Die Umerziehungsphantasien der Neoliberalen

Gerne wettern Wirtschaftsliberale und Neokonservative gegen staatliche „Erziehungsdiktatur“. In Wirklichkeit wollen sie aber ganze Gesellschaften in gigantische Umerziehungslager umwandeln, die normale, freundliche Menschen in den gierigen Homo Oeconomicus ummontieren, der nichts als seinen Eigennutz im Kopf hat.

Die neoliberalen Marktwirtschaftsfreaks sind ja gegen Verbote. Zumindest für manche, wie etwa das Verbot des Pograpschens. Verbote dieser Art wären, so argumentieren sie, Eingriffe in die persönliche Freiheit des Einzelnen und außerdem ein Versuch der staatlichen Umerziehung. Ähnlich argumentieren sie bei vielen Verboten, aber auch bei schlichten Regeln oder staatlichen Steuerungsversuchen. Wer mit sanften Anreizen den öffentlichen Nahverkehr attraktiver, den Individualverkehr unattraktiver machen will, der wolle die Bürger erziehen und sei damit ein halber Stalinist. Wenn ein Parlament Mindestlöhne beschließt, dann sind das für die wirtschaftsliberalen Schwadroneure gleich „staatlich verordnete Löhne“ und somit ein Eingriff in die unendliche Schönheit und Weisheit des freien Marktes.

Dieser Furor zielt selbstredend nur auf Verbote und Regeln, die den Neoliberalen nicht passen. Kopftuchverbote für Musliminnen – die gehen locker als Verteidigung liberaler Freiheiten durch. Streik- und Gewerkschaftsverbote natürlich detto. Auf Verbote dieser Art sind die Neoliberalen natürlich ganz versessen.

Und dann gibt es noch die Verbote, von denen Neoliberale nicht so recht wissen, ob sie jetzt dafür sein sollen oder nicht, weshalb sie dann ein wenig herumeiern, wie mein Freund und Kollege Christian Ortner am Wochenende in der „Wiener Zeitung“. Manchmal müsse man eine Güterabwägung machen zwischen dem „liberalen Prinzip, Erwachsenen keine Vorschriften zu machen … und den Vorteilen der Stigmatisierung des Rauchens“. Letztere würden so weit überwiegen, dass jetzt auch Ortner für ein Rauchverbot in Restaurants und anderswo ist.

blogwertKurzum: Neoliberale verteufeln Verbote, die ihnen nicht passen, als staatliche „Erziehungsdiktatur“, wollen gleichzeitig aber Millionen Menschen alles mögliche verbieten, sofern ihnen das in den Kram passt, und sind ein bisschen wankelmütig, in Fällen, wo sie unsicher sind.

So weit, so skurril genug. Noch skurriler ist die Sache freilich, wenn man einmal die mit viel individualistischem Pathos vorgetragene Anklage der Neoliberalen gegen die „Erziehungsdiktatur“ und die „staatliche Pädagogik“, die mündige Bürger angeblich in infantile Kleinkinder verwandelt, die man „umzuerziehen“ trachte, genauer ansieht – und das vor allem mit den sonstigen Vorschlägen der Neoliberalen vergleicht.

Denn die Neoliberalen trommeln ansonsten doch ununterbrochen seit 30 Jahren, man müsse den Bürgern und Bürgerinnen ihre soziale „Hängemattenmentalität“ austreiben, man müsse sie mehr auf Wettbewerb trimmen. Den Bürgern, so liest man bei ihnen tagtäglich, sei angewöhnt worden, sich auf den Staat zu verlassen, dies aber müsse ihnen abgewöhnt werden. Arbeitslosen müssten die Daumenschrauben angelegt werden, damit die endlich eine andere Mentalität entwickeln. Und auch die breite Mehrheit der Bevölkerung müsse, beispielsweise, mit den Segnungen der freien Finanzmärkte erst vertraut gemacht werden. Wenn Bürger beispielsweise am freien Markt keine Aktien oder zuwenig private Rentenfonds kaufen, dann ist das aus Sicht der Neoliberalen natürlich keine achtenswerte freie Entscheidung freier Bürger, sondern eine schlechte Gewohntheit, die diesen abgewöhnt werden müsse wie das Urinieren in aller Öffentlichkeit. Der Neoliberalismus stellt sich den zeitgenössischen Kapitalismus, kurzum, selbst als großes Umerziehungslager vor, das die Bürger auf „Eigenverantwortung“ trimmt und wie die Phrasen immer heißen.

