Wo geht’s hier zur Gerechtigkeit?

Die Ungleichheit in Deutschland wächst seit 30 Jahren. Mittlerweile wissen das alle. Aber es wird nichts dagegen getan. Warum? Eine Ursachenforschung. Der Freitag, 8. Jänner 2015

Mit der Umverteilung von Unten nach Oben müsse endlich Schluss sein – diese Forderung erhob dieser Tage nicht etwa Sahra Wagenknecht in einer Talk Show oder ein Gewerkschaftsführer in einer Betriebsversammlung, sondern die OECD, die internationale Wirtschaftsorganisation der führenden Industriestaaten. „Unsere Analyse zeigt, dass wir nur auf starkes und dauerhaftes Wachstum zählen können, wenn wir der hohen und weiter wachsenden Ungleichheit etwas entgegensetzen“, sagte Generalsekretär Angel Gurria. „Der Kampf gegen Ungleichheit muss in das Zentrum der politischen Debatte rücken.“ In der schleichenden Umverteilung von Unten nach Oben ist die Einführung von Hartz-IV vor zehn Jahren nur ein Mosaikstein. Eine Studie hat gerade ergeben, dass die obersten 10 Prozent in Deutschland heute sieben Mal soviel verdienen wie die untersten zehn Prozent. Vor dreißig Jahren betrug das Verhältnis erst 1:5. Die ungleiche Verteilung kostet Deutschland ökonomisches Potential. Wäre sie gerechter, könnte das deutsche BIP um sechs Prozentpunkte höher ausfallen. Denn Ungleichheit ist ökonomisch schädlich, weil sie die Konsumnachfrage dämpft, aber auch die Chancen der Unterprivilegierten hemmt.

Das sagt also jetzt schon die OECD, und auch der IMF, der internationale Währungsfonds stößt seit Jahren schon ins gleiche Horn. Dessen Working Papers klingen heute oft so, als wären sie von linken Keynesianern geschrieben: Die Ungleichheit von Vermögen und Einkommen dämpft die Wirtschaftsleistung und ist auch eine der Ursachen der Finanzkrise – weil die einen immer mehr Schulden anhäufen, die anderen immer mehr Vermögen, das veranlagt werden will, während das Wirtschaftswachstum dümpelt.

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All das ist nicht neu. Und ebensowenig neu ist, dass die Bürger das als Problem sehen. Schon vor 15 Jahren ergab eine Allensbach-Studie, dass die Mehrheit der Deutschen findet, dass es nicht mehr gerecht zugeht.

Wenn aber praktisch jeder weiß, dass der heutige Grad ökonomischer Ungleichheit wirtschaftlich schädlich ist und die Mehrheit der Bürger zudem längst begriffen hat, dass es nicht gerecht zugeht – warum wird dann aber eigentlich nichts daran geändert? Warum wird Deutschland dann weiter immer ungleicher? Warum ist dann auch nicht abzusehen, dass sich daran etwas ändern könnte?

Es ist natürlich leicht, die Verantwortung auf gekaufte Eliten zu schieben, die nur eine Politik für das oberste 1 Prozent machen, wie das heute manchmal gerne geschieht. Aber das ist ja alles viel zu grob gedacht. Man erinnere sich nur an den jüngsten Bundestagswahlkampf. Die Grünen gingen da mit einem ganzen Steuerpaket an den Start: Erhöhung des Spitzensteuersatzes auf 49 Prozent ab einem Brutto-Haushaltseinkommen von 80.000 Euro, Abgabe von 1,5 Prozent ab einem Vermögen von einer Million Euro, Verdoppelung des Aufkommens aus der Erbschaftssteuer. Allesamt Pläne, die gerade einmal die obersten fünf Prozent etwas gekostet hätten. Dennoch wurden sie brutal abgestraft und sind heute noch traumatisiert. Die Sozialdemokraten machen solche Pläne gar nicht erst – aber nicht, weil sie sie für falsch finden. Sondern weil sie fürchten, sich mit solchen Vorschlägen selbst ins Knie zu schießen.

Aber das ist ja schon einmal ein sehr verstörendes Faktum: Die Bürger wären in ihrer Mehrheit für mehr soziale Gerechtigkeit, weigern sich bei Wahlen aber, jene zu stärken, die konkrete Maßnahmen vorschlagen, die die Ungleichverteilung korrigieren könnten.

