Philosophie der Einsamkeit

Martin Hecht hat einen klugen Großessay über „die Einsamkeit des modernen Menschen“ geschrieben.

Falter, August 2021

Einsamkeit ist schon seit einigen Semestern der letzte heiße Scheiß. Sie sei eine „Epidemie im Verborgenen“ wird konstatiert, Sozialpsychologen schreiben populäre Bücher darüber, es wird beschrieben, dass sie unter Studierenden genauso grassiert wie unter alleinlebenden Rentnern und Rentnerinnen, sogar in schlecht funktionierenden Paarbeziehungen macht sie sich breit, wenn sich Menschen nur mehr anschweigen. Existenzielle Einsamkeit kann das ganze Dasein unterminieren und Mediziner haben nachgewiesen, dass sie Herz-Kreislauf-Erkrankungen und viele andere Pathologien auslösen kann. Kaum eine Zeitung, die sich nicht dem „Lebensgefühl unserer Zeit“ („profil“) gewidmet hat. In Großbritannien haben sie sogar eine Regierungsbeauftragte gehabt, die dann als global erste „Einsamkeitsministerin“ für Schlagzeilen sorgte, und durch die Corona-Maßnahmen wurde das Thema noch einmal virulenter. Ende Juni waren dem „Spiegel“ die verschiedenen Aspekte der Einsamkeit eine fette 6-Seiten-Story wert.

Man kann also getrost das Urteil abgeben, dass zum Thema „Einsamkeit“ schon viel gesagt ist. Und Dennoch ist es dem deutschen Sachbuchautor und Journalisten Martin Hecht gelungen, ein Buch über „Die Einsamkeit des modernen Menschen“ zu schreiben, das über das tägliche Geplapper hinaus geht. Denn mit soziologischen Kategorien alleine, etwa über die Zunahme von Single-Haushalten, die heutige Mobilität, die sehr viele Leute in