Es ist schon ganz schön keck, wenn gerade die Neoliberalen wegen ein paar Gesetzen zb. gegen sexuelle Nötigung und wegen neuen Konventionen über nichtrassistische Sprache von einer „Verbotsgesellschaft“ schwadronieren, während in Wirklichkeit sie es sind, die ganze Gesellschaften in den vergangenen dreißig Jahren zu einem gigantischem Umerziehungslager nordkoreanischer Dimension umgebaut haben, deren Ziel es ist, normale, freundliche Menschen zum „Homo Oeconomicus“ umzumontieren, der der Maxime gemäß handelt, dass nichts zählt außer Geld und das vornehmste Ziel der eigene materielle Eigennutz ist, dass Gier okay ist und Solidarität altmodischer Mist und die man, sollten sie es nicht gleich begreifen, solange ins Hamsterrad sperren müsse, bis auch der Letzte mit der „The-Winner-Takes-It-All“-Gesellschaft kompatibel gemacht ist.

11 Gedanken zu „Die Umerziehungsphantasien der Neoliberalen“

  1. Danke für diesen Kommentar.
    Mich würde nun aber wirklich interessieren was eine Neoliberale ist!
    Was ist so ’neo‘ an ihr, dass sie keine Liberale mehr ist?

    LG

  2. Herr Misik, leider muß ich Ihnen mitteilen daß auch Sie schon vom „neoliberalen“ Virus des Homo oeconomicus nordkoreanischer Prägung angesteckt worden sind – der Hinweis auf Ihre Bankverbindung auf die begeisterte Leser für Ihre Ergüsse auch etwas überweisen können ist ja nichts anderes als die Bestätigung des weltzerstörerischen und abgrundtief bösen Prinzips der marktwirtschaftlichen Nutzensabgeltung, und das noch dazu freiwillig und durch Geld! Aus diesem Grunde habe ich Ihre Person bereits dem Volxkombinat für freie und progressive Presse in Wien gemeldet – denn die unsoziale Einstellung die aus Ihrem „Geschäftsmodell“ spricht und der Umstand, daß Sie sich dabei des großkapitalistischen Banksterkomplexes bedienen entspricht überhaupt nicht der nachhaltig und ökosozialen Gemeinwirtschaft! Wir werden auch Sie noch kriegen! Exorziert die Exorzisten!

    1. @McCarthy the Great
      Vielleicht erkennen Sie ja einen kleinen Unterschied in der Freiwilligkeit der monetären Anerkennung für Misiks Beiträge zu den Verboten und Vorschriften der Neoliberalen, die er meiner Meinung nach zutreffend aufs Korn genommen hat. Oder können Sie sich vorstellen, dass diese Leute etwas anbieten, was ihnen selber Kosten bereitet, aber ohne jegliche Zahlung an sie konsumiert werden kann, ohne dass sie FORDERND die Hand aufhalten? Eine – ja eben: freiwillige – Unterstützung des Autors geht aber wieder in Richtung Solidarität. Und auf diesem Ohr sind die Neoliberalen ja bekanntlich ohnehin taub.

      1. Bei soviel Unverständnis über freie Marktwirtschaft geht sogar mir die Satire aus. Aber in einem haben Sie recht: Solidarität basiert auf Freiwilligkeit, und nicht auf Zwang. Das genaue Gegenteil finden Sie in unserem Zwangssozialstaat.

  3. Es stellt sich aber doch die Frage, wieso gerade das – im weitesten Sinne – linksliberale Milieu es den Neoliberalen so leicht macht, deren Narrativ mit einer nicht enden wollenden Kaskade an Miniverboten Plausibilität zu verleihen. Das gilt besonders in der Gesundheitspolitik, wo die entsolidarisierende Wirkung dieser Pseudopolitik geradezu greifbar ist.

    Es drängt sich nicht selten der Verdacht auf, dass die postmoderne „Linke“ (wenn man sie überhaupt so bezeichnen kann) und die offensiven Neoliberalen weniger in einem antagonistischen Verhältnis zueinander stehen, als vielmehr in einem symbiotischen.

    1. Zustimmung , Teile des sich selber so bezeichnenden „linksliberalen“ Milieus sind es nur noch dem Namen nach , was da oft so an Inhalten vertreten wird , ist mit linksliberal völlig unvereinbar , insbesondere , was den bei vielen immer noch als linksliberal geltenden Teil der Printmedien angeht.

