Die Zitterpartie des Alexis Tsipras

Vor sechs Wochen war Alexis Tsipras noch unangefochten. Jetzt muss er bei den Wahlen vom kommenden Sonntag um seine Wiederwahl bangen. Wie konnte es soweit kommen? Eine Recherche.

Tsipras X1

 

Recherchereisen brauchen Zeit und kosten Geld. Diese Arbeit gefällt Ihnen und ist Ihnen etwas wert? Für Unterstützung dankt: Robert Misik / Bank Austria / IBAN AT 301200050386142129 / BIC= BKAUATWW

Wir sitzen auf der Dachterrasse eines Restaurants am Fuß der Akropolis, über uns die hell beleuchteten Tempel. Aber die Stimmung unter der Abendgesellschaft ist gar nicht gut. „Ich werde den Syriza-Leuten nie verzeihen, dass ich mir wegen ihnen jetzt beinahe einen Wahlsieg der Konservativen wünsche“, sagt eine meiner Gesprächspartnerinnen. „Vergangene Woche habe ich mit meinem Vater gesprochen, ein alter Kommunist, der stets im Kampf gegen die Rechten stand. Ich hab so halb verdruckst gesagt: ‚Sollte man sich nicht einmal überlegen, Konservative zu wählen?‘ Und selbst mein Vater hat gesagt: ‚Das wäre wohl eine Überlegung wert.‘ Und wenn der einmal so weit ist…“

Es sind gewiss keine total entschlossenen Syriza-Parteigänger, die an diesem Abend hier über die politische Situation jammern. Aber sicherlich auch keine harten Syriza-Gegner. Eher der Typus moderner Menschen aus dem linksliberalen Milieu, die bisher zwar keine kritiklosen Wegbegleiter Alexis Tsipras und seiner Partei waren, aber doch mit ihm gefiebert haben. Allesamt Leute, die ihm einen Erfolg wünschten, die, wenn sie ihn kritisierten, hofften, dass er dieses oder jenes bitte bald besser machen sollte, weil er einfach die einzige Hoffnung für Griechenland sei. Aber jetzt herrscht hier Katerstimmung. Zweifellos, diese Runde ist nicht bedeutend für den Ausgang der Wahl, auch kein völlig repräsentatives Abbild der Stimmung im Land, aber doch ein Symptom einer Ernüchterung, die weite Kreise zieht.

Wenige Tage vor den vorgezogenen Parlamentswahlen muss Alexis Tsipras wider alle Erwartung um seine Wiederwahl kämpfen. Die veröffentlichten Umfragen haben Syriza und die konservative Neo Demokratia ziemlich Kopf an Kopf bei rund 31 Prozent – die Umfragen variieren. Die meisten Umfragen haben Syriza eine Nasenlänge voraus. Das Fehlerpotential der Meinungsforscher ist erheblich, teils, weil das ökonomische und mediale Establishment mit den Umfragen einfach Politik macht (also eine Niederlage von Syriza herbeischreiben will), teils aber auch, weil die Daten sehr volatil sind. Sowohl bei den Wahlen im Januar als auch beim Referendum im Juli lagen die meisten Umfrageinstitute oft ziemlich weit daneben. Aber dass Tsipras und Syriza ihre unangefochten dominante Position verloren haben, ist unbestritten.

Woran liegt es? An den Fehlern, die Tsipras Regierung in ihrem ersten halben Jahr gemacht hat? Oder am Einknicken Tsipras bei der Brüsseler Diktatnacht vom Juli, als er ein Austeritätsprogramm akzeptieren musste, das er ein paar Tage davor noch leidenschaftlich bekämpft hat? Andererseits lagen seine Umfragewerte noch Wochen nach dem dramatischen Schwenk bei nahezu 70 Prozent, die meisten Griechen haben ihm damals zugebilligt, dass die neue Truppe immerhin alles neu machen will und dafür eben Zeit braucht und auch ihre Unerfahrenheit akzeptiert werden müsste und dass, zweitens, Tsipras persönlich immerhin wie ein Löwe gekämpft hat. Was also war der Punkt – oder der Fehler? – der die Stimmung zum Kippen brachte?

IMG_1715Exarchia, der hippe Anarchobezirk, der als „Anarchia“ schon in allen Reiseführern steht. Mein Hotel direkt am Exarchia-Platz ist von Linken aus aller Welt bevölkert. Es ist ein großes Hallo und mit ein bisschen Phantasie kann man sich in heroischere Tage der internationalen Linken hineindenken, an Barcelona in den dreißiger Jahren, als George Orwell und Linke aus aller Herren Länder auf den Ramblas im Hotel Continental abstiegen. Mit Giorgis Chondros sitze ich in einem Cafe ein paar Meter weiter, und es ist ein ständiges Kommen und Gehen. Chondros ist ZK-Mitglied von Syria und da vor allem für die Kontakte zu den deutschsprachigen Parteien zuständig. Michalis kommt vorbei, der irgendein hohes Tier von der Universität Athen ist. Peter, ein Anarchistenveteran aus der amerikanischen Studentenbewegung der sechziger Jahre, von dem sich dann auch noch herausstellt, dass er ein Cousin zweiten Grades von Bruno Kreisky ist und seine jüdischen Vorfahren, die 1938 auswanderten, irgendwo im 13. Bezirk in Wien wohnten.

blogwertGleich kommt die Rede auf die neuen Umfragen. Die Politinsider haben alle Detailzahlen im Kopf, und die sehen in diesem Augenblick gar nicht so schlecht aus für Syriza. In den rohen Daten allein liegt Syirza zwar bloß wenige Prozentpunkte vor den Konservativen. Vor allem aber haben die Konservativen ihr Potential praktisch schon ausgeschöpft: Von allen, die sagen, dass sie sich vorstellen können, die Nea Democratia zu wählen, sagen bereits 85 Prozent, dass sie fix die Nea Democratia wählen werden. Die potentiellen Syriza-Wähler dagegen sind erst zu 65 Prozent entschlossen. Das heißt, Syriza hat noch viel mehr Spielraum nach oben. Wenn Tsipras die mit ihm sympathisierenden Unentschlossenen zu den Urnen bringt, wird Syriza gewinnen.

