Der Würgeengel

Europas Eliten wollen die Syriza-Regierung in die Kapitulation mobben. Gleichzeitig verbreitet sich die Ansicht, Tsipras, Varoufakis & Co. würden es ihren Gegnern durch Ungeschicklichkeit leicht machen. Ist da etwas dran? Eine Zwischenbilanz für neue das linke Wiener Onlineportal Mosaik.

Wer zu einer dichotomischen Weltauffassung neigt, für den oder die sind die Dinge leicht schwarz-weiß. Kräfte der Finsternis stehen gegen die Kräfte des Lichts. Die Unterdrückten gegen die Unterdrücker. Aufklärung gegen Verdummung. Wir können uns hunderte solcher Antagonismen ausdenken. In der wirklichen Welt sind die Dinge oft eine Prise komplexer: Kompromisse werden eingegangen, die Kräfte des Lichts setzen sich nicht vollends durch, aber die Kräfte der Finsternis sind gelegentlich auch bereit, sich mit ihnen zu arrangieren. Zumal es, wie wir ja alle wissen, auch auf der Seite des Lichts ein paar Schattenplätze gibt, und deshalb genauso auf der Seite der Finsternis ein paar Gutmeinende und wache Geister, die bereit sind, sich mit einem neuen Konsens abzufinden, wenn sich die Umstände ändern.

Weniger poetisch und dafür etwas politischer gesprochen heißt das: Politische Blöcke sind nie völlig monolithisch und es gibt immer Raum für Manöver. Das gibt auch der politischen Linken gelegentlich die Möglichkeit, kleine, aber signifikante Fortschritte zu erzielen, selbst wenn ein Sieg in eminentem Sinn nicht im Angebot ist.

So gesehen gab es Anfang Februar durchaus realistische Gründe zu der Annahme, dass die Syriza-Regierung in Griechenland auch innerhalb des Rahmens der europäischen Institutionen (der EU-Institutionen und der mit ihr verbundenen Institutionen der Euroguppe) die Möglichkeit hat, Fortschritte zu erzielen. Schließlich dämmert so manchen auch in Regierungsämtern langsam, dass Austerität einfach nicht funktioniert, schließlich gibt es auch beispielsweise in Italien und Frankreich Regierungen, in deren eigenem Interesse ein Aufweichen der deutschen Spar-Dominanz ist, und schließlich hat der Wahlsieg von Alexis Tsipras und seiner Partei die politischen Kräfteverhältnisse in Europa verändert. Auch die EZB-Führung kämpft mit ihren Programmen zum Quantitative Easing gegen die Depression und Deflation in Europa an, Bemühungen, die aber erfolglos bleiben müssen, solange die politische Seite keine Akzente zur Belebung der Konjunktur setzt. Hier gibt es also auch innerhalb des herrschenden Blocks durchaus Interessenskonflikte. Daher konnte man es zumindest für möglich halten, dass sich daraus ein Spielraum öffnet, der genützt werden kann.

Sechs Wochen später muss man konzedieren, dass sich bis dato jedenfalls ein solches Fenster nicht geöffnet hat – und wenn es je einen Spalt offen war, dann ist es krachend zugeschlagen worden. Hoffnungen auf eine Kurskorrektur in kleinen Schritten sind zerstoben.

In den Verhandlungen, die im Abkommen vom 20. Februar mündeten, haben die Finanzminister der Eurogruppe die griechische Seite mit Blockaden, Drohungen und Erpressung zu einer Abmachung geprügelt, die auf der einen Seite wesentliche Teile der bisherigen Programme unangetastet lässt, und die auf der positiven Seite nur zwei Momente aufweist: Einerseits ist sie vage genug, um praktischen Spielraum zu lassen, andererseits wurde das Primärüberschussziel Griechenlands gelockert. Dieser einzige konkrete positive Punkt ist aber durch die Tatsache längst obsolet, dass sich das Steueraufkommen Griechenlands in den letzten Monaten dramatisch reduzierte. Das heißt: Vom Primärüberschuss, der der Regierung Spielraum gegeben hätte, ist heute praktisch nichts mehr übrig.