Ohnehin ist Verteilungsungerechtigkeit ein schwammiger Begriff, was die Sache kompliziert macht. Es gibt Ungleichheit an Vermögen, Ungleichheit an Einkommen (wenn man alle Einkommensarten hinzuzieht), und außerdem die Ungleichheit bei Gehaltseinkommen. Die Ursachen sind nicht immer die selben, dafür sind alle relativ schwer zu bekämpfen.

Nehmen wir nur die Ungleichheit bei Gehaltseinkommen. Die ist zwar auch groß und sie nimmt zu, aber das Problem ist nicht so sehr, dass die Spitzenverdiener (sieht man von der dünnen Schicht der Spitzenmanager mit ihren Phantasieeinkommen ab) zu viel verdienen: Wer 100.000 Euro im Jahr verdient, verdient zwar gut, aber das ist ja nicht das Problem – außerdem zahlt er in aller Regel ordentlich Steuern. Das Problem ist, dass die Normalverdiener zu wenig verdienen. Also: Dass in den unteren Einkommenssegmenten zu wenig verdient wird.

Darauf hat die Politik aber nur bedingten Einfluss: Die Lohnfindung geschieht entweder am „freien Spiel“ des Arbeitsmarktes oder durch die Tarifpolitik der Gewerkschaften. Gewerkschaften sind dort stark, wo die Löhne ohnehin passabel sind – etwa in der gut organisierten Metallindustrie mit ihrer technologisch hohen Wertschöpfung. Dort, wo die Löhne niedrig sind (etwa in den Dienstleistungsbranchen, vom Friseurladen um die Ecke bis hin zu Amazon), ist aber auch der Organisationsgrad und die Kampfkraft der Gewerkschaften niedrig. Gesetzliche Mindestlöhne, wie in Deutschland per 1. Jänner wirksam, sind hier die einzige Möglichkeit für die Politik, einzugreifen – aber letztlich doch nur eine Notmaßnahme. Gleichzeitig wird seit Jahren Lohnzurückhaltung gepredigt, worauf sich der scheinbare „wirtschaftliche Erfolg“ des „Exportweltmeisters“ Deutschland begründet. Darüber ist man in Deutschland ja allgemein glücklich ist, was aber nichts anderes heißt als: Die Leute hier sind stolz darauf, weniger zu verdienen als ihre Nachbarn.

Höhere Löhne in den niedrigen Einkommenssegmenten können aber nur bedingt durch Wirtschaftspolitik begünstigt werden: Am besten durch eine Wirtschaftspolitik, die annähernde Vollbeschäftigung schafft und damit die Verhandlungsposition von Arbeitnehmern stärkt (davon sind wir weit entfernt); und zweitens durch eine großzügige Sozialgesetzgebung, die Arbeitslose und Sozialhilfeempfänger mit üppigen Lohnersatzleistungen ausstattet, da die untersten Einstiegsgehälter am Arbeitsmarkt immer niedriger sein werden, je schlechter die Transferbezieher gestellt sind. Insofern hat aber die Hartz-Gesetzgebung nicht nur die Lage der Arbeitslosen verschlechtert, sondern auch die der niedrigen Gehaltsempfänger. Nur wissen das die wenigsten Bezieher niedriger Einkommen – sie finden es sogar gerecht, dass jemand, der nicht arbeitet, deutlich weniger bezieht als sie selbst, schneiden sich mit einer solchen Haltung aber ins eigene Fleisch.

Auch viele andere „instinktive Haltungen“ normaler Bürger tragen letztendlich dazu bei, dass sich die soziale Ungleichheitsschere weiter öffnet: Etwa das allgemeine Misstrauen gegenüber der Politik. Es gehört heute zur allgemeinen Überzeugung, dass der Staat ein gefräßiger Verschwenderstaat ist. Wenn eine politische Kraft – seien es Grüne oder Sozialdemokraten – vorschlägt, man möge Spitzensteuern und Vermögenssteuern erhöhen und mittlere Einkommen entlassen, so glauben ihr das die Bürger nicht wirklich. Sie glauben dann, der Staat wird sich die zusätzlichen Steuereinnahmen krallen, ihre Steuern aber unverändert hoch lassen. Das allgemeine Ungerechtigkeitsgefühl schlägt um in eine Verachtung des Staates und der Politik generell, ein Verdruss, der es wiederum erschwert, eine gerechtere Politik durchzusetzen – es ist ein regelrechter Teufelskreis.

