Der Erfolgsmensch

Wir Protagonisten der Wettbewerbsgesellschaft sind zugleich ihre ersten Gefangenen. Neue Zürcher Zeitung, 6. Februar 2015

Der zeitgenössischen Schule der Verhaltensökonomie („Behavioral Economics“) verdanken wir erhellende Einsichten darin, wie sich Menschen in bestimmen Situationen verhalten und wie, umgekehrt, die Situationen und die Umstände das Verhalten von Menschen modellieren. Der „Spiegel“ berichtete unlängst über eine verhaltensökonomische Spielanordnung folgendes: „Psychologen ließen Studententeams einen kleinen Aufsatz verfassen. Jeweils zwei der Teilnehmer schrieben, einer sollte die Leistung der anderen beiden bewerten. Nach 30 Minuten kam der Studienleiter hinein und brachte einen Teller mit Keksen. Vermeintlich zur Stärkung, tatsächlich aber als Teil des Experiments. Die Aufzeichnung zeigte: Die Leistungsbewerter, also quasi die Vorgesetzten in dieser Situation, griffen nicht nur rücksichtslos nach den letzten Keksen, sondern krümelten auch besonders ungeniert herum. 30 Minuten in einer zufällig zugeordneten Führungsrolle hatten ausgereicht, um ihren Wertekompass zu verändern.“

In einem anderen Experiment wurde abgetestet, ob Leute bereit sind, zu lügen und zu betrügen, um 50 Dollar zu gewinnen. Man hat diese Spielanordnung mit Leuten überprüft, die 100.000 Dollar auf ihrem Bankkonto hatten, und mit Leuten, die nur 80 Dollar auf ihrem Bankkonto hatten. Man hätte davon ausgehen können, dass die zusätzlichen 50 Dollar für die Leute aus der 100.000-Dollar-Klasse belanglos, für die aus der 80-Dollar-Klasse dagegen viel wichtiger wären. Tatsächlich aber waren die aus der 100.000-Dollar-Liga eher bereit, moralische Grenzen zu überschreiten, um an den zusätzlichen Fuffy zu kommen. Um genauer zu sein: Sie haben moralische Grenzen als solche gar nicht erkannt.

Wir leben in einer Erfolgs- und Wettbewerbsgesellschaft und deren phänotypische Figur ist der „Erfolgsmensch“. Der Erfolgsmensch ist ja nicht bloß, wie der geniale Pianist, der kunstfertige Handwerker oder der geniale Mittelfeldregisseur im Fußball in irgendetwas besonders gut – ja, solche Art von präzise definierbarem Können hat er meist nicht nötig -, sondern er ist vor allem erfolgreich darin, erfolgreich zu sein.

In einer fluiden, oft entmaterialisierten Ökonomie, in der viel auf Image beruht, ist der erfolgreich, der es versteht, erfolgreich als erfolgreich zu erscheinen. Erfolg ist heute, wie das der Soziologe Sighard Neckel formuliert, eine „Zuschreibungskategorie und entsteht im Medium der Wertungen Dritter. Erfolge müssen auffallend sein und möglichst frappant dargestellt werden.“ Neckel spricht von einer „performativen Ökonomie“.blogwert

Erfolg ist da primär Habitus. Hat man die Körpersprache, die einen als Erfolgreichen ausweist? Die lässige Selbstverständlichkeit, die von Unverschämtheit schwer zu unterscheiden ist, mit der sich der Erfolgreiche wie im Laborexperiment die Kekse einfach nimmt, weil ihm die Gewissheit zur zweiten Natur geworden ist, sie würden ihm zustehen? Diese Körperhaltung und die Ausstrahlung sind heute der Schlüssel zum Erfolg, nicht das Können in irgendeinem Fachbereich. Der Erfolgsmensch ist eine anthropologische Mutation.

Gewiss gibt es die Poser, bei denen wir sofort und instinktiv einen Charakterfehler vermuten. Aber die sind nicht der Kern des Problems. Wichtiger ist: Es kann sich dem ja kaum jemand entziehen. Es beginnt ja nicht erst bei den CEOs und Spitzenmanagern mit ihrer peinlichen, aufdringlichen CEO-haftigkeit. Jeder, der überhaupt nur in die Lage kommen will, seine Arbeit nur einigermaßen ungehindert zu erledigen, muss das heute ausstrahlen: Ein Erfolgstyp zu sein. Jedenfalls macht es die Sache erheblich leichter.