Angesichts dessen, was seither geschah, gibt es keinen Zweifel mehr, dass es das Ziel der wesentlichen europäischen Akteure – also der Finanzminister der Mitgliedstaaten und der EZB – ist, die griechische Regierung praktisch zu erdrosseln. Allein die EU-Kommission setzt Kontrapunkte, freilich im Rahmen ihrer begrenzten Möglichkeiten.

Der griechischen Regierung geht das Geld aus – aber die Wortführer der Eurogruppe bekunden höhnisch, die mit dem Abkommen vom Februar verbundenen Geldmittel werden erst irgendwann fließen, schließlich muss die Syriza-Regierung ja erst beweisen, dass sie ausreichend gefügig ist. Die Euro-Regierungen wollen „die griechische Regierung zur Kapitulation mobben“, kommentiert der New Yorker.

Auch die EZB zieht von Tag zu Tag die Daumenschrauben fester, und zwar in einem Maße, das ihr als „unpolitische“, neutrale Institution der Geldpolitik nicht zukommt. Sie macht Politik, wie sie das schon in einigen anderen Fällen getan hat, etwa in den letzten Tagen der Berlusconi-Regierung in Italien oder bei der Quasi-Erpressung der zypriotischen Regierung. Sie sieht es auf skandalöse Weise als ihr Recht an, demokratische Entscheidungen zu korrigieren – ein klarer Verstoß gegen Geist und Buchstaben der europäischen Verträge. Sie lässt nur mehr Tropfen aus dem Liquiditätshahn für die griechischen Banken. Sie gestattet indirekte Staatsfinanzierung, die die griechische Regierung kurzfristig Liquiditätsengpässe überstehen ließe, nur in kleinsten homöopathischen Dosen. Alles Dinge, von denen jeder und jede weiß, dass sie sich ganz anders verhalten würde, wenn sie es mit einer konformistischen Regierung zu tun hätte.

Und das, wohlgemerkt, obwohl sich „Syriza ohnehin in die Richtung bewegt hat, die die EU will – in den Augen mancher ihrer Mitglieder sogar zu weit“ (John Cassidy im New Yorker). Beinahe jeder – auch noch so maßvolle – Vorschlag der Syriza-Regierung wurde abgeschmettert. Zu allem sagten die Anführer der Eurogruppe – das heißt de fakto der alles bestimmende deutsche Finanzminister Schäuble – ihr stetes und wiederkehrendes Njet. Und das, ohne auch nur selbst irgendeinen konstruktiven Vorschlag zu machen. Man kann ja sagen: Euer Plan gefällt uns nicht, wir schlagen dafür einen anderen vor. Doch etwas dieser Art blieb ja völlig aus, wie Harald Schumann im Tagesspiegel analysierte:

„Keinerlei Vorschlag, wie denn stattdessen die Not der Griechen gemindert oder wenigstens die medizinische Katastrophe im Land aufgehalten werden soll. Vielmehr soll das bisherige Programm einfach fortgesetzt werden, ganz gleich, welches Unheil das anrichtet. Die „geschlossenen Verträge“ und „vereinbarten Regeln“ seien nun mal einzuhalten, erklärt Schäuble triumphierend. So wird immer klarer, dass es beim Ringen zwischen der Athener Linksregierung und den anderen Euro-Staaten nicht wirklich ums Geld geht. Wäre Kanzlerin Merkel, Minister Schäuble und ihren Kollegen tatsächlich daran gelegen, möglichst viel der an Griechenland ausgereichten Kredite zurückzubekommen, dann würden sie die Chance nutzen, die eine vom Oligarchenfilz und Klientelismus unbelastete Regierung in Athen bietet. Dann würden sie Tsipras und seinen Ministern den finanziellen Spielraum verschaffen, den diese für den Aufbau eines funktionierenden Staatswesens und den Bruch mit dem alten Machtkartell benötigen. Aber die Verwalter der Euro-Krise fürchten den Erfolg einer linken Regierung offenkundig mehr als die milliardenschweren Verluste auf ihre Kredite, die das Scheitern der Regierung Tsipras ihnen zwangsläufig bescheren wird. Schließlich könnte das Beispiel Schule machen. Auch in Spanien, Portugal und sogar in Irland könnten linke Basisbewegungen bei den dort anstehenden Wahlen die Mehrheit gewinnen. Schäuble und die Kanzlerin nehmen die Gefahr billigend in Kauf.“

Es ist mittlerweile also völlig offensichtlich, dass es nicht nur nicht gelungen ist, den hegemonialen Block in Europa aufzuweichen, sondern dass dieser sich sogar verhärtet hat und entschlossen ist, die griechische Regierung auflaufen zu lassen. „Wir blickten vom ersten Tag an in den Lauf einer entsicherten Pistole“, ist aus Syriza-Führungskreisen zu hören.

