Zehn Thesen zum Kaputtalismus

Ein Debattenbeitrag für das Magazin „Hohe Luft“

1.

Es ist zwar wahr, dass der Neoliberalismus den globalen Kapitalismus in eine schwere Krise geführt hat – aber im Kern ist nicht der Neoliberalismus die Ursache der Krise, sondern eine krisenhafte Entwicklung die Ursache des Neoliberalismus. Die stabile Prosperität des Nachkriegsbooms in den USA und in Westeuropa ist ja nicht deswegen zu Ende gegangen, weil die globalen Eliten auf die neoliberale Doktrin umgeschaltet haben, die Eliten reagierten nur – und das halb bewusst und vorbereitet, halb unbewusst und provisorisch -, auf die Abflachung der stabilen Prosperität.

2.

Darin zeigt sich: Die Eliten geben sich nicht langsfristig mit einem großen Stück vom Kuchen zufrieden – sie wollen praktisch den ganzen Kuchen, auch um den Preis, dass der dann kleiner und ranziger wird. Und dass sie kurzsichtig genug sind, ein System, von dem sie profitieren, gemäß der Maxime „tanzen, solange die Musik nicht ausgeht“, sogar an die Wand zu fahren.

3.

Der Kapitalismus hat seine historischen Meriten: Entfesselung der Produktivkräfte, rasantes Wachstum des Wohlstandes, dynamisches Produktivitätswachstum. Aber damit geht es langsam aber sicher zu Ende. Und die Kosten, die der Kapitalismus ohnehin produziert, sollen nicht übersehen werden: Er zerstört die Lebenswelten in sozialer und ökologischer Hinsicht, reduziert jede soziale Beziehung auf eine Geschäftsbeziehung, vergiftet alles mit dem Ungeist von Wettbewerb und Egozentrik, sogar da, wo Kooperation bessere wirtschaftliche Ergebnisse zeitigen würde, beharrt auf dem Primat von Eigentum, wo unbeschränkter Zugang (etwa zu Wissen) einen Fortschritt brächte. Kurzum: Ganz so schade wäre es ja nicht um ihn, würde er durch irgendetwas anderes ersetzt.

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4.

Aus intrinsischen ökonomischen Gründen reduzieren sich seit nunmehr vierzig Jahren Wachstumsraten und der Produktivitätszuwachs. Damit reduzierten sich Wohlstandsgewinne, Nachfragezuwachs, Renditeaussichten der Unternehmen etc. Auf diese krisenhafte Entwicklung wurde mit einer Dämpfung von Lohnzuwächsen und Einkommensstagnation reagiert, was aber wiederum eine Anti-Krisen-Reaktion ist, die die Krise nur verschärfte. Absatz- und Renditeaussichten blieben erst Recht unter den Möglichkeiten zurück. Jede Antwort auf die Krise verschärfte sie wiederum. Daraus entstehende gestiegene Arbeitslosenraten entfalteten ihrerseits einen Abwärtsdruck auf Löhne und Gehälter.

5.

In einer solchen Situation blasen sich die Finanzmärkte mit anlagesuchendem Kapital auf. Vornehmlich über kreditfinanzierte Konsumausgaben wurde versucht, noch ein einigermaßen erträgliches Wachstumsniveau zu halten – sei es, indem sich die Staaten verschuldeten, sei es, indem man, wie vor allem im angloamerikanischen Raum, die privaten Haushalte zur Verschuldung animierte. Dieser perverse Pseudokeynesianismus, der mehr den Konsum als langfristige Investitionen finanzierte, pumpte die Finanzmärkte erst recht auf und entfaltete quasi als Spill-Over zusätzliche intrinsische Instabilitäten. Das Krisensymptom wird im Level Zwei zur weiteren Krisenursache.

Der Kapitalismus wurde schon von vielen Leuten totgesagt, die die Eigenschaft haben, dass sie heute selbst tot sind, während der Kapitalismus überlebt hat und sich als äußerst anpassungsfähig erwiesen hat. Der Kapitalismus war stets überraschend vital. Doch das heißt nicht zwingend, dass er das auch heute und in Zukunft noch ist. Sowenig, wie es in der Vergangenheit eine „notwendige Determination“ zum Untergang des Kapitalismus gab, so wenig gibt es natürlich auch eine „notwendige Determination“ zu seiner ewigen Überlebensfähigkeit.

6.

