokratischen Präsidenten mehr gelungen ist. 
Nun, in seiner zweiten Amtsperiode, hat man zumindest den Eindruck, einen neuen Obama zu erleben. Er nimmt die Obstruktion der Republikaner und die Blockadepolitik mächtiger Lobbys nicht einfach nur hin, sondern versucht gezielt seine Anhänger zu mobilisieren. Das heißt auch, er will sein Unterstützernetzwerk, das ihn bisher in zwei Wahlkämpfen zu Siegen verholfen hat, auf Dauer stellen, sodass es gegen die Widerstände mobilisierbar ist, denen er sich ausgesetzt sieht. In seiner Inaugurationsrede hat er eine Agenda präsentiert, die mehr Gleichheit ins Zentrum stellte: Verteidigung des Sozialstaates, Gleichstellung von Lesben und Schwulen, Bürgerrechte, ein progressives Einwanderungsrecht, gerechte Chancen für alle. 
Obama, formulierte das Magazin „The New Yorker“, will die Koalition, die ihn gewählt hat, „in eine Bewegung verwandeln“. Man wird sehen, ob ihm das gelingt; man wird sehen, ob er damit substantiellere Erfolge erzielen kann; es ist auch gut möglich, dass die Fallen, die der Regierungsalltag parat hält, ihn wieder außer Tritt bringen, sodass der neue Schwung auch wieder erlahmt. Möglicherweise ist mit dem NSA-Spitzel-Skandal seine Präsidentschaft ohnehin erledigt. Aber das ist nicht so sehr der Punkt: Vielleicht wird es ihm nicht mehr gelingen, aus e
iner Koalition eine Bewegung zu machen, aber dann wird es vielleicht jemand anderen gelingen. Denn der Punkt ist: Das ist genau das, was nötig ist. 
8.) Neujustierung des Verhältnisses von Parteipolitik und Bewegungen
Denn ich denke, das Interessante an diesem Experiment ist folgendes: Obama macht seinen Unterstützer damit klar, dass er auf sie angewiesen ist; dass es nicht nur von einem Präsidenten abhängt, sondern mehr noch von den progressiven Milieus und Basisbewegungen, von deren Elan oder Engagement, ob etwas weiter geht. Er versucht jedenfalls dieses Verhältnis zwischen politischer „Führung“ und „Basis“ neu und zeitgemäß zu justieren – etwa zwischen den Apparaten der Politik-Politik und den verschiedenen Initiativen, Aktivistenmilieus und Basisbewegungen. Denn heute ist es oft so: Regierungspolitiker „regieren“ auf eine praktische, fast technische Art und Weise, und die anderen gucken indifferent zu, wenn sie nicht gar eine Haltung der Gegnerschaft und des permanenten Misstrauens einnehmen. Das isoliert progressive Politiker und führt dazu, dass es ihnen dann eben an jener gesellschaftlichen Unterstützung mangelt, ohne die sich nichts erreichen können; und die Basisbewegungen wiederum bleiben in einer Sphäre des Anti-Institutionellen, der Anti-Politik, in der sie zwar ihren Protest und ihre Kritik an Miss- und Zuständen äußern können, aber praktisch ohne Einfluss bleiben. Das muss sich ändern. 
9.) Progressive Politik besteht nicht nur aus Gesetzen!
Dass die Bürger und Bürgerinnen nicht an der Seitenoutlinie verharren ist übrigens noch aus einem anderen Grund wichtig – und zwar aus einem sehr bedeutenden Grund: Progressive Reformpolitik kann nur funktionieren, wenn sie auf der Makro- und der Mikro-Ebene der Politik wirksam wird. Das, was ich hier die Makro-Ebene der Politik nenne, sind die großen Reformen, die Regierungspolitik, die Gesetze, die von Parlamenten beschlossen und von Ministern und Institutionen umgesetzt werden. Diese Makro-Ebene ist natürlich wichtig. Aber sie ist nicht das einzige. 
Wir können uns auf die Institutionen alleine nicht verlassen. Es ist eine falsche Vorstellung von Politik, dass ein gutes Gemeinwesen nur von gut funktionierenden staatlichen Institutionen getragen werden könnte, während die Bürger und Bürgerinnen indifferent nebeneinander her leben. Wenn die Leute in ihrem Nahbereich nicht durch Engagement für ein funktionierendes Gemeinwesen sorgen, wird das nicht funktionieren. Freiwilliges Engagement, in Vereinen, in zivilgesellschaftlichen Institutionen, Community Organizing in den Stadtvierteln sind mindestens ebenso wichtig. Dieses Graswurzel-Engagement strukturiert eben erst eine Gemeinschaft und kann durch Politik, Gesetze und Behören nicht ersetzt werden. Hierfür gibt es unzählige Beispiele: Menschen, die sich für Flüchtlinge einsetzen; die Freiwillige Feuerwehr; Rentner, die Schulkindern vorlesen oder ihnen am Nachmittag bei den Hausübungen helfen. Direktes politisches Engagement oder scheinbar „unpolitisches“ Engagement, das aber im Kern immens politisch ist, weil es dazu beiträgt, eine Gesellschaft ein kleines Stück besser zu machen. Und sei es nur, weil es ein Signal setzt: Die Menschen um mich herum sind mir nicht egal. Auch professionelle Sozialarbeit kann das nicht ersetzen. 
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