Das ist also die große Chance für Syriza in der letzten Wahlkampfwoche – aber eben auch das Symptom des Tiefs der Partei. Dass nämlich ihre Sympathisanten enttäuscht, frustriert und demoralisiert sind und möglicherweise zu einem erheblichen Teil gar nicht zur Wahl gehen.

Was war der eine Fehler zuviel, der die Stimmung zum Kippen brachte, frage ich Georgis Chondros? Der Neuwahlbeschluss? Überhaupt die Kapitulation beim Brüsseler Gipfel, wie das die Anhänger des bisherigen linksradikalen Flügels von Syriza meinen, die jetzt unter der Flagge der neuen Partei „Volkseinheit“ antreten? Und wie das auch Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis sieht, der gerade erst wieder eine öffentliche Breitseite gegen seinen früheren Freund und Premierminister losließ? Nein, zu der Einigung mit den anderen EU-Regierungschefs, die Griechenland in der Eurozone hielt, hätte es in diesem Augenblick vom Juli einfach keine Alternative gegeben, meint Chondros. Ohne praktisch umsetzbaren Plan B gab es keine andere Wahl für verantwortliche Politiker. Und die Neuwahlen seien unvermeidlich geworden, nachdem der linke Flügel der Partei mit seinen rund 20 bis 30 Abgeordneten faktisch den Bruch mit Tsipras vollzogen hatte. Ohne eigene parlamentarische Mehrheit hätte man nicht weiter regieren können, weil Syriza einfach nicht weiter auf die Unterstützung der parlamentarischen Opposition, auf Parteien wie ND, Pasok und Potami, setzen hätte können.

„Es war sicherlich im Nachhinein gesehen nicht optimal, dass Tsipras keinen Parteitag vor den Wahlen abhalten wollte“, meint Chondros. Das war der einzige „vermeidbare“ Fehler aus seiner Sicht. Damit hätte Tsipras sicherlich nicht seine entschlossenen innerparteilichen Opponenten gewinnen können, aber das große Lager der Skeptiker, also diejenigen, die durch die Achterbahnfahrt der vergangenen Monate verunsichert und frustriert worden sind. Er hat zu wenig Bedacht darauf genommen, diejenigen gewissermaßen „mitzunehmen“. Das ist kein untypischer Fehler von Premierministern, die unter massivem Druck und mit einer skeptischen Parteibasis konfrontiert sind – dass sie sich abkapseln, selbst wohlgesonnene Kritiker als Gegner ansehen und damit ihre Position schwächen. Man kann Tsipras diesen Fehler nicht einmal wirklich vorhalten – weil es eine ganz normale emotionale Reaktion ist von Leuten, die sich quasi im Belagerungszustand befinden; die finden, dass wenigstens die eigenen Leute es ihnen schulden, ihnen den Rücken zu stärken. Man kennt das. Hundertmal schon erlebt. Aber ein Fehler bleibt es dennoch.

„Wegen der inneren Schwierigkeiten von Syriza mussten wir ein Referendum abhalten. Wegen der inneren Schwierigkeiten von Syriza haben wir jetzt Neuwahlen am Hals. All das gäbe es nicht ohne den innerparteilichen Streit der Regierungspartei.“

Auch ohne diese Fehler wäre dieser Wahlkampf für Tsipras und seine Leute natürlich kein Spaziergang gewesen. Die radikale Linke war fest entschlossen, die Pathologie aller Linksradikalen zu wiederholen – also eine Fundamentalkritik zu üben, die im Ergebnis dazu führt, dass ein moderater Linker als Premier ins Wanken gebracht wird, auch auf die Gefahr hin, dass die Profiteure davon die Konservativen sind. Die Linke ist ja nicht nur sehr talentiert darin, sich zu spalten, sondern auch ihre eigenen Frontleute zu schwächen, während die im Feuer stehen, und sie leichterhand als „Verräter“ zu brandmarken. Und die „normalen“ Wähler, die gesellschaftliche Mitte, jene Leute also, die bereit waren, mit der Linken ein paar Schritte des Weges gemeinsam zu gehen, die waren mit ihrer Geduld vielleicht noch nicht am Ende gewesen, aber ihre Geduld hatte zumindest ein Ablaufdatum. Zwischen diesen beiden Gruppen ist Tsipras in der Zwickmühle, auch und gerade jetzt, in den letzten Wahlkampftagen.