Ist die Syriza-Regierung zu konfrontativ?

In dieser Situation werden nun paradoxerweise nicht jene Stimmen lauter, die den fatalen Kurs der Eurozonen-Zampanos kritisieren, sondern jene, die dafür der griechischen Regierung die Schuld geben. Deren wesentliche Akteure würden ungeschickt und chaotisch agieren, unnötig konfrontativ und aggressiv sein und sogar mögliche Bündnispartner abschrecken, wird da auch von durchaus wohlwollenden Beobachtern kritisiert. Wenn es in Westeuropa je so etwas wie einen medialen Honeymoon für die Syriza-Leute gegeben hat – er ist jetzt jedenfalls vorbei. Spin-Doctoren und Journalisten, die der Macht, die mit Nähe lockt, bereitwillig auf den Leim gehen, haben daran einen nicht unerheblichen Anteil.

Jetzt ist freilich äußert fraglich, ob ein „konzilianteres“ oder sonstwie geschickteres Agieren der Syriza-Repräsentanten irgendetwas am ganz offensichtlich planmäßigen Crash-Kurs der Eurogruppe geändert hätte – aber dennoch darf natürlich die Frage gestellt werden, ob die Syriza-Akteure auch ihrerseits etwas falsch gemacht haben. Eine echte, klare Strategie war ja nicht immer zu erkennen. Vor allem Tsipras und Varoufakis begannen ihre Amtszeit mit einer reisediplomatischen Charmeoffensive, haben sich dann aber auch zeitweise ostentativ kompromisslos gegeben. Die Frage, ob das einem raffinierten taktischen Konzept oder eher erratischem Tagesagieren geschuldet war, liegt natürlich auf der Hand. Möglicherweise lag dem eine „Good-Cop/Bad Cop“-Strategie zugrunde, oder der Plan, man könnte mehr rausholen, wenn man eine Konfliktstrategie fährt, ein Plan, der bloß nicht aufgegangen ist. Gewiss haben beide auch ein paar Fehler gemacht. Die betreffen auch die mittlerweile zum Überdruss strapazierten Aspekte von „Stil“ (Motorrad, offene Hemden, Homestorys), die natürlich eine zweischneidige Sache sind: Erst evozieren sie ein positives Bild im Sinne von „die sind frisch, unkonventionell, ganz anders“, bergen aber gleichzeitig die immense Gefahr, nach einer gewissen Zeit nach hinten los zu gehen („haben die keine anderen Themen als Klamottenfragen?“). Viele der Vorwürfe werden eindeutig in einem Info-Krieg fabriziert: Da wird von Brüsseler Spin Doctoren gezielt gestreut, alle Euro-Finanzminister seien schon völlig genervt von Varoufakis‘ makroökonomischen Belehrungen – und niemand fällt die Absurdität des Argumentes auf, dass man im Kreise von Finanzministern offenbar nicht über Wirtschaft diskutieren will. Gewiss wurden auch eindeutige politische Fehler gemacht: Zu sagen, dass nach einem Grexit als nächstes Italien der Bankrott drohen würde, weil auch dieses Land praktisch insolvent ist, mag durchaus der Wahrheit entsprechen, ist aber dennoch nicht von überbordender Klugheit, wenn man die italienische Regierung oder auch nur Teile der italienischen Öffentlichkeit als Verbündeten gewinnen will. Auch die offenherzige Bekundung, dass Griechenland als illiquide behandelt wird, obwohl es eigentlich insolvent ist, erleichtert der EZB nicht gerade die weitere Versorgung des Landes mit Geld, wenn man weiß, dass deren Statuten nur erlauben, Mittel für „illiquide“ Institutionen zur Verfügung zu stellen, nicht aber für „insolvente“ (gleiches gilt auch für das Regelwerk des IMF).

