Zum 20. Todestag von Ernest Mandel

Ich hatte ja ein paar Lehrer in meinem Leben. Ernest Mandel war nicht der Unwichtigste.

Mandel22Was ist eigentlich ein Lehrer? Nun, darüber hat man ja so ein paar Klischeevorstellungen im Kopf: derjenige, der einem für ein Leben lang prägt, mit dem man dieses Lehrer-Schüler-Verhältnis hat, dem man ohne gröberen Knacks verbunden bleibt. Diese Lehrer-Schüler-Verhältnisse sind wahrscheinlich rar.

Aber es gibt dann auch diese, die man sich nicht so richtig eingesteht im Rückblick. Weil sie vielleicht einerseits nicht so ganz eng waren, auch wenn sie prägend waren, oder weil man sich auch recht schnell von dem Denken des Lehrers entfernt hat, wenngleich er einem schon ganz gehörige Teile der Denkwerkzeuge mitgegeben hat, die dann sogar bei dieser Entfernung recht praktisch waren.

In diesem Sinne war Ernest Mandel sicher so etwas wie ein ganz entscheidender Lehrer für mich. Ich weiß nicht, wie oft wir uns in den achtziger Jahren begegnet sind? Zwei Dutzend Male vielleicht. Die ersten Male bei so internen Seminaren der Gruppe Revolutionäre Marxisten. Mandel trug über die Solidarnosc-Bewegung in Polen vor, dann über die langen Wellen des Kapitalismus. Der Tonfall, dieses perfekte Deutsch in belgisch-französischer Färbung. Mit vielen gezogenen shhhh’s. „Das gute alte Chhharlchen“, damit meinte er Karl Marx. Irgendwo in einer Lade muss ich noch die Tonbandkassetten mit den Aufzeichnungen der Vorträge liegen haben. Nur kurze Zeit hatten wir so etwas wie eine persönliche, freundschaftliche Beziehung. Wenn er in den späten achtziger Jahren nach Wien kam, ging sich immer zumindest ein gemeinsamer kleiner Brauner im Café Museum aus. Er war damals übrigens oft in Wien, aus einem skurrilen Grund: Mandel, der vielleicht berühmteste Vertreter des lebenden Marxismus, war in einer engen Männerfreundschaft mit Herbert Krejci verbunden, dem damaligen Chef der österreichischen Industriellenvereinigung. Ja, sowas ist auch möglich: Zwei kluge Leute, die unterschiedlicher Meinung sind, aber intellektuelle Offenheit genug haben, um Freunde sein zu können. Irgendwann in den späten Achtzigern begann Mandel dann für mich ein wenig zum Faktotum einer untergegangenen Welt zu werden, gewissermaßen kommunistisches Paläozoikum. Ein letztes Mal bin ich ihm dann etwa 1992 in der Humboldt-Universität in Berlin begegnet. Aber das war dann schon unbedeutend.

Ernest Mandel war übrigens oft in Wien, aus einem skurrilen Grund: Mandel, der vielleicht berühmteste Vertreter des lebenden Marxismus, war in einer engen Männerfreundschaft mit Herbert Krejci verbunden, dem damaligen Chef der österreichischen Industriellenvereinigung.

Foto (34)Seine Bücher habe ich natürlich alle verschlungen. Die großen Werke, seine „marxistische Wirtschaftstheorie“. Sein legendäres Hauptwerk „Der Spätkapitalismus“. Alle seine politisch-aktuellen Schriften, vor allem aber die ökonomischen Schriften. Krachte wo die Börse, studierte Mandel die detaillierten Basisdaten und versuchte das Geschehen im Rahmen einer Gesamtanalyse der kapitalistischen Entwicklung zu interpretieren. Das war Marxismus und Wissenschaft zugleich. Oder besser: Zunächst mal Wissenschaft. Zunächst einmal das Eingraben in das Datenmaterial. Und dann die Interpretation im Kontext einer Theorie. Aber nie nur „Meinunghaben“. Die Daten fand man beim Klassenfeind und seinen wissenschaftlichen Institutionen, in seinen Datensätzen und in den führenden Zeitungen der „Gegenseite“. Insofern hat mich Mandel beispielsweise mehr geprägt als mir das später bewusst war. Ich erinnere mich, dass mir als Teenager wichtig war, dass die Kohle, die ich zur Verfügung hatte, für drei Dinge täglich reicht: Ein kleiner Brauner, eine Packung Smart und die tägliche Ausgabe der „Neuen Zürcher Zeitung“. Die Nachrichten aus dem Wirtschaftsteil wurden ausgeschnitten und nach Themen in Ordner eingeklebt.

Ach ja, für alle, die über Mandel nicht viel wissen, hier die Basisdaten: Mandel wuchs in einer sozialistischen Familie auf, seine Eltern waren Freunde etwa von Karl Radek. Ab 1937 engagierte er sich in Belgien in trotzkistischen Organisationen, 1941 ging er in den Untergrund und die Resistance. 1944 deportiert, wurde er 1945 aus dem KZ Flossenburg befreit. Als Zentralfigur der Vierten Internationale nach 1945 war er ein wichtiger Vertreter des westlichen Marxismus, mit dem Aufstieg der Neuen Linken in den sechziger Jahren wurde er zu einem ihren wichtigsten Repräsentanten: so wie Rudi Dutschke oder Tariq Ali oder Alain Krivine oder Paul Sweezy und andere. Wann immer wo sich ein Sonnenstrahl der Revolution zeigte, war Mandel vor Ort, etwa bei der Nelkenrevolution in Portugal. Er war Organisator, Agitator, Wissenschaftler. Er unterrichtete an der Universität Brüssel, und als er an die Freie Universität Berlin berufen werden hätte sollen, verhängte der damalige Innenminister Hans Dietrich Genscher ein Einreiseverbot. Wenn ich das recht im Kopf habe, sagte Genscher damals wörtlich, das Einreiseverbot „gelte nicht dem Wissenschaftler Mandel, sondern dem Revolutionär Mandel“. Und da man den nicht in zwei Teile zersägen konnte, musste nur leider auch der Wissenschaftler draußen bleiben.

Mandel war, trotz gewisser doktrinärer Tendenzen, nie ein Sektierer, nie einer, der, wenn die Wirklichkeit mit seiner Theoriewelt nicht in Übereinstimmung war, sagte: Dann zum Teufel mit der Wirklichkeit. Deshalb war er auch offen und damit auch bündnisfähig.

Es ist vielleicht kein Zufall, dass mir Mandel in diesen Wochen, in denen ich recht häufig durch Athen oder Thessaloniki stapfe, wieder in den Sinn kam. Weil ich weiß, das ist der Platz, an dem er jetzt auch wäre. Wenn man die Welt verbessern will, muss man eine gewisse Geschmeidigkeit an den Tag legen und mit den Realitäten arbeiten, sonst landet man in der Sackgasse des Sektierertums. Aber man muss am Ende des Tages auch immer wissen: Which side are you on?

For exakt zwanzig Jahren, am 20. Juli 1995 ist Ernest Mandel in Brüssel gestorben. Dass er weitgehend in Vergessenheit geriet ist bestimmt kein intellektueller Fortschritt. blogwert

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