Bei anderen Aspekten der sozialen Ungleichheit gibt es wiederum ganz andere Probleme: Steuern auf Vermögen, Kapitalerträge, die Unternehmenssteuern generell sind sukzessive gesunken über die vergangenen Jahrzehnte, teilweise um ein Abwandern des scheuen Rehs „Kapital“ zu verhindern, teils um den Unternehmen Wettbewerbsvorteile zu verschaffen. Dadurch wird ein immer größerer Anteil der Staatsausgaben über Steuern aus Lohn- und Gehaltseinkommen und Umsatzsteuer erzielt, ein immer geringerer aus anderen Steuerarten: Daran lässt sich aber im Nationalstaat nicht so leicht etwas ändern, solange es Steueroasen wie Luxemburg und ändere gibt.

Ohnehin ist eine einmal realisierte Vermögensungleichheit nur äußerst schwer zu korrigieren. Das oberste Zehntel hält in Deutschland knapp 60 Prozent aller Vermögen – und innerhalb dieses Top-10-Prozent halten die Top-1-Prozent ihrerseits die Hälfte. Den verbliebenen Rest von rund 40 Prozent teilt sich die breite Mittelschicht. Und die untere Hälfte der Deutschen besitzt praktisch kein Vermögen. Thomas Piketty hat in seiner monumentalen Studie nicht nur zu einem allgemeinen Bewußtsein über diesen Sachverhalt beigetragen, sondern auch gezeigt, dass Vermögen in praktisch allen Phasen des Kapitalismus schneller wuchsen als die Einkommen. Das heißt: Vermögensungleichheit tendiert dazu, sich zu verschärfen. Und da die Besitzer höherer Vermögen bessere Anlagemöglichkeiten haben als die kleinerer Vermögen, gibt es eine Tendenz zu zunehmender Vermögenskonzentration. Selbst in schlechten Zeiten werden die Besitzer hoher Vermögen selten weniger jährliche Verzinsung hinkriegen als sechs Prozent. Das heißt aber: Selbst mit einer Vermögensbesteuerung von 1,5 Prozent wird man diesen Prozess allenfalls bremsen. Will man eine einmal realisierte Vermögensungleichheit verringern, braucht es radikale Maßnahmen wie etwa Erbschaftssteuern von 30 oder 50 Prozent auf hohe Vermögen. Wie aber soll das möglich sein? Piketty schlägt eine globale progressive Vermögenssteuer vor.

Ein Vorschlag, über den der marxistische amerikanische Intellektuelle Benjamin Kunkel unlängst schrieb: „Wie soll es möglich sein, dass die geschäftsführenden Organe der herrschenden Klasse in allen Ländern quer über dem Globus gemeinsam beschließen, Pikettys massive Besteuerung genau dieser Klasse einzuführen?“ Sarkastisch fügte er hinzu: „Ehrlich, da ist ja noch die sozialistische Revolution realistischer.“

Hohen Vermögensungleichheiten und schwachen Einkommenszuwächsen niedriger Einkommensbezieher kommt man mit ein paar homöopathischen Maßnahmen nicht bei. Weil die Bürger das seit Jahren schon zur stabilisierten Gewissheit gewordene Gefühl haben, dass es nicht gerecht zugeht, sinkt die Legitimität des gesamten politischen Systems. Diese schwindende Legitimität macht es wiederum schier unmöglich, entschiedene Maßnahmen durchzusetzen – sei es zur Umverteilung, sei es zur Ankurbelung der Wirtschaft durch öffentliche Investitionen. Die Globalisierung und die Zersplitterung des politischen Systems tragen das ihre dazu bei, die Verblödung der politisch-medialen Debatte kommt noch hinzu. Das Ergebnis ist, dass man zwar wissen kann, was getan werden müsste, aber sich kaum vorstellen kann, dass es getan würde. Gerade demokratische Systeme haben, das ist der Eindruck, den viele gewinnen, eine Tendenz zur Selbstblockade – wenn es viele Player gibt, die einen Konsens finden müssten, ist die Wahrscheinlichkeit groß, dass der Konsens eben nicht gefunden wird und somit nichts geschieht. Das ist die negative Botschaft. Bleibt nur ein positiver Strohhalm, der aber auch nicht völlig vergessen werden darf: Demokratische Systeme sind so gebaut, dass sie bei Legitimationsverlust eine hohe Adaptionsfähigkeit haben – also irgendwann mit Veränderung reagieren. Die Hoffnung kann nur sein, dass das auch diesmal funktioniert.