Gleichzeitig kann man einwenden, dass die Syriza-Akteure hier einfach in einem Zielkonflikt sind: Einerseits ist der Umstand, dass sie Tacheles sprechen, ein wesentlicher Teil ihres Erfolges bei den Leuten, andererseits macht man sich damit in der Welt der Diplomatie ebenso wenig Freunde wie in der Finanzwelt, in der man ja das Kapital, das scheu wie ein Reh ist, nicht durch flotte Sprüche verstimmen darf.

Diese Kritik wird nicht nur aus den Kreisen neokonservativer Feinde der griechischen Regierung vorgetragen, sondern auch von gemäßigt Mitte-Links-Akteuren in Politik und Medien, die durchaus ein gewisses Wohlwollen haben. Oft werden hier natürlich Petitessen aufgeblasen, und man kann schon nach der Verhältnismäßigkeit fragen, wenn bei dem einen Finanzminister tagelang über seinen Mittelfinger gestritten wird, während kaum jemand etwas dabei findet, dass sein deutscher Amtskollege seinerzeit gerne 100.000 D-Mark Schwarzgeld in verschlossenen Briefumschlägen entgegen nahm. Aber all das heißt natürlich deswegen noch lange nicht, dass alle Aspekte der Kritik falsch sind. Und natürlich kann man sagen: Fehler macht ein jeder. Man kann aber auch hinzusagen: In einer prekären Situation, in der es darum geht, Bündnisse zu schmieden und Terrain zu gewinnen, sollte man eher so wenige Fehler wie möglich machen.

Ist die Syriza-Führung zu angepasst?

Eine andere Kritik kommt eher von links und aus dem radikaleren Flügel der Syriza selbst. Sie lässt sich so zusammenfassen und wurde unlängst vom Ökonomen und Syriza-Abgeordneten Costas Lapavitsas in einem umfassenden Interview für das US-Magazin „Jacobin“ formuliert: Das strategische Problem der Regierungsspitze um Tsipras und Varoufakis bestehe darin, dass sie erstens mit der Voraussetzung in die Verhandlungen ging, dass signifikante Änderungen, ein Ende der Austerity und ein Schuldenerlass innerhalb des Rahmens der Institutionen der Währungsunion möglich seien und dass zweitens das völlig unzweifelhafte Ziel formuliert wurde, Griechenland im Euro zu halten. Letzteres Ziel, das natürlich auch mit den ganz klaren Wünschen der Mehrheit der Griechinnen und Griechen übereinstimmt, habe aber eben dazu geführt, dass die griechische Regierung von vornherein klargemacht hat, sie werde den „Schalter für die Atombombe“ nicht drücken und sie somit erpressbar wurde. Ohne realistisches Drohpotential musste sie alle Diktate schlucken. Die beiden Kritikpunkte kann man auch verbinden: Vielleicht haben Tsipras und Varoufakis zu sehr auf die Vernunft ihrer Partner vertraut, sodass sie tatsächlich dachten, das Drohpotential nicht zu benötigen. Das und insbesondere der Hinweis, dass die Währungsunion nicht an sich neutral ist, sondern von Institutionen flankiert wird, in die ihre neoliberale Entstehungsgeschichte schon eingeschrieben ist (Maastricht-Kriterien, ESM, Fiskalpakt, Schuldenbremse, etc.), diese also möglicherweise „unreformierbar“ ist, ist sicherlich nicht völlig von der Hand zu weisen.

Womöglich markieren die beiden oben genannten, auf dem ersten Blick widersprüchlichen Vorwürfe ein strategisches Dilemma: Einerseits will die griechische Regierungsführung als „standhaft“ erscheinen und jeden Eindruck vermeiden, sich zu unterwerfen (das speist den Vorwurf, sie sei konfrontativ), anderseits hat sie tatsächlich eine vergleichsweise moderate Agenda (ein bisschen mehr Keynesianismus innerhalb der Eurozone ohne echten Plan B). Wenn man in einem solchen Dilemma ist, muss man manövrieren.