Die technologische Entwicklung hat einen nicht unerheblichen Einfluss auf diese Krisentendenzen. Einerseits, weil oberhalb eines bereits erreichten hohen Produktivitätsniveaus selbst großartige Innovationen nur mehr – relativ gesehen – geringe Produktivitätszuwächse bringen. Der US-Ökonom Robert Gordon erklärt das sehr anschaulich an einem sehr simplen Beispiel: 1850 bewegten sich die meisten Menschen allenfalls mit Pferdekutschen voran – Durchschnittsgeschwindigkeit 10 km/h. Etwas mehr als hundert Jahre später hatte die Menschheit ihre Geschwindigkeit auf die rund 900 km/h erhöht, mit der die Boing 747 flog. Sehr viel mehr Beschleunigung geht nicht mehr. Jüngste technologische Entwicklungen haben aber einen zusätzlichen Effekt: Der „Strukturwandel“ schafft, anders als in der bisherigen Geschichte, keine „besseren“ Jobs in „besseren“ Branchen. Die industrielle Revolution vernichte Jobs in der Landwirtschaft, schuf aber besser bezahlte in der Industrie. Somit wuchsen die konsumierbaren Einkommen, und die gestiegene Nachfrage befeuerte wiederum das Wachstum. Heute vernichtet Rationalisierung die Jobs in der Industrie, ohne dass ausreichend viele, ausreichend gut bezahlte entstehen. Erstmals führt technologischer Fortschritt daher zu einem Abwärtsdruck auf Einkommen. Erik Bjyrnsolfson und Andrew McAfee, zwei führende Forscher des Massachusetts Institute of Technology, sprechen in ihrem Buch „The Race Against the Machine“ von einer „großen Abkoppelung“ – erstmals bleibt die Einkommensentwicklung signifikant hinter Wachstumsraten und Produktivitätszuwachs zurück.

7.

Daher wächst die ökonomische Ungleichheit, und zwar egal, welche Parameter man anlegt. Wegen des Einkommensdrucks auf die unteren Einkommenssegmente wächst die Einkommensungleichheit, und noch mehr wächst wegen der Umverteilungseffekte über die Finanzmärkte die Vermögensungleichheit. Wachsende Ungleichheit hat aber ihrerseits negative Effekte: Einkommen, die die Konsumnachfrage stützen könnten, wandern in gehobene Einkommenssegmente mit einer hohen Sparneigung, was seinerseits wiederum das Wirtschaftswachstum reduziert.

8.

Alle die hier angedeuteten Effekte wirken nicht bloß auf sich allein, sondern entfalten auch wechselseitige Rückkopplungseffekte. Das vom linken US-Ökonomen Robert Brenner geprägte Wort von der „secular Stagnation“ („langandauernde Stagnation“) ist heute auch unter Mainstream-Forschern in aller Munde. Auch Larry Summers, legendärer Wall-Street-Mann und Ex-Finanzminister Bill Clintons, benützt es wie selbstverständlich. Wirtschaftsnobelpreisträger Paul Krugman wiederum spricht bereits vom „permanenten Niedergang“.

9.

Keines der genannten Indizien beweist, dass der Kapitalismus notwendigerweise kaputt geht und sterben wird. Gewiss, man hüte sich vor Zusammenbruchstheorien. Der Kapitalismus wurde schon von vielen Leuten totgesagt, die die Eigenschaft haben, dass sie heute selbst tot sind, während der Kapitalismus überlebt hat und sich als äußerst anpassungsfähig erwiesen hat. Der Kapitalismus war stets überraschend vital. Doch das heißt nicht zwingend, dass er das auch heute und in Zukunft noch ist. Sowenig, wie es in der Vergangenheit eine „notwendige Determination“ zum Untergang des Kapitalismus gab, so wenig gibt es natürlich auch eine „notwendige Determination“ zu seiner ewigen Überlebensfähigkeit. Jedenfalls gibt es, um das vorsichtig zu sagen, ausreichend viele Indizien, die darauf hindeuten, dass die „kapitalistische Maschine“ heute nicht mehr so funktioniert, wie sie das in der Vergangenheit tat. Oder anders gesagt: Die Maschine ist kaputt, und eigentlich hat niemand einen Plan, wie man sie wieder flott bekäme.

10.

Wenn diese Indizien nur einigermaßen plausibel sind, dann sollte man sich zu überlegen beginnen, wie es eigentlich weiter gehen könnte. Denn dann gibt es grob gesagt drei Möglichkeiten. Erstens: Finaler Crash, Kollaps, Kolbenreiber. Zweitens: Ein langsamer, stetiger Niedergang mit mehr Krise, mehr ökonomischen Stress, mehr Frust und noch mehr sinkender Zukunftszuversicht. Drittens: Eine langsame, sukzessive Transformation zu irgend etwas anderem, mag man das wie Paul Mason „Postkapitalismus“ nennen oder irgendwie anders.

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