IMG_1838

„Für mich war das Referendum der erste große Fehler“, sagt eine Freundin zu mir. „Denn was war der Sinn dieses Referendums? Es hat die Gesellschaft gespalten, Familienmitglieder haben sich zerstritten, nur damit Tsipras das Ergebnis dann eine Woche später ignoriert. Dieses Referendum hatte keinen Sinn – der einzige Sinn lag darin, dass Tsipras damit seine innerparteilichen Probleme ein paar Tage überspielen konnte. Das heißt: Wegen der inneren Schwierigkeiten von Syriza mussten wir ein Referendum abhalten. Wegen der inneren Schwierigkeiten von Syriza haben wir jetzt Neuwahlen am Hals. All das gäbe es nicht ohne den innerparteilichen Streit der Regierungspartei“, erregt sie sich. Um dann sarkastisch noch eines drauf zu setzen: „Eine sehr teure Partei.“

Es ist eine herbe Kritik – aber viel spricht dafür, dass nicht wenige Griechen diese Kritik so oder so ähnlich formulieren würden, und zwar gerade jene Leute jenseits der Syriza-„Stammwählerschaft“, die Tsipras in den vergangenen Jahren für sich gewinnen konnte. Sollte Syriza am kommenden Sonntag doch noch die Nase vorn haben, dann hat sie sie „dennoch“ vorne. Sie hat sie dann trotz aller dieser Probleme vorne, und zwar einfach deshalb, weil es zu ihr keine glaubwürdigere Alternative gibt.

Trotzdem es der Partei an Schwung mangelt. Trotzdem sie keine Botschaft hat. Denn das ist ja das nächste Problem in diesem Wahlkampf. Als die Partei, die die europäische Austeritätspolitik im allgemeinen und die Spardiktate der Eurofinanzminister bekämpft, kann sich Syriza kaum mehr positionieren. Ihre „Message“, wie das die Wahlkampfprofis nennen, ist ihr einfach abhanden gekommen. So ist die einzige verbliebene Wahlkampfbotschaft: Wir sind Neu, wir sind die Jungen, wir sind unverbraucht, wir sind die, die nicht aus dem Establishment kommen, deshalb sind wir die, die im korrupten Klientialismusstaat aufräumen können. Wir werden das beschlossene Austeritätsprogramm durchsetzen, wir werden uns an das halten, was wir unterschrieben haben, auch an die Passagen, die wir für falsch und fatal halten, aber wir werden das mit sozialem Augenmaß tun und unter maximaler Beachtung aller Spielräume. Gewiss, das ist keine unbedeutende Message – aber es ist doch kein besonders begeisterndes inhaltliches Programm.

Tsipras Hauptbotschaft ist nun, dass er Jung und Neu ist. Die Parteien überbieten sich in der Behauptung, das „Neue“ zu repräsentieren.

Dementsprechend bizarr sind die offiziellen Oberflächendebatten im Wahlkampf. Alle Parteien überbieten sich in der Behauptung, das „Neue“ zu repräsentieren. Tsipras gibt den jungen Helden, der wie ein Löwe kämpft. ND-Chef Vangelis Meimarakis, der es mit Tsipras‘ Charisma nicht aufnehmen kann, und der eigentlich nur als Übergangsparteichef gedacht war – und nun gewissermaßen irrtümlich und mangels Alternative den Spitzenkandidaten in einem Wahlkampf geben muss -, präsentiert sich als „neuer Konservativer“. Meimarakis ist fad und blass und wohl selbst am meisten davon überrascht, dass es ihm tatsächlich gelingt, Tsipras in ein Kopf-an-Kopf-Rennen zu zwingen. Aber nach sechs Monaten Verhandlungskrimi, nach Referendum und nächtlichen Pokerdramen, nach den Kapitalverkehrskontrollen, die die griechische Wirtschaft praktisch lahm legten, ist ein Politiker vom Typus Meimarakis plötzlich durchaus gefragt – so langweilig, dass er solide wirkt, so fad, dass er dafür bürgt, dass es mit ihm keine nervenzerfetzenden Überraschungen geben wird. Das Bedürfnis vieler Griechen nach Ruhe, er präsentiert es gewissermaßen perfekt. „Das Dilemma ist, wir beide, Tsipras und ich, sind vielleicht nicht die besten Kandidaten für den Premierminister. Aber die Griechen müssen sich nun einmal zwischen uns beiden entscheiden“, sagte Meimarakis vergangenen Montag bei der TV-Diskussion. So „low-profile“ hat wohl selten ein Spitzenkandidat für sich geworben.

Die Hardliner der Eurozone wollten Tsipras zerstören. Sie sind ihrem Ziel sehr nahe gekommen. Ist es da nicht auch ein wenig fies, von Tsipras „Fehlern“ zu reden? Man wollte ihn strangulieren, und das war ja nicht seine Schuld.

Ich stapfe von Exarchia abwärts nach Monastirksi, den innerstädtischen Shopping-Bezirk, und denke darüber nach, wie sehr sich die Stimmung seit vergangenen Juni gewandelt hat. Die elektrifizierte Aufbruchstimmung, sie ist einfach vorbei. Der Wahlkampf, er ist so ein „üblicher Wahlkampf“, mit Fernsehdebatten, bei denen die Spitzenkandidaten versuchen, ein wenig besser als die Konkurrenten auszusteigen, und die von einer zunehmend distanzierten Wählerschaft verfolgt werden. Aber die politische Leidenschaft ist verflogen. Man neigt natürlich dazu, nach den Fehlern zu suchen, die Tsipras und sein Führungskreis gemacht haben, und dabei ein wenig ungerecht zu werden. Denn schlussendlich sind die Fehler, die Tsipras möglicherweise gemacht oder auch nicht gemacht hat, allesamt Folge der brutalen Kompromisslosigkeit der Eurozonen-Partnerstaaten, die aber langsam in der Erinnerung verblasst, einer Kompromisslosigkeit, die ja darauf abzielte, eine unliebsame linke Regierung in genau diese Lage zu bringen – ihr durch permanente Unterminierung die populare Unterstützung in ihrem Land zu entziehen. Man wollte Tsipras zerstören, man wollte genau das Szenario, das jetzt eingetreten ist, und wir gehen jetzt auch noch in die Falle und suchen nach seinen Fehlern, denke ich mir…