Weder Ländermatch noch Freundschaftsspiel

Kompliziert wird all das noch durch den Umstand, dass jede europäische Regierung gewissermaßen in mehrere Richtungen blickt. So wie die konservativ geführte deutsche Regierung, deren europapolitischer Linie sich die SPD völlig unterworfen hat, natürlich immer einen funktionierenden Konsens innerhalb der europäischen Institutionen im Auge hat, ABER AUCH das Meinungsklima in Deutschland UND die Mehrheitsverhältnisse in der CDU/CSU-Bundestagsfraktion beachten muss, genauso muss auch die Syriza-Regierung sowohl die Kompromissmöglichkeiten innerhalb der Eurogruppe ALS AUCH das Meinungsklima in Griechenland UND die verschiedenen Flügel von Syriza austarieren.

Das heißt aber auch: Wer in Europa erfolgreich agieren will, muss einerseits versuchen, die Regierungen anderer Länder oder das Meinungsklima in anderen Ländern für sich zu gewinnen, aber er muss gleichzeitig und andererseits auch (um genau zu sein: insbesondere) für die nationale Galerie spielen. Denn letztlich wird er oder sie im nationalen Rahmen gewählt.

Diese beiden strukturellen Notwendigkeiten (die in Wahrheit Dilemmata sind) können sich aber widersprechen und haben eine große Gefahr: nämlich die Gefahr, dass politische Konflikte nicht politisiert werden (im Sinne von Links versus Rechts, Keynesianismus versus Austerity, Sozialismus versus Großkapital etc.) sondern „nationalisiert“ oder sogar „ethnisiert“. In den europäischen Gläubigerländern wie Deutschland, Finnland und auch in Österreich hat sich in den vergangen fünf Jahren ein „ökonomischer Rassismus“ breit gemacht. Es wird nicht nur scheel auf die „unsoliden Schuldnerländer“ herabgeblickt, sondern deren ökonomische Probleme werden mit angeblichen ethnisch-kulturellen Eigenschaften verbunden: Schlendrian, Faulheit, ein Hang zur Korruption, all das würde zur südlichen Lebensweise dazu gehören, so lautet die verbreitete Storyline. Insofern nimmt es nicht wunder, dass die Gegenreaktion in Ländern des Südens auch ein nationalistisches Framing annimmt – tatsächlich ist ja „das eigentliche Wunder, dass das nicht schon viel früher passierte“, wie Paul Krugman unlängst schrieb.

Man soll die Augen nicht vor der Wirklichkeit verschließen: Der Sieg von Syriza ist nicht nur ein „linker“ Wahlsieg. Der Aufstieg von Syriza und der Wahltriumph vom Ende Januar verdankt sich dem Umstand, dass die Partei einen hegemonialen Block schmieden konnte, der klassische und neue Linke genauso umfasst wie modernistische Wähler und Wählerinnen der politischen Mitte, die Syriza als neue Kraft den altmodischen Klientelparteien vorzogen, aber ebenso Griechinnen und Griechen, die sich in ihrer „nationalen Würde“ gekränkt fühlten. Das ist an sich noch überhaupt keine Tragödie: Linke Wahlsiege waren in der Geschichte nur selten vollends „rein“, das heißt, sie waren nie frei auch von fragwürdigen Wahlmotiven. Ein gewisses Maß an patriotischem Appeal gab es sehr oft auch in den bewunderswertesten linken Projekten (etwa das „alle zusammen“, das an sozialen Zusammenhalt und Solidarität appelliert, dies aber tendenziell sehr oft territorial, wenn nicht sogar ethnisch implizit eingrenzt). Hier gerade auf Syriza mit dem Finger zu zeigen hätte auch etwas Heuchlerisches, wenn man beispielsweise bedenkt, dass der Aufbau des skandinavischen Wohlfahrtsstaates in Schweden unter dem Slogan „Folkhemmet“ von statten ging oder etwa Bruno Kreisky immer wieder darauf hinwies, in Schweden habe er einen „sozialen Patriotismus“ kennen gelernt, den er in Österreich verwirklichen wollte.