4 Gedanken zu „Wo geht’s hier zur Gerechtigkeit?“

  1. Hier wird behandelt, was Platon schon mit seinem Hühlengleichnis behandelt hat. Der Mensch glaubt lieber einer Lüge, mit der er aufgewachsen ist, tötet gar jene die ihm eine andere Wahrheit mitteilen wollen und verkauft schlussendlich die Geißel als güldenes Fußkettchen.

    Das Ergbibnis von Dummschulung über Generationen hinweg. Übrig bleiben überwiegend ängstliche ungebildete Menschen, die durch die Schulung den Wunsch nach Bildung aberzogen bekomen haben.

    Ein Weg hier heraus dürfte ein Bildungssystem sein. Also das Gegenteil von Schulung, da Bildung lernen beduetet während Schulen nur Konditionierung ist.

    Doch das schien ja auch schon Khalil Gibran zu wissen. Na, und falls nicht, so enthalten seine Worte

    „…Ihr dürft ihnen eure Liebe geben, aber nicht eure Gedanken,
    Denn sie haben ihre eigenen Gedanken.
    Ihr dürft ihren Körpern ein Haus geben, aber nicht ihren Seelen,
    Denn ihre Seelen wohnen im Haus von morgen, das ihr nicht besuchen könnt, nicht einmal in euren Träumen.
    Ihr dürft euch bemühen, wie sie zu sein, aber versucht nicht, sie euch ähnlich zu machen.
    Denn das Leben läuft nicht rückwärts, noch verweilt es im Gestern…“

    aus meiner Sicht heraus „des Pudels Kern“, wie es so, für mich irritierend, heißt.

    Tja, und wie auch Einstein schon sinngemäß gesagt haben soll:
    „Wir können unsere Probleme nicht mit den gleichen Strukuren lösen mit denen wir sie erschaffen haben“

    Herzliche Grüße
    Axel

    P.S.: Würd ich mehr als Hartz IV bekommen und hätt ich nicht zu sparen, damit ich meinem Jungen etwas zum Geburtstag schenken kann, ich würd durch aus mehr an Menschen wie dich spenden.

    So begnüg ich mich damit, ein Zeichen zu setzen und so oft, so umfassned und so langanhaltend wie möglich das vorzuleben, was ich elreben möchte.

  2. Ich glaube die Mehrheit, hat nichts dagegen wenn Menschen mehr verdienen als sie selber. Weil ja, und hier liegt eines der wesentlichen Problem, dann auch mehr Steuern bezahlt werden, so die Propaganda in Deutschland, und eine Mehrheit hat dies so verinnerlicht, dass sie nicht mehr hinterfragen.

    Tatsächlich aber ist das ganz System schon auf Ungerechtigkeit angelegt:
    1. Es fängt schon damit an, dass Arbeitseinkommen regelmäßig höher belastet wird, als Kapitaleinkünfte.
    2. Die Beitragsbemessungsgrenzen
    3. Die vielen Steuerausnahmetatbestände gerade für Besserverdienende?
    So ist es oft der Fall, dass ein Facharbeiter in der Regel höher belastet wird, als ein Einkommensmillionär.

    Für alle die, welche über den Beitragsbemessungsgrenzen liegen, sind in der Regel privat abgesichert. Für diese Klientel aber wurden genau die vielen Ausnahmetatbestände im Steuerrecht geschaffen, um sich ganz legal „arm“ rechnen zu können. Siehe das Stiftungsrecht und vieles mehr Ganz zu schweigen von den Illegalen Möglichkeiten. Die vielen Selbstanzeigen der letzten Jahre zeigen doch dies doch sehr deutlich.

    Die vielen eigenen Berufsstände, mit ihren eigenen Kassen, Beamte, Rechtsanwälte, Notare, Ärzte, Steuerberater und viele weitere Selbständige Gruppen, die alle legal Möglichkeiten haben sich ganz „legal Arm“ zu rechnen? Es gäbe noch vieles mehr, würde aber dieses Forum sprengen.

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