„Steigen Sie nicht auf die Kinder“ – Ein Wochenende in Idomeni

Über die Hauptstraßen des Flüchtlingscamps schieben sich die Massen. Es ist fast eine Art Promenade. Ein Boulevard of Broken Dreams.

Spendenkonto: Volkshilfe Solidarität – IBAN AT77 6000 0000 0174 0400
BIC BAWAATWW – Mit dem Verwendungszweck „4160230“ geht Ihre Spende direkt an die Notfall-Soforthilfe an der griechisch-mazedonischen Grenze.

„Was machen Sie da?“, sagt der Polizist. Kurzhaarschnitt, Mikroknopf im Ohr, ein ganz klein wenig dick steckt er in seiner martialischen blauen Uniform. Es ist so ein Moment, in dem man sich auf Schwierigkeiten gefasst macht. Auf keine großen, aber doch darauf, weggescheucht zu werden. Dabei wollten wir gerade vor zum Grenzzaun, zu dem kleinen, vielfach gesicherten Tor im Stacheldrahtmonstrum an der griechisch-mazedonischen Grenze. „Kommen Sie mit, ich bringe sie vor“, sagt der Polizist im nächsten Moment. „Aber geben Sie acht auf die Kinder“, fügt er noch hinzu. Und dann noch einmal: „Steigen Sie nicht auf die Kinder.“

Kleiner JungeFamilien, Frauen, kleine Kinder. Vor allem die kleinen Kinder springen in diesem Grenzlager in Idomeni sofort ins Auge. Es sind vor allem Familien, die hier gestrandet sind. Und viele Familien mit drei, vier, fünf Kindern. Kleine Stöpsel, ein-, zwei-, dreijährige, fünfjährige. „Problem mit den Dokumenten“, sagt eine Frau zu dem Polizisten. Ihr Neugeborenes hat sie um den Bauch geschnallt. „Wie alt?“, fragt der Polizist. „Drei Wochen“, sagt die Frau. Der Polizist lacht, und streicht dem Säugling über den Kopf.

Direkt vor dem Grenzzaun ist das Gedränge noch dichter als im Rest des Camps. 12.000 Menschen sind hier gestrandet, an dieser buchstäblichen Grenze der europäischen Werte. Ein paar Dutzend, höchstens wenige Hunderte dürfen jeden Tag durch das enge Nadelöhr im Stacheldrahtverhau. Wann wer dran kommt, weiß man nicht genau. Alle Leute haben Nummern, und die erwecken natürlich den Eindruck einer gewissen Geordnetheit der Abläufe. Die mit den niedrigeren Nummern kommen früher dran, die mit den höheren später. Niemand will den Moment versäumen, wenn er dran ist. Viele wohl auch einen günstigen Moment nicht versäumen, wenn mal außerplanmäßig Gruppen durchgelassen werden. Was ohnehin nicht vorkommt, aber man weiß ja nie: Nur nicht nicht dabei sein, wenn es eine Chance gibt. So drängen sich die Leute zu tausenden direkt vor dem Grenzzaun.

Ein Mann spricht uns aufgeregt an. Er ist mit seiner Frau da. Sie hat die letzte Nummer derer, die heute noch nach Mazedonien dürfen. Er ist die erste Nummer morgen. Pech, aber bürokratisch ganz in Ordnung. So zerreißt man hier Familien. „Ich werde sie doch nicht alleine gehen lassen“, sagt er. Er komme aus dem Irak, seine Frau aus Syrien. „Wie schaffe ich es da rüber“, fragt er mich. „Keine Ahnung“, sage ich.

„Bleiben Sie hier“, sagt der freundliche Polizist. „Wir werden sehen, was wir tun können. Ich helfe Euch ohnehin, wo ich kann.“

Handy Foto MengeSagen Sie das den Menschen in ihrem Land, sagt der griechische Polizist. Er hat sich freiwillig hierher abkommandieren lassen und will jetzt versuchen, sechs Monate für die Flüchtlingsbetreuung eingesetzt zu werden. „Sagen Sie das den Menschen in ihrem Land. Diese Leute hier sind doch keine Gefahr. Das sind Männer, Frauen, kleine Kinder. Ich habe Rechtsanwälte, Architekten gesehen. Diese Leute sind doch nicht hier, um unsere ‚europäische Ethik‘ zu verändern. Sie sind doch keine Bedrohung für uns.“

Es ist, als habe das Lager in den vergangenen Wochen spontan eine Art von städtischer Architektur entwickelt.