Nichtsdestoweniger ist ein „nationalistisches“ Framing sozialistischer Reformpolitik fragwürdig und umso riskanter, wenn es sich nicht ausschließlich um einen nach innen gerichteten, inklusiven Patriotismus handelt sondern wenn auf der Klaviatur eines nach Außen gerichteten Nationalismus gespielt wird, und das noch dazu im Kontext der Europäischen Union. Es ist, wie gesagt, eine verständliche Reaktion angesichts des jahrelangen „ökonomischen Rassismus“ des Nordens und des geradezu haarsträubenden deutschen Nationalismus, birgt aber offensichtliche Gefahren, grundsätzlicher Natur und politisch taktischer Natur.

Es ist ja klar: Wenn ich den Konflikt um die Austeritätspolitik in Europa als Konflikt „Griechen gegen Deutsche“ frame, dann werde ich erstens Schwierigkeiten haben, jene Deutschen als Bündnispartner zu gewinnen, die ich gewinnen kann und will, und es wird auch schwieriger werden, Franzosen, Italiener oder andere für meine Anliegen zu gewinnen, weil die im schlimmsten Fall ja dann den Eindruck haben, der Konflikt zwischen den Griechen und den Deutschen gehe sie nichts an.

Natürlich ist die Rhetorik von Syriza nicht aus einem Guss: Erstens ist sie eine bunte Partei und zweitens hat sie auch eine ganze Reihe Parteiloser in ihren Reihen. Es ist eher eine Tohuwabohu-Rhetorik, in der aber, um das mindeste zu sagen, nationalistische Rhetorik auch ihren Platz einnimmt. In der Realität wird von der Parteispitze an dem einen Tag die „griechische“ Klaviatur bedient und am nächsten „die europäische“. Politisch taktisch ist das durchaus alles verständlich, führt aber mindestens zu Dissonanzen und zum Eindruck, die politische Kommunikation sei inkonzise und konfus und jeden Tag sei ein anderer Akteur damit beschäftigt, etwas zurück zu nehmen, was er Tags zuvor gesagt hat. Im schlimmeren Falle entsteht ein Krieg der Worte, der nicht entlang politischer sondern entlang nationaler Konfliktlinien verläuft und einen Beitrag zur Vergiftung des Klimas leistet. Der mangelnder Solidarität mit Syriza völlig unverdächtige Henning Meyer hat im Portal SocialEurope deshalb nicht ganz unrecht mit seinem Appell an beide Seiten: „Der Krieg der Worte zwischen der deutschen und der griechischen Regierung muss sofort aufhören!“

Die Heuchelei der Syriza-Kritiker

Mit einem Wort: Man kann durchaus auch als solidarische/r Linke/r kritikwürdige Aspekte am Agieren der griechischen Syriza-Regierung in den vergangenen knappen zwei Monaten finden. Das ist ja gar nicht der Punkt. Es wird nie jemanden geben, der völlig fehlerfrei ist, und die Renationalisierung der europäischen Diskurse, für die Syriza nicht verantwortlich ist, geht auch an ihr nicht spurlos vorüber. Es hat aber durchaus auch ein Geschmäckle, wenn neutrale und völlig passive Beobachter oder gar aktive Gegner der Syriza-Regierung vorwerfen, sie würde diesen oder jenen Fehler machen, wenn sie sich de fakto in einem Belagerungszustand befindet. Hat denn jemand den europäischen Konservativen befohlen, die ausgestreckte Hand von Tsipras, Varoufakis und Co. zurückzuschlagen? Hat denn jemand den Mainstream der europäischen Sozialdemokratie dazu gezwungen, sich – von wenigen lobenswerten Ausnahmen abgesehen -, aus Angst vor Merkel und Schäuble einer eigenständigen Position zu entsagen? Hat jemand gesagt, dass sich die verschiedenen europäischen Sozialbewegungen damit zu begnügen haben, interessiert-solidarisch nach Athen zu blicken, sich aber ansonsten relativ still verhalten müssen? Glaubt das erdrückende Gros der deutschsprachigen Journalistinnen und Journalisten, ihre Beteiligung am Diffamierungs-Herdentrieb gegenüber der Syriza-Regierung würde irgendwelche positiven Folgen haben? Wer will, dass Syriza einen weniger konfrontativen Kurs fährt, könnte ja damit beginnen, der griechischen Regierung mit einer Prise Wohlwollen zu begegnen statt mit dem täglichen Stakkato an Diffamierungen, Beleidigungen und Drohungen.