Es dringt ja durch jede Pore und spätestens in der Fachschule lernst Du: Sei eine Marke. Sei etwas Besonderes, so dass jeder merkt, dass es auf dich ankommt. Der Erfolgsmensch startet in den Tag, indem er sich aufpumpt. Mit Adrenalin. Mit Ego. Eigenblutdoping. Bescheidenheit oder auch nur Stille sind nicht erlaubt. Stille bringt Dich an den Rand des Abgrunds, Bescheidenheit stürzt Dich hinab. Spannkraft. Brust raus. Kopf hoch. Energie. All das muss man dem Erfolgsmenschen ansehen und er müht sich, dass man es ihm in jedem Moment ansieht. Aber dass er sich müht, darf man ihm nicht ansehen. Es muss ja sein zweites Ich sein, nein, sein erstes Ich, und muss daher mit aller Natürlichkeit daherkommen, ohne jede Mühe. Wille zum Erfolg.

„Den Erfolgreichen bleibt der Erfolg so lange treu, wie sie den Eindruck des Erfolgs zu vermitteln vermögen. Die Siegesgewissheit räumt alle Zweifel aus dem Weg“, schreibt der Sozialtheoretiker Heinz Bude in seinem gerade gehiypten Buch „Gesellschaft der Angst“. Der Erfolgsmensch ist der „Alpha-Typ“, mit Attributen belegt wie „die Gewitzen, Ausgeschlafenen, Abgebrühten“.

Längst ist all das über die Ufer jene gesellschaftlichen Zonen getreten, in denen das Wichtiggetue früher daheim war. Wer, beispielsweise, als bedeutender Maler gilt, der ist ein bedeutender Maler – es ist ja auch keine andere objektivierbarere Kategorie mehr vorstellbar. Und wer als bedeutender Maler gilt, dessen Bilder erzielen die höchsten Preise. Der, dessen Bilder die höchsten Preise erzielen, ist folglich der bedeutendste Maler der Gegenwart. In TV-Talkshows treten Journalisten auf, die als wichtige Journalisten gelten, selbst dann, wenn sie praktisch keiner anderen journalistischen Tätigkeit nachgehen, als im TV wichtige Journalisten darzustellen. Die Liste ließe sich fortsetzen.

„Meine Droge heißt Erfolg“, rappt der gefeierte deutsche Gangsta-Poet „Haftbefehl“. In Reinald Goetz Roman „Johann Holtrop“ ist dem Typus ein literarisches Denkmal gesetzt: Holtrop ist der „exzessiv von sich selbst eingenommene, innerlich enthemmte Ichidiot, egoman verkrüppelt. Aber: allen gefiel das, überall kam der neue Egostil gut an. … unsympathisch, angeberhaft, grobianisch, selbstgefällig dröhnend.“

Der Erfolgsmensch muss sich erfolgreich ummontieren, bis er selbst das alles glaubt, was er darzustellen versucht. Er muss ein Schauspieler sein, der ganz zu seiner Figur wird. Er muss daran glauben, dass er der ist, der der Konkurrenz stets einen Wimpernschlag voraus ist, wie die Hochfrequenztrader mit ihren Hochleistungskabeln, die ihnen die eine Nanosekunde Vorsprung vor der Konkurrenz verschaffen. Die Wettbewerbsgesellschaft und ihre Erfolgkultur sind eine Kriegszone, im Büro tobt eine Schlacht, die niemals Pause macht.

„Das Leben wird zum Kampf als Dauerzustand“, konnte man jüngst in der deutschen „Wirtschaftswoche“ lesen, wahrlich kein antikapitalistisches Nörglermagazin. Titel der Story: „Der Zwang zum Erfolg macht uns fertig.“

Nichts ist für den Erfolgsmenschen tödlicher als die Vorstellung, normal zu sein. Wer normal sein will, hat schon verloren. Niemand will heute mehr normal sein. Normal zu sein, das ist heute abnormal. Oder anders: Abnorm, das ist das neue normal.

