Mut zur Verwegenheit

Wozu noch Sozialdemokratie? Vorwärt, August, 2016

Die globale kapitalistische Maschine krächzt und keucht – und das ist längst nicht nur mehr eine Nachwirkung der Finanzkrise von 2008. Im Gegenteil: Diese Finanzkrise war selbst eher ein Krisensymptom als eine Krisenursache. Der zeitgenössische Kapitalismus zeichnet sich vielmehr aus durch:
– Deutlich niedrigere Wachstumsraten als in der Vergangenheit.
– Einen hohen Verschuldungsgrad aller Wirtschaftssubjekte, also Staaten, privater Haushalte und des Unternehmersektors.
– was ja, zusammengenommen, heißt: trotz ökonomischer Aktivitäten auf Pump können kaum mehr nennenswerte Wachstumsraten erzielt werden.
– daraus folgt eine Instabilität auf den Finanzmärkten, auf denen Gläubiger und Schuldner miteinander verbunden sind.
– dramatisch wachsende Ungleichheiten
– ein wachsender Druck auf niedrige und mittlere Einkommenssegmente, da es viel weniger gute Jobs gibt, als nötig wären
– eine Dynamik, die durch die neue und nächste technologische Revolutionen noch verschärft wird: Wenn nicht mehr nur rein routinisierte, sondern vor allem auch High-Quality-Jobs durch Digitalisierung und Robotisierung ersetzt werden, auf der anderen Seite aber allenfalls schlecht bezahlte Jobs im Bereich der persönlichen Dienstleistungen entstehen, dann verschärft sich der Lohndruck noch mehr.

Stagnation beim Wachstum, steigende Gewinnquoten, sinkende Lohnquoten, ein Auseinandergehen der Einkommensschere – all das sind Symptomatiken eines ökonomischen Systems, das einfach nicht mehr so funktioniert, wie man es viele Jahrzehnte lang gewohnt war. Das stellt auch soziale und demokratische Reformpolitik vor die Schlüsselfrage: Was, wenn das, was unter den Bedingungen der Vergangenheit funktioniert hat, heute nicht mehr funktioniert? Ist dann nicht dem sozialdemokratischen Reformismus der ökonomische Boden entzogen?

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All das sind jedenfalls Fragen, die längst schon im ökonomischen Mainstream angekommen sind. Die Diagnose der „secular Stagnation“ – der „langandauernden Stagnation“ – vor 20 Jahren vom radikal linken Ökonomen Robert Brenner erstmals formuliert, wird heute schon wie selbstverständlich gebraucht, etwa vom Ex-US-Finanzminister Lawrence Summers. James K. Galbraith spricht vom „Ende der Normalität“, Paul Krugman vom „permanenten Niedergang“. Und auch das Wort vom „stationären Zustand“ – ohne großes Wachstum – ist heute in aller Munde.

Eine Sozialdemokratie, die in einer solchen Situation reüssieren will, braucht erst einmal ein akkurates Verständnis der Wirklichkeit und dann Konzepte: Aber hat sie die? Wie kann man soziale Gerechtigkeit hinbekommen, oder auch nur verhindern, dass die Verlierer unter die Räder kommen, wenn es keine nennenswerten Wohlstandszuwächse mehr zu verteilen gibt und die innere Dynamik der Veränderungen eher dazu neigt, automatisch bei Zuwächsen bei den Winnern zu sorgen und den Massenwohlstand zu untergraben? Das sind doch die Schlüsselfragen für die kommenden 20 Jahre.

Um unter diesen Bedingungen ein gutes Leben für möglichst viele zu garantieren, braucht es höchstwahrscheinlich erstmals wirkliche Umverteilung des Wohlstandes, nicht bloße gerechte Verteilung der Zuwächse; ein Steuer- und Abgabensystem, dass durchautomatisierte Branchen gegenüber arbeitsintensiven nicht auch noch privilegiert; ein sukzessives Umsteuern des Steuersystems hin zu Vermögens- und Gewinnsteuern; wohl auch eine kluge, aber radikale Arbeitszeitverkürzung; eine Aufwertung des staatlichen und des gemeinnützigen/genossenschaftlichen Sektors gegenüber den privatwirtschaftlichen Sektor. Kurzum: Es braucht so etwas wie einen „revolutionären Reformismus“. Und die absolute Glaubwürdigkeit, dass Sozialdemokraten auf der Seite jener stehen, die Gefahr laufen, unter die Räder zu kommen.

All das unter den Bedingungen einer Zukunft, die ungewiss ist. Auf Ungewissheit reagiert man üblicherweise mit Vorsicht. Vorsicht bremst aber wiederum entschiedenes Handeln. Es bräuchte aber Entschiedenheit und Verwegenheit unter den Bedingungen der Ungewissheit.

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