Kurzum: Das Problem von Syriza ist ihre Isolation. Wenn man einer jungen Regierung nicht einmal ein paar Wochen gibt, um eine Routine zu entwickeln, wenn man sie vom Tag Eins an dazu zwingt, sich mit nichts anderem als Notfalls-Maßnahmen zur Abwendung eines ökonomischen Kollapses zu beschäftigen und ihr damit die Zeit nimmt, sich um mittel- und langfristige Stabilisierungsmaßnahmen zu kümmern, mit einem Wort, wenn man dafür sorgt, dass sie permanent mit dem Rücken zur Wand steht, dann braucht man sich auch nicht wundern, wenn sie den einen oder anderen Fehler macht, den man eben macht, wenn man mit dem Rücken zur Wand steht.

Freilich ist auch wahr, dass es in der Linken immer schon die fragwürdige Tendenz gibt, die Ursache für die eigenen Fehler oder auch die eigene Schwäche bei den anderen zu suchen (wahlweise beim Kapital, den Neoliberalen, den Sozialdemokraten, dem Fernsehprogramm, der Kronen Zeitung, der Konterrevolution). Man liegt damit nie falsch aber macht es sich damit zugleich immer auch sehr leicht. Der ideologische Kampf ist ja kein Freundschaftsspiel und deshalb ist ja auch nicht zu erwarten, dass eine Linke, die sich nicht unterwirft, von den herrschenden Eliten freundlich behandelt wird. Die Antwort darauf muss sein, eine Politik zu betreiben und Bündnisse so zu schmieden, dass man die Isolation überwindet statt sie zu verschärfen. Syriza ist eine Partei, die das auf ihrem nationalstaatlichen Terrain mit fulminantem Erfolg geschafft hat, aber die Mittel, die ihr das ermöglicht haben, bergen zugleich die Gefahr, ein Hemmnis dafür zu sein, vergleichbare Erfolge auf transnationalem Terrain zu erzielen. Die Linke generell hat in ihrer Geschichte an dieser Aufgabe oft versagt, manchmal aber auch nicht. Zur Geschichte des Versagens gehört etwa die Geschichte des Sektierertums, das gewissermaßen ein falsches Foto der eigenen Gesellschaft im Kopf hatte, und den Kreis der „echten Linken“ und der zu gewinnenden „Verbündeten“ viel zu eng zog; zur Geschichte des Erfolges gehören etwa gramscianisch inspirierte Bündnisstrategien, die über die engen, eigenen Kreise hinaus Verbündete zu einem, wie Gramsci das nannte, „historischen Block“ zusammenzufügen suchten. Wie ein solcher Block aussieht, wer dazu gehört und was eigentlich seine Ziele sind (Aufbau eines Wohlfahrtsstaates im Kapitalismus, langsame Transformation des Kapitalismus, Bekämpfung der Austerität, Revolution etc.) das variiert je nach Epoche und ist ohnehin immer umstritten und der heterogene Block zeichnet sich ja gerade dadurch aus, dass über ein paar unmittelbare Ziele Einigkeit herrscht, aber nicht unbedingt über alle Fernziele. Dass man dafür jedenfalls Leute und Milieus gewinnen muss, mit denen man nicht in allem einer Meinung ist, aber zumindest temporär an einem Strang zieht, sollte sich von selbst verstehen. Und dass der Feind nicht schläft, ist ohnehin sonnenklar.

Was wir in Europa in den vergangenen zwei Monaten erlebt haben ist, um im fragwürdigen Jargon militärischer Metaphern zu sprechen, ein Stellungskrieg. Dem Austeritätscamp um Merkel, Schäuble und Co. ist es leichter gelungen, als vielleicht mancher erwartet hätte, ihr Terrain zu behaupten. Syriza ist es im Gegenzug dazu schlechter gelungen, als manche erhofft hätte, ihr Terrain auszuweiten. Das ist grundsätzlich noch kein Beinbruch, wenngleich die ökonomische Situation für die griechische Regierung äußerst schwierig ist. Aber es ist ein Sachverhalt, den man nicht ignorieren soll und wenn man etwas besser machen kann, dann soll man das tun.

blogwert

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