Unlängst saß ich mit einem sympathischen, klugen Gewerkschafter, der übrigens nichts von all dem ausstrahlte, in einer Hochschulkantine, da sagte der den Satz: „Ich glaube ja, die meisten Leuten wollen einfach normal sein, aber sie wissen gar nicht mehr, wie das geht.“ Der Satz arbeitete in mir, weil er ja eigentlich eine Horrorvorstellung ausdrückt. Hätte er gesagt, „…aber die gesellschaftlichen Umstände erlauben es ihnen nicht“ oder „…sie wagen es nicht“ oder irgendetwas dieser Art, der Satz hätte zwar auch keinen erfreulichen Sachverhalt beschrieben, aber er hätte weniger Schrecken gehabt. Er wäre sogar belanglos gewesen.

Eine Gesellschaft, in der wir erlernen, stets Winnertypen sein zu müssen, produziert ein Verlernen. Es gibt dann nicht mehr zwei Optionen, zwischen denen man wählen könnte, auch wenn die Wahl keine freie ist, weil mit der einen Option alle Vorteile und mit der anderen alle Nachteile verbunden sind. Es ist noch schlimmer: Es gibt die zweite Option nicht mehr, wenn man sie schier nicht mehr kennt. Wenn Du immer ein Besonderer sein musst, um Achtung anderer zu gewinnen, und die Achtung anderer die Quelle Deiner eigenen Selbstachtung ist, dann weißt Du irgendwann nicht mehr, wie Du noch normal sein und Dich selbst achten kannst. Es ist wie bei Brechts Galy Gay: Der Mensch wird umgeschraubt und ummontiert, und macht an seiner Ummontage mit, bis er sich selbst verliert.

Der moderne Erfolgsmensch kennt sich selbst nicht mehr, könnte man beinahe formulieren, käme darin nicht ein fragwürdiges Verständnis des Selbst zum Ausdruck, als gäbe es ein vorgängiges Selbst des Individuums, das vor dessen gesellschaftlichen Existenz da ist – gewissermaßen ein „eigentliches“ Selbst.

Der Zwang, sich den habituellen Eigenschaften des zeitgenössischen Erfolgsmenschen-Typus anzuverwandeln, sinkt hinab bis in mittlere und untere Chargen, sodass selbst der einfachste Angestellte und neue Selbstständige stets als aufgeweckter Machertyp erscheinen muss. Die Charaktereigenschaften, die da gefragt sind, springen am besten ins Auge, wenn man sie mit den geforderten Typologien früherer Zeiten vergleicht. Früher war die Leitfigur die des Generaldirektors mit seiner gelassenen Würde, die ihrerseits am Vorbild des Sektionschefs oder Ministerialdirigenten modelliert war und der Aufgeblasenheit nicht benötigte, da ihm der Respekt der Untergebenen qua Position zuflog. Heute ist eher die Hyperventiliertheit des entschlossenen Entscheiders gefragt, Modell menschliche Dampfwalze, schnell wirbelnd, stets unter Strom. Es ist nicht ohne Ironie, dass sie alle als unverwechselbare Individuen erscheinen wollen, und sich dennoch bis auf Haar und Faser gleichen.

Der Erfolgsmensch ist Gefangener der Erfolgskultur, die aber selbst glaubt, sie wäre die bisher höchste Stufe der Freiheit, weil in ihr das Ich ungekannte Höhen der Selbstverwirklichung erklimmen kann. Sie wird von gefangenen Befreiten bewohnt, weil sie jene Form der Unterdrückung ist, die als Freiheit empfunden wird.

4 Gedanken zu „Der Erfolgsmensch“

  1. „Es gibt die zweite Option nicht mehr, wenn man sie schier nicht mehr kennt.“ …

    Genau. Und daraus folgt: unsere Freiheit nimmt nicht zu, sondern stetig ab. Voraussetzung jeder Freiheit wäre ja die Kenntnis der Wahlmöglichkeiten.

    „Kurz, jenseits der Maschine gibt es nichts zu tun, denn die Arbeit im klassischen und modernen Sinn ist absurd geworden. Wo der Apparat sich installiert, bleibt nichts mehr übrig als zu funktionieren.“ So hat Vilém Flusser formuliert. Und er hatte recht: wir leben heute mitten im sinnlosen, entmenschlichten Triumph dieses Apparates.

  2. Ich empfehle zu diesem Themenkomplex des Erfolgsmenschen den Film „Nightcrawler“ vom letzten Jahr. Der Film bringt den Essay auf den Punkt

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