      1. Um zu wissen was linksliberal ist, muss man nur die alte FDP aus den 70ern anschauen, als es noch einen linken Flügel in dieser Partei gab. Noch vor dem Lambsdorffpapier war das. Als die FDP noch mit einer SPD koalieren konnte, deren Politik in vielen Punkten ähnlich der heutigen Linkspartei war. Auch aus den Anfängen der Bundesrepublik lässt sich gut ablesen, was liberal ohne das „neo“ bedeutet. „Neo“ vor dem „Liberal“ bedeutet übersetzt nichts anderes, als „etwas anderes als liberal“. Wenn ein Walter Eucken, einer der libaralen Gründerväter der „Sozialen Marktwirtschaft“ schon vor der Entstehung wirtschaftlicher Macht warnte, und zwar so eindringlich und fatalistisch, wie ich das selten woanders gelesen habe – dass es bereits zu spät ist, wenn sie entsteht -, wie kann man da auf die Idee kommen, dass das Credo der Neoliberalen: „gerade wenn sie entstünde, wäre das sogar wünschenswert“ auch nur entfernt etwas damit zu tun habe, was mal als „liberal“ definiert war? „Neo“ vor dem „liberal“ ist hier sogar das krasse Gegenteil von „liberal“! Dass es neben der politischen Macht, die vom Staate ausgeht, auch eine andere Macht geben kann, nämlich eine wirtschaftliche, eine Finanzmacht, sehen Neoliberale entweder nicht, oder sie negieren sie einfach und streiten sie ab. Letzteres fällt schwer seit spätestens 2008. Seitdem haben Neoliberale Feigenblätter vor dem Mund und man hört und liest ständig solche Pseudokritik, wie diese hier von einem Neoliberalen bis ins Knochenmark hinein: http://hd.welt.de/ausgabe-b/wirtschaft-b/article139497627/Das-ist-nicht-neoliberal-das-ist-skandaloes.html

        Was Straubhaar hier als Neoliberal verkaufen will, hat gar nichts mit Neoliberalismus zu tun, sondern meistens etwas mit dem klassischen Liberalismus des schon genannten Eucken, aber auch Wirtschaftsminister Ludwig Erhard. Am Neoliberalismus ist in Wirklichkeit gar nichts „Neo“, sondern im Kern ist es der klassische „Laissez-faire-Liberalismus“. Dieser sah in der Tat im Staat den Feind der Freiheit, was damals auch durchaus berechtigt war, weil der Staat schlicht und einfach eine Monarchie war. Schnell änderte sich das, als das neu entstehende reiche Bürgertum die Adelsherrschaft ersetzte und selbst in eine Art Reichtumsadel aufstieg, zunehmend den Staat brauchte, um seine Pfründe zu sichern. Der Liberalismus, der die Ungleichheit einer kleinen Minderheit einst anprangerte, hatte sich in sein Gegenteil verkehrt und avancierte nun zum Verteidiger der neu entstandenen Ungleichheit. Freiheit war nun lediglich nur noch, dass man kein „blaues Blut“ mehr brauchte, um aufzusteigen, sondern jeder „selbst seines Glückes Schmied ist“, unabhängig von Geburt. Das ist zwar theoretisch sehr interessant, praktisch jedoch gibt es ganz da oben aber nur begrenzt Platz. Das heisst, dass spätestens in der Erbengeneration die Luft für Neuaufsteiger erheblich dünner geworden ist.

        Aber mit Logik haben es Neoliberale heute wie damals sowieso nie gehabt. In dieser ideologisierten und bornierten Verweigerungshaltung, die Realität anzuerkennen oder auch nur zu erkennen, ist der Neoliberalismus, wie auch der klassische Liberalismus zu einer reinen sozialdarwinistischen Lehre verkommen, zu einem ideologisierten krankhaften Narrzismus.

        1. Gut beschrieben , offenbar kennt jede politische Richtung ihre eigene Form der ideologischen Entgleisung , die dann mit dem Original nichts mehr zu tun hat.

          Im Freiburger Programm der FDP steht , glaube ich , sogar was von der (sinngemäß) „Vergesellschaftung von Produktionsmitteln “ , oder so ähnlich . Das sollte sich der Lindner mal trauen , den jagen sie geteert und gefedert vom Hof.
          Eine spannende Frage , wer das – nach wie vor vorhandene – linksliberale Potential auffangen kann , parteipolitisch gesehen.

  4. Danke für diesen informativen Text, der die Neoliberaliban im deutschsprachigen Raum natürlich trifft, was die dann mit entsprechenden abwertenden Kommentaren zu Ihrem Text zeigen – mit deren eigenen Worten.

    Übrigens mir fällt auch bei Neoliberaliban, zumindest im deutschsprachigen Raum auf, dass die auch im Felde der Außen-; Innen- bzw. Militärpolitik eine durchaus von Doppelmoral und Heuchelei geprägte Seite zeigen – die Unterstützung ukrainischer Faschisten und deren Verharmlosung während man im eigenen Lande, völlig richtig, gegen die neue Nazibrut vorgeht gehört zu dieser Art neudeutscher Doppelmoral – im neoliberalen Merkellande zum Beispiel….

    Vielleicht schreiben Sie ja auch mal was dazu? Zu dieser Form der Doppelmoral.

    Warte gespannt auf den Text.

    Gruß
    Bernie

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