Ja, klar, ich weiß schon: Ich weiß, dass die Syriza-Regierung keinen rechten Plan von den politischen Haarrissen in Europa hatte und ein wenig an ihrer Isolation auch selbst schuld war. Ja, ich weiß auch, dass etwa Yanis Varoufakis mit seiner ökonomischen Kritik am neuen Austeritätsprogramm in der Sache recht hat, aber jetzt mit seinen Sticheleien gegen Tsipras hart an der Grenze zur Illoyalität entlangschrammt, einer Illoyalität, die ja überhaupt niemanden nützt. Auch Varoufakis Sache ist nicht damit gedient, wenn die Nea Democratia diese Wahlen gewinnt.

In Monastirski treffe ich meinen Freund Yannis Drakoulis, der als Fotograf arbeitet und mit einigen Mitstreitern seit einigen Monaten das Medien-Startup „AthenLive“ betreibt. Yannis hängt in der Ledercouch im Flur und raucht eine Zigarette, als ich die Treppe hoch komme. „Ich bin einfach müde angesichts der politischen Situation. Wir sind alle müde“, sagt er. Fünf Jahre dauert die Krise jetzt schon mindestens, und die Hoffnung, dass sich irgendetwas ändern könnte, dieser Silberstreif des Frühjahrs, die ist jetzt auch weg. Von Tag zu Tag kämpfen die Leute um ein paar kleine Aufträge, jeder schuldet jedem Geld, man macht eine Arbeit, für die man nichts bezahlt bekommt, und die Rechnungen, die man nicht bezahlen kann, die sind gewissermaßen das virtuelle Soll, dem das virtuelle Haben gegenüber steht. In diesem Modus ist das Land jetzt schon seit Jahren, und auch wenn das irgendwie „funktioniert“, so befinden sich faktisch alle hier permanent auf des Messers Schneide. Yannis und sein Kollege Tassos packen gerade ihre Rucksäcke um eine große Reportage über den Flüchtlingsstrom zu machen, sie fahren auf die Inseln, auf die großen Inseln wie Kos und Lesbos, auf kleine Inseln, die normalerweise 500 Einwohner haben und auf denen plötzlich 5000 Flüchtlinge leben. Niemand kümmert sich um sie. Auch die Syriza-Regierung hat keine Betreuungsaktionen gestartet. Irgendwie kommen die Flüchtenden nach Athen, meist mit den regulären Fähren, die auf Wochen hin ausgebucht sind. Dann sitzen sie in der Hauptstadt und machen sich mit Bussen auf den Weg nach Norden. Nach Thessaloniki. Dann weiter in den Norden nach Idomeni, über Mazedonien, Serbien nach Ungarn. Mit Bussen, Schlepperautos, Taxis, und viele einfach die Bahngleise entlang zu Fuß. Yannis und ich ertappen uns dabei, wie wir ins Fachsimpeln kommen. Ich habe in diesem Sommer viele der Hotspots gesehen. Ich war in Thessaloniki und habe mit meiner Freundin Katerina Noutopoulou in der Nähe des Hauptbahnhofes Wasser und Hygieneartikel an die Flüchtlinge verteilt. Ich war in Budapest am Keleti-Bahnhof. Ich war in Serbien und bin von dort über das Loch im Grenzzaun nach Röszke rüber gegangen. Yannis erzählt von der Lage auf den Inseln. Und er erzählt mir, wo die Flüchtlingsgruppen sich in Athen treffen.

IMG_1841Ein paar Stunden später bin ich am Victoria-Platz, nahe der Alexandras Avenue. Es ist ein pittoreskes Bild. Über einem Kaffeehaus steht groß: „Cafè des Poetes“. Der kleine Platz ist ein behelfsmäßiges Kurzzeitcamp, auf dem die Flüchtlinge einfach warten, bis sie weiter in den Norden kommen können. Kinder spielen, zeichnen, ein Mädchen saust mir ihrem rosa „Hello Kitty“-Laufauto herum. Die Stimmung ist hier entspannt. Zwar kümmert sich auch kaum jemand speziell um die Flüchtlinge, aber sie werden auch von keinen Sicherheitskräften drangsaliert und die Stimmung ist nicht feindselig, ganz anders etwa am Keleti-Bahnhof in Ungarn. Ein paar Straßenzüge weiter, im Pedion tou Areos, einem der größten öffentlichen Parks der Stadt, können sich die Flüchtlinge waschen. In Unterhosen stehen sie um den Hydranten herum, junge Männer rasieren sich gegenseitig. In den Bäumen hängen T-Shirts und Hosen zum trocknen, die gerade einen provisorischen Waschgang hinter sich haben.

In Unterhosen stehen die Flüchtlinge um den Hydranten herum, junge Männer rasieren sich gegenseitig. In den Bäumen hängen T-Shirts und Hosen zum trocknen, die gerade einen provisorischen Waschgang hinter sich haben.