Kinder ZeltEin riesiges Zeltlager, wohin man blickt. Es ist Samstag morgen, und nach Tagen des Schlechtwetters brennt plötzlich die Frühlingssonne auf die Felder. Das Thermometer klettert in Richtung 20 Grad. Der Morast trocknet langsam auf, den der Regen der vergangenen Tage hinterlassen hat. Da sieht auch der Ort einer menschlichen Tragödie plötzlich freundlich aus. Ein wenig wie ein Festivalgelände, dessen Besucher nach einer Musiknacht langsam erwachen und sich die Zeit vertreiben, bis die Gigs des Abends beginnen.

Aber es ist nicht nur dieses Bild, auch die Menschen sind irrsinnig entspannt. Ich wundere mich, das habe ich nicht erwartet: Schließlich sind diese Menschen gestrandet, seit Tagen sitzen sie fest, manche seit Wochen. Sie wissen nicht, wie es mit ihnen weiter geht. Gerüchte kursieren. Aber sie sind entspannt. Wahrscheinlich ist es so: Wenn Du tagelang in einem verregneten Feld festsitzt, das Wasser durch die Zeltritzen dringt, Du im Gatsch versinkst – dann ist es einfach schon ein Glücksmoment, wenn plötzlich der Frühling über Dir ausbricht.

Handy Foto Gleise TagDie Felder, ganze Zeltstädte. Die Bahngleise und der Raum zwischen den Gleisen – eine Zeltstadt. Es ist, als habe das Lager in den vergangenen Wochen spontan eine Art von städtischer Architektur entwickelt. Es gibt die beiden Hauptstraßen, die in einer T-Form aneinander stoßen, und dort, wo sie sich treffen, ist gewissermaßen der Hauptplatz. Am Rande dieses Hauptplatzes gehen die großen Zelte der Hilfsorganisationen und -Initiativen ab. Die Container der Essensausgabe. Die Container von Ärzte Ohne Grenzen. Die großen Zelte von „Save the Children“. Duschcontainer. Dixi-Klos. Die Unterstände und Waschanlagen, in denen man die Kleidung waschen kann. In langen Schlangen stehen die Menschen um Essen an. Vier Stunden Schlangestehen muss man einkalkulieren, um zu einer Mahlzeit zu kommen. Wie schaffen es die Leute, ihre Kinder in diesem Gewusel nicht zu verlieren?, frage ich mich.

Abseits dieser „Zentralrouten“ ist die Peripherie des Lagers. Zeltstädte, die sich gemessen der natürlichen Geographie in so etwas wie „Bezirke“ aufteilen. Patricia, eine Helferin, die ihren einwöchigen „Urlaub“ hier verbringt, erzählt mir von Hassan, einem Geschichtsstudenten aus Syrien, der gut englisch spricht, und sagt dann den Satz, Hassan sei so etwas wie der Bürgermeister des Viertels, in dem sein Zelt steht. Schnell bilden sich Strukturen, Ansprechpartner für die Hilfsorganisationen, also Leute heraus, die an der Organisation mitwirken und von beiden Seiten als „Übersetzer“ akzeptiert sind – von der Lagerorganisation und vom Gros der Flüchtlinge.

Die freiwilligen Helfer, die seit Monaten im Einsatz sind und hier die Hilfe organisieren, haben ihr Hauptquartier rund zehn Kilometer weiter, im „Park Hotel“ von Polykastro. „Hotel“ ist ein Hilfsausdruck. Es ist ein schäbiger, aber charmanter Kasten mitten in einer Industriebrache, hier kann man auch Pommes oder Nudeln essen und Nescafe gibt es auch. Wir treffen hier Matthew, Chloe, Aslan und die anderen. Meine Freunde Erich Fenninger, der Geschäftsführer der Volkshilfe, und die Künstlerin Christine Schörkhuber, haben diesen Trip organisiert. Erstens, als Fact-Finding-Mission, damit wir einfach selbst sehen, wie die Lage hier ist. Und zweitens um unkomplizierte Hilfe auf die Beine zu stellen. Die Volkshilfe hat ja keinen internationalen Staff, der in Katastrophenfällen in Herkulesmaschinen ins Krisengebiet geflogen wird – sie versucht daher Hilfe vor Ort zu unterstützen. So auch hier. Schnell war die Idee geboren: Die Volkshilfe sammelt Spenden und richtet mit diesem Geld ein Guthaben bei einem örtlichen Supermarkt ein, sodass die Volunteers vor Ort nur mehr per Mail an den Filialleiter durchgeben müssen, was gebraucht wird. Und schon steht es bereit, um ins Vorratslager der Helfer gebracht zu werden. Das muss man jetzt nur mehr praktisch organisieren. – Kontonummer am Ende dieses Reports beachten, bitte schön!

„Wir brauchen dringend Babynahrung“, sagt Chloe und wir werfen uns in unsere Autos. Es ist Samstag Nachmittag und wir sind in einem Kaff in Nordgriechenland, da ist nicht so sicher dass man noch einen offenen Supermarkt findet. Zwei Lidl-Märkte fahren wir ab, aber es gibt keine Babynahrung. Wir rasen in die nächstgrößere Stadt, dort finden wir einen großen Metro. Chloe hat einen Zettel mit Proteinangaben, den die Ärztin ihr gegeben hat. Es braucht äußerst nahrhafte Babymilch, da viele Mütter selbst so unterernährt und erschöpft sind, dass sie keine Muttermilch mehr haben. Die unterernährten Kinder brauchen gutes Zeug, um wieder zu Kräften zu kommen. Mit drei vollen Kofferraumladungen Milupa fahren wir wieder zurück.

Zelte SpiegellackeAls wir ins Lager zurück kommen, wird es langsam dunkel. Über die Hauptstraßen schieben sich die Menschenmassen. Diese Wege sind fast so etwas wie Promenaden, Boulevards of Broken Dreams, bevölkert von Schutzflehenden, die in der Sackgasse Europa festsitzen. Und dennoch fühlt man sich hier seltsam wohl. Jeder geht achtsam mit den anderen um. „Ist Dir schon aufgefallen, dass einem hier kaum jemand anrempelt, nicht einmal so zufällig, wie das in so einer Menge normal wäre?“, sagt Erich.

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Kinder hüpfen lachend durch die Gegend, auf den Bahngleisen übt eine Helferin mit einer Bubengruppe jonglieren. Die NGO „Moving Europe“ hat einen Lastwagen, ein Stromaggregat und einen Beamer herangekarrt und auf einem Feld ein „Kino unter Sternen“ aufgebaut. Wall-E, der Schrottroboter, rollt über die Leinwand und hunderte Kinder zappeln im Sitzen vor lauter Lachen.

Kinder KinoÜberall lodern Lagerfeuer. Über der Szenerie hängt der beißende Geruch, der daher rührt, dass einfach alles verbrannt wird, was greifbar ist, weil es nicht genug Brennholz gibt. Plastikflaschen, kaputte Zelte, alles mögliche geht in Flammen auf. Darüber grillen die Leute Kartoffeln in Stanyolpapier.

Die Scheinwerfer und die Rauchschwaden ergeben ein seltsames, tanzendes Lichtspiel, und die Kinder hüpfen durch die Lichter und die Schwaden, als wäre es Theaternebel.

P1030985Die Familien machen das beste aus einer unmöglichen Situation. Als Journalist fühlt man sich in solchen Momenten oft als Eindringling und Störenfried, der die Opfer für seine Katastrophenpornos ausbeutet, aber nicht hier. Im Gegenteil: Die Kinder laufen lachend um uns herum, es fühlt sich nicht peinlich an, sie zu fotografieren, weil sie alle fotografiert werden wollen. Für sie sind wir Reporter einfach Action, die ein wenig Leben hier herein bringen. Die Eltern lächeln auch. Wir beschäftigen immerhin ihre Kinder, die sonst ja nichts zu tun hätten. So wird den Kleinen wenigstens nicht fad, so laufen sie wenigstens nicht davon und gehen nicht verloren.

Der Außenminister spottet über die Moralisierer und stellt sich als Vertreter kühler Vernunft dar. Hütet Euch vor den Adepten der unmoralischen Vernunft. 

Aber natürlich täuscht all die Ausgelassenheit. Beim nächsten Regenguss ist das hier wieder das elende Ende der Welt, das es noch vorgestern war. Zu wenig Toiletten, zu wenig essen, seit 12 Tagen habe ich nicht geduscht, sagt mir ein 30jähriger als Homs in Syrien. Was er erwartet, was er plant, wie er glaubt, aus dieser Sackgasse rauszukommen, frage ich ihn. „Was weiß ich denn?“, sagt er. „Hab ich eine Ahnung? We are hoping for the Council of the European Union.“

Gleise NachtDomino der Vernunft hat Österreichs Außenminister die Politik genannt, die diese Krise verursacht hat. Domino, das klingt nach einem lustigen Spiel. Aber Domino ist eben ein Spiel, bei dem auf der einen Seite einer einen Stein umwirft, und dann fällt eine lange Schlange und am Ende der Schlange fallen die letzten Steine. Ich bin hier am Ende der Schlange, bei den Schutzflehenden und den Kindern, denen die Steine auf den Kopf fallen. Sagen wir es offen: Bei den Opfern von Kurz‘ Domino. Daheim titelt der Rabiatboulevard, dass jetzt wieder alle gegen Österreich seien. Er schraubt sich in die Weinerlichkeit und die wohlbekannte österreichische Opfermentalität: Wir Armen! Alle gegen uns! Wie ungerecht! Diese übliche Weinerlichkeit hat ja sonst auch etwas Unappetitliches, aber von hier aus gesehen nimmt sie sich schier Ungeheuerlich aus: Wir? Die Opfer? Fahrt mal hier her, damit ihr ein wenig seht, wie Opfer aussehen. Wie moralisch verrottet muss man sein, sich angesichts dessen über Österreichs Opferrolle zu beklagen?