Was wird aus dem linken Projekt in Griechenland, diesem eigentümlichen Land? Diesem Land mit einer starken Linken, aber einer sehr traditionellen Sozialstruktur? Diesem Laboratorium – einem Laboratorium für die neoliberale Schocktherapie, das aber zugleich zu einem Laboratorium des Widerstands geworden ist, nicht nur auf der politischen Meta-Ebene, sondern auch auf der Mikroebene, mit einer Vielzahl an Sozialbewegungen, an Initiativen solidarischer Ökonomie, mit Start-ups, die halb kommerzielle Unternehmungen, halb Kooperativen sind? Es ist ja dieses Netzwerk einer engagierten Zivilgesellschaft, der sich der Wahlsieg von Syriza vom Januar auch verdankt.

Start-ups wie die im „Cube“, dem Co-Workings-Space von Maria Calafatis und Savros Messinis, wo junge Leute ihre Geschäftsideen ausprobieren. Geschäftsprojekte wie etwa „Taxibeat“, dem kleinen Startup, das hier vier Freunde begonnen hatten und so ähnlich wie Uber funktioniert, aber beinahe jede Art von persönlicher Dienstleistung anbietet, die mit Transport zu tun hat. Nun könnte man natürlich annehmen, es handelt sich dabei um ganz normale Firmen, die ganz normalen kapitalistischen Profitlogiken folgen. Und das ist natürlich eine Seite der Wahrheit.

Die andere Seite der Wahrheit ist freilich, dass die meisten Firmen dieser Art von Leuten aufgezogen werden, die mit anderen gemeinsam eine Idee in einem recht kooperativen Geist verwirklichen wollen, und die das vor allem tun, weil sie sonst gar keine andere Chance hätten. In einer Wirtschaft in der Depression und ohne einen funktionierenden Sozialstaat ist das die einzige Möglichkeit, ein wenig zu Geld zu bekommen – und wenn es Anfangs nur ein paar hundert Euro sind. Zugleich sind diese Sektoren der griechischen Ökonomie heute die dynamischten.

Je mehr ich mich mit diesen Beispielen beschäftigt habe, umso mehr wurde mir klar, dass die ganz vielen Projekte der – am kapitalistischen Weltmarkt extrem erfolgreichen – High-Tech-Start-ups, deren Exporterlöse in Griechenland heute schon um 700 Millionen Euro über jenen der berühmten Olivenöl-Branche liegen, gar nicht nach einer total anderen Logik funktionieren als die vielen Projekte der Solidarökonomie. Es entsteht vielmehr ein ganzer Sektor, der aus Start-ups besteht, aber auch aus Kooperativen, aus landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften oder auch Konsumgenossenschaften, oder überhaupt aus Hilfprojekten wie den Solidaritätskliniken, in denen Ärzte gratis jene Leute behandeln, die keine Krankenversicherung mehr haben.

Griechenland ist ein Laboratorium – ein Laboratorium für die neoliberale Schocktherapie, aber zugleich ein Laboratorium des Widerstands , nicht nur auf der politischen Meta-Ebene, sondern auch auf der Mikroebene, mit einer Vielzahl von Sozialbewegungen, von Initiativen solidarischer Ökonomie, mit Start-ups, die halb kommerzielle Unternehmungen, halb Kooperativen sind.

Ich bin in Thessaloniki mit einer Grundschullehrerin zusammen gesessen, die mir beim Abendessen dann ganz beiläufig und scheinbar nebenbei erzählt hat, dass in den ersten Jahren der Krise ihre Kinder alle noch die Fassade aufrecht zu erhalten versuchten, auch gegeneinander konkurriert haben, dass aber seit ein, zwei Jahren ein neuer Solidaritätsgeist eingezogen ist: Man hilft einander, teilt, was man hat. Dass das offensichtlich ein tiefergreifender Wandel der Mentalitäten ist, wurde mir ersichtlich, als ich las, dass der Anteil der Griechen, die bereit sind, sich unentgeltlich für das Gemeinwesen irgendwo zu engagieren, binnen weniger Jahre um 44 Prozent zugenommen hat.

Es gibt hunderte Initiativen dieser Art, die auf den ersten Blick altruistisch und außerökonomisch wirken, aber in Wirklichkeit die griechische Wirtschaft langsam transferieren: Junge Techniker, die auf das Land ziehen und dort ökologische Landwirtschaft betreiben, gleichzeitig aber ganze Cluster von Dörfern mit freiem WLAN verbinden. Mehr als 40 selbstorganisierte Kliniken im Land. Tauschringe, Zeitbanken, ganze Regionen mit eigenen Parallelwährungen. Unzählige Agrarkooperativen. Leute, die gemeinsam neue Ideen im Tourismus durchsetzen. Eine Mischung aus Geschäftsidee und reiner Sharing-Ökonomie, wobei die einen vielleicht ein wenig mehr den Ton auf den Kommerz legen, die anderen etwas mehr auf das Sharing. 32 Prozent der Griechen sind heute schon Selbständige oder Freiberufler. Aber sehr viele sind Freiberufler dieser Art – also in einer Wirtschaft tätig, die man auch „Miteinander-Ökonomie“ nennen könnte, oder „Greeconomy“.

Man kann jetzt natürlich der Meinung sein, dass das alles nur ein Tropfen auf dem heißen Stein ist, aus der Not geborene Selbsthilfeinseln im rauen Meer der echten kapitalistischen Ökonomie. Dass das ein Trugschluss sein könnte, dämmerte mir aber spätestens, als ich mich mit Ioannis Margaris unterhielt, dem stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden des öffentlichen Energieversorgers „Hellenic Electricity Distribution Network Operator“. Der Manager der Elektrizitätsgesellschaft ist vor allem ein avancierter Techniker, er ist also weniger der Buchhaltertyp, sondern derjenige, der sich zukunftsweisende technologische Lösungen ausdenkt. Im Vorstand seines Unternehmens ist er daher vor allem für Innovation und den Umstieg auf erneuerbare Energien zuständig. Das griechische Elektrizitätssystem hat eine Reihe von Herausforderungen, aber eben auch von großen Chancen. Zu den Herausforderungen zählen: Griechenland besteht aus vielen kleinen isolierten Inseln; viele Griechen können aufgrund der Armut ihre Stromrechnungen nicht mehr bezahlen, dennoch versucht die Regierung ihnen eine Basisversorgung zu garantieren. In den letzten Jahren hat ein regelrechter „Solar-Bubble“ eingesetzt, was wiederum den Nachteil hatte, dass ganze Landstriche der Landwirtschaft entzogen wurden.

Große Windfarmen wurden ebenso aufgezogen wie endlose Felder von Solarpanels errichtet. Dahinter steht die utopische Idee eines grandiosen, integrierten europäischen Energiemarktes, in dem etwa Sonnenenergie aus dem Süden über Hochleistungsleitungen in den Norden transportiert wird und möglicherweise sogar dann in gigantischen Pump-Speicherkraftwerken an der skandinavischen Küste gespeichert wird.

Aber Margaris hält wenig von solcher Gigantomanie. Er setzt eher auf eine smarte, dezentrale Elektrizitätswirtschaft der Zukunft, mit vielen kleinen autonomen Produzenten und Smart Grids, also intelligenten Kleincomputern in jedem Haus, die Produktion und Verbrauch optimieren. „Die Zukunft liegt in Produktions-Clustern“, sagt er, „Griechenland könnte dann auch zu einem Exporteur von Wissen, Expertise und von guten, funktionierenden Beispielen werden.“ Zwar fehlen der Regierung natürlich Mittel für große Investitionen, aber, so Margaris, „wenn man gute Projekte hat, dann fließt auch Geld“ – gerade im Kontext der europäischen Energiewirtschaft, in der viele Firmen und Elektrizitätsgesellschaften neue Technologien und Organisationsformen erproben wollen. „Aber das wird nicht als Top-Down-Prozess funktionieren, dafür braucht man das Vertrauen der Bürger und der Konsumenten. Dann wachsen auch kreative Ideen von unten.“

Das ist eher an der dezentralen Idee kooperativer Peer-to-Peer-Netzwerke orientiert, wie man es aus der Sharing-Ökonomie des Internets kennt. Dabei geht es weniger darum, dass die kleinen Stromambieter – etwa Leute, die ein Solarpanel am Dach haben -, sehr viel Geld verdienen, indem sie ihren überschüssigen Strom ins Netz speisen. Sondern eher darum, dass man Kosten reduziert, indem man Strom einspeist, wenn man gerade weniger braucht, und Strom konsumiert, wenn man mehr braucht, als man gerade selbst produzieren kann. Damit nicht zuviel Strom konsumiert wird, wenn das gerade alle tun und er daher teuer ist, braucht es eben in allen Häusern smarte Steuerrungen, die – simpel gesagt – organisieren, dass sich die Waschmaschine beispielsweise dann einschaltet, wenn es einen Stromüberschuss gibt. Auf diese Weise kann man Gas- und andere Kraftwerke einsparen, den Ressourcenverbrauch senken, den Großteil der Energie aus erneuerbaren Quellen beziehen, zudem die Abhängigkeit von Russland oder Saudi-Arabien reduzieren und zu allem Überdruss auch noch billiger leben.

Bevor er in die Leitung des Energiekonzerns eingezogen ist, war Margaris Forscher an der Technischen Universität, und damals hat er beispielsweise mit der Syriza-Ökonomin Elena Papadopoulou ein wichtiges Kurzpaper über die „Transformation der Produktion“ geschrieben. Die Idee dahinter: Wie kann man die Ökonomie langsam so verändern, dass mehr und mehr dezentrale, selbstverwaltete Firmen, Kooperativen und Initiativen eine zunehmend wichtigere Rolle spielen – so dass am Ende eine gemischte Wirtschaft steht, aus privaten Firmen, Staatsunternehmen und Kooperativen und alternativen Wirtschaftsformen.

Man muss nur mit offenen Augen durch die Welt gehen, und schon sieht man, dass man eigentlich auf Schritt und Tritt Initiativen, NGOs, Firmen, Kooperativen begegnet, die alle zusammen so eine Art Netzwerk bilden, einen Nukleus eines Sozialismus neuer Art. Eines Sozialismus, oder eine Form von Gemeinwirtschaft, von Miteinander-Ökonomie, die auf der Initiative kleiner Gruppen basiert, völlig dezentral organisiert ist – ein Sozialismus, der nichts mehr mit dem bürokratischen Moloch der früheren Staatswirtschaften gemein hat, weder jenen, wie wir sie aus dem Kommunismus kennen, aber auch nicht mit den Staatsbürokratien des Kapitalismus, wie er vor dreißig Jahren noch bei uns existierte. Und, natürlich, das sind bisher nur kleine Inseln, nur hunderte Initiativen, aber ihr Gewicht und ihre Bedeutung können gar nicht hoch genug eingeschätzt werden – ohne sie wäre die Krise praktisch unüberlebbar.