Domino der Vernunft. Vernünftig ist, harte Entscheidungen zu treffen, Moralisieren dagegen sei unvernünftig, so lautet die Storyline. Vernünftig sei es, die Grenzen dicht zu machen und die unkontrollierte Einreise zu stoppen (und damit die kontrollierte Einreise gleich mit). Ganz abgesehen davon, dass es keineswegs vernünftig ist, zu behaupten, die Flüchtlinge sollten in einem Land wie dem Libanon bleiben, in dem heute 40 Prozent der Bevölkerung aus Kriegsflüchtlingen besteht, während wir überfordert seien, bei einem Bevölkerungsanteil von gerade einmal einem Prozent Flüchtlingen. Ganz abgesehen also davon, dass dies keineswegs die vernünftigste Art des Umgangs mit der gegenwärtigen Situation ist, denn jetzt wird im besten Falle Griechenland zu einem gigantischen Flüchtlingslager umgebaut, zum Libanon Europas, aber einmal vorausgesetzt, es wäre eine vernünftige Entscheidung, eine Entscheidung der kalten Vernunft, dem Motto folgend, „wo gehobelt wird da fliegen Späne“; eine solche kalte, instrumentelle Vernünftigkeit, die war mir schon bei den Leninisten unsympathisch und ist es mir erst recht in der mickrigen Schwundform der österreichischen Außenpolitik. Eine Vernünftigkeit, die über Opfer, über Menschen, über Kinder geht, hätte meinen Applaus auch dann nicht, wenn sie tatsächlich vernünftig wäre. Pure Vernunft darf niemals siegen, singen Tocotronic.

Kleidung am ZaunEinen antihumanistischen Kurs nennt das David Schalko, ein Kurs, der den Sieg der Struktur über das Chaos feiert, der sich im Satz des Außenministers verdichtet, dass es ohne diese Bilder nun einmal nicht gehe: Ohne diese Bilder des Elends. Entlarvend, dass Kurz von „Bildern“ spricht, als handele es sich um eine mediale Phantasmagorie, um bloße Bilder. Es sind aber keine Bilder, zumindest nicht in erster Linie, in erster Linie ist es die Wirklichkeit. Es sind nicht Bilder des Elends. Es sind Menschen, die wirklich leiden.

Hütet Euch vor den Leuten, die die Vernunft gegen die Moral ausspielen, und spöttisch auf die Moralischen zeigen, hütet Euch vor den Leuten, die sich mit ihrer anscheinenden kühlen Vernünftigkeit großtun.

Es wird Zeit für eine Generalkritik der unmoralischen Vernunft.

Spendenkonto: 

Volkshilfe Solidarität: 

IBAN AT77 6000 0000 0174 0400
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Mit dem Verwendungszweck „4160230“ geht Ihre Spende direkt an die
Notfall-Soforthilfe an der griechisch-mazedonischen Grenze.

3 Gedanken zu „„Steigen Sie nicht auf die Kinder“ – Ein Wochenende in Idomeni“

  1. Ein Bericht der versucht neutral zu informieren, ohne zu dramatisieren obwohl es ein Drama ist. Der mitfühlende Menschen bewegt.
    Wo ein Funken Hoffnung ist, ist Leben. Schicksal ungewiss.
    Danke.

  2. Toller,außergewöhnlicher Bericht.
    Meine große Bitte wäre aber respektieren Sie uns 2 Mio. Mazedonier (ich muss auch noch dazu setzten griechische Mazedonier). Das Nachbarland von Griechenland heißt FYROM. Wenn sie das Land als Mazedonien bezeichnen, wer sind wir dann? Diskriminieren sie bitte nicht eine der ältesten, lebendigen, europäische Volksguppe. Benutzen Sie doch einfach die offizielle (UN, EU, NATO) Landesbezeichnung. Unterstützen Sie nicht die nationalistischen und intoleranten, politischen Tendenzen in FYROM durch eine „Vereinfachung“ der Landesbezeichnung.

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