„Ich glaube“, schreibt der britische Wirtschaftsautor Paul Mason, „dass diese Projekte uns eine Rettungsgasse bieten – aber nur, wenn diese Projekte des Micro-Levels gehätschelt werden, wenn wir sie bewerben und wenn sie geschützt werden, indem die Regierungen anders handeln. Aber wir sollten uns und anderen auch sagen: Das sind nicht nur Überlebensprojekte, kleine Befestigungsanlagen in der bösen neoliberalen Welt, sondern sie sind wohl eher neue Lebensformen in einem Veränderungsprozess. … Ein neuer Pfad öffnet sich, der der kooperativen Produktion.“

Es ist dieses Griechenland, das den Unterbau zum Experiment Syriza bildete.

„Es wird Zeit“, sagt mein Freund Athanasios Marvakis, „dass die griechische Linke ein bisschen seriöser und ernster wird.“ Athanasios ist Professor für Sozialpsychologie an der Universität Thessaloniki, und wir haben uns vor ein paar Monaten im besetzten Sendezentrum des staatlichen Rundfunks ERT kennen gelernt. „Das Beste, was die Linken können, ist, sich zu spalten.“ Für die linke Opposition sind Tsipras und der verbliebene Rest von Syriza einfach „Verräter“, Sozialdemokraten, die kapituliert haben. Für Tsipras und seine Leute sind dagegen alle, die nicht hundertprozentig dem Parteichef den Rücken stärken „Deserteure“, selbst jene, die einfach nur verunsichert sind. Und, ja, klar, es war das Ziel von Wolfgang Schäuble und den Eurozonen-Strategen, die griechische Linke in diese Lage zu bringen – bloß, es hat aber auch niemand die griechischen Linken gezwungen, ihren Gegnern das Spiel so leicht zu machen, meint Marvakis. Der Premierminister Alexis Tsipras musste mit dem Kompromiss vom 12. Juli einen Rückzug antreten. Er hat eine Schlacht verloren, oder ist ihr ausgewichen, wie immer man das nennen will – aber das war auch nur ein Scharmützel in einer längeren Auseinandersetzung, im Kampf um einen neuen Kurs in Europa. Der konnte in fünf Monaten nicht gewonnen sein, und er ist auch mit einer „Etappenschlappe“ nicht verloren. Das heißt nicht, dass Marvakis jetzt alles wunderbar fände, was Tsipras macht. „Ich war nie ein Syriza-Mann und Tsipras hat mich nie begeistert. Ich finde es auch falsch, dass er jetzt beginnt, den Kompromiss, dem er zustimmen musste, schönzureden. Das tut er nämlich. Aber es ist einfach lächerlich, über einer Regierung nach nur sechs Monaten den Stab zu brechen.“

„Es wird Zeit, dass die griechische Linke ein bisschen ernster und ein bisschen seriöser wird.“ Athanasios Marvakis

Tsipras Scheitern ist ja ein eigentümliches Scheitern, ein „erfolgreiches Scheitern“. Jeder weiß heute, dass der Austeritätskurs in Europa gescheitert ist. Jeder weiß, dass ein Programm, an das niemand glaubt, nur durch den brutalen Druck von Wolfgang Schäuble und Co. durchgesetzt wurde. Die Hegemonie der neoliberalen Eliten ist nicht mehr unangefochten, und das ist auch ein Verdienst der Tsipras-Regierung.

Der Wahlkampf schleppt sich durch die letzten Tage, anders als im Januar hat kaum jemand das Gefühl, dass es um irgendetwas Bedeutendes ginge. Dabei steht viel auf dem Spiel: Syriza könnte von einer großen Hoffnung zum großen Desaster der europäischen Linken werden. Wird Tsipras jetzt abgewählt, wird das nicht der heroische Abgang eines von übermächtigen Gegnern Geschlagenen, den neoliberalen Eliten wird es dann ein Leichtes sein, Syriza zur Lachnummer, zur lächerlichen Dilettanten-Episode zu stilisieren. Es wäre ein herber Rückschlag für all jene, die in Europa Allianzen für eine Kurswechsel weg vom fatalen Austeritätskurs schmieden wollen. Rettet Tsipras sich mit einem blauen Auge und zwei, drei Prozentpunkten Vorsprung über diese Wahlklippe, dann wird er wohl in einer neuen, Mitte-Links-Koalition regieren und der Schalter wird auf Restart gestellt: Dann wird seine Regierung versuchen müssen, in kleiner Kärrnerarbeit erstens das Land ganz praktisch zu reformieren, und in Europa Schicht für Schicht Allianzen zu bilden, mit jenem Teil der europäischen Sozialdemokratie, der dafür gewinnbar ist, auch mit dem progressiveren Teil der Christdemokratie, mit sozialen Bewegungen, Gewerkschaften, Think Tanks. Dass die Strategie des Kabinetts Tsipras I in die Selbstisolation geführt hat und eine Sackgasse ist, jedenfalls solange man in der Eurozone bleiben will, diese Lektion hat Syriza gelernt.

6 Gedanken zu „Die Zitterpartie des Alexis Tsipras“

  1. Wie immer ein guter Artikel über Griechenland. Nun gut für mich ein wenig zu emphatisch hinsichtlich der Optionen einer „solidarischen Ökonomie“. So sympathisch die genannten Beispiele auch sein mögen, sie müssen jedoch in dem Kontext der griechischen Volkswirtschaft betrachtet werden. Wie dem auch immer …. Gravierender finde ich, dass zwei Themen ausgespart werden. Die Debatte um einen „Plan B“, also die Frage nach den alternativen wirtschafts- und währungspolitischen Alternativen innerhalb der EU (Varoufakis, Lafontaine … ), und die vor allem von Jannis Milios thematisierte Frage nach den ungenutzten innergesellschaftlichen Möglichkeiten der Verschiebung der Kräfteverhältnisse. Beide Fragestellungen und vor allem deren Verknüpfung sind zentral um die linke „Katerstimmung“ nach den verlorenen Auseinandersetzungen zu überwinden.

  2. Ja, ich finde das Wort „Verräter“ für Tsipras auch zu hart. Er hat einfach beim Pokern zuerst gezuckt. Man kann zwar heute nur noch spekulieren, aber wenn er von sich aus den Grexit in Brüssel als Drohkulisse auf den Tisch gepackt hätte, falls man den Griechen die Luft abschnürt, wären so einige – Merkel voran (gerade wegen ihres damaligen Ausspruchs) – vielleicht doch ins Grübeln gekommen, ob sie den ersten Dominostein so sorglos kippen lassen würden.
    Und es gab sehr wohl einen Plan B, wie Varoufakis verriet, nur war Tsipras dieser Plan zu heiß, und er wollte diesen Weg nicht gehen. Also no hard feelings gegenüber Tsipras, aber dennoch stehe ich auf dem Standpunkt, dass es ein Unding ist, das Gegenteil – und dann noch in verschärfter Version – davon umzusetzen, wofür man angetreten ist. Man kann scheitern, auch und gerade, wenn man dazu gezwungen ist, wenn die anderen das stärkere Blatt haben. Aber er hätte sich nicht auch noch dafür hergeben dürfen, selber zum Ausführungsorgan zu werden. Er ist leider mit Recht schon zur Witzfigur der Rechten geworden, die feixend mit den Fingern auf den „Zurechtgestutzten“ zeigen.
    Ich gehe sogar so weit zu sagen, dass diejenigen Wähler, die sich vor dem Grexit mehr fürchten als vor der Weiterführung der Austerität (denn inzwischen ist es nun wirklich genau diese Entscheidung zwischen Pest und Cholera), doch besser eine der alten korrupten Parteien wählen sollten. Denn wem würden Brüssel und Berlin wohl eher ein paar Leckerlis beim weiteren Ausverkauf des Landes hinwerfen? Der „unsichere Kantonist“ Tsipras, der erklärtermaßen nicht hinter dem aufgezwungenen Kurs steht, könnte wohl als letzter darauf hoffen. Dann sollen diese Politik auch besser die braven und in Brüssel und Berlin wohlgelittenen Altparteien umsetzen.
    Wären die griechischen Wähler allerdings konsequent (was sie genau so wenig sind, wie alle anderen auch), und würden sie auch weiterhin zu ihrer doch recht eindeutigen Entscheidung beim Referendum stehen, müsste das Ergebnis so aussehen, wie es keine Voraussage auf dem Schirm hat. Aber das wird nicht eintreten. Es wird eine der Austeritätsparteien siegen, ob das PASOK, ND oder die durch Zwang eingeknickte Syriza sein wird, ist mir inzwischen egal. Ich habe lange genug für die neue griechische Regierung getrommelt und bin enttäuscht worden. Fürs erste: Aus die Maus. Was das für die Wahlen in Spanien und Portugal bedeutet, dürfte auch klar sein. Merkel, Schäuble und Co haben vorerst auf ganzer Linie gesiegt, so bitter das ist, muss ich es einräumen.

  3. Da mir die dezentrale ökologische Energieversorgung sehr am Herzen liegt, würde ich Ioannis Margaris, den stellvertretenden Vorstandsvorsitzenden des öffentlichen Energieversorgers „Hellenic Electricity Distribution Network Operator“, gerne eine Studie vom Wuppertal Institut für Klima, Umwelt, Energie zukommen lassen:
    „Stadtwerke-Neugründungen und Rekommunalisierungen
    Energieversorgung in kommunaler Verantwortung“.
    Darin geht es um die ökologischen, sozialen und wirtschaftlichen Vorteile von kommunalen bzw. genossenschaftlich organisierten Stadtwerken.
    Ich könnte mir vorstellen, dass ein Austausch zwischen ihm und den Herausgebern der Studie (kurzform auch in Englisch verfügbar) fruchtbar sein könnte.
    http://wupperinst.org/uploads/tx_wupperinst/Stadtwerke_Sondierungsstudie.pdf
    Herr Misik, könnten Sie vermitteln?

  4. „Würden Wahlen etwas verändern, wären sie schon längst abgeschafft“ Dieser Satz der nicht von mir stammt, zeigt heute das eigentliche Dilemma in Europa. Seit dem die Herrschenden nur noch ein Anhängsel der Finanzindustrie geworden ist, können wir auf Wahlen verzichten.

    Es wurde und wird, so wie im Falle Griechenland, einfach ignoriert. Das die sog. 4. Gewalt in Europa sowie die Zentralbank, sich als Vollstrecker betätigt haben und betätigen, sagt viel über den Zustand der sog. „Demokratie“ in Europa aus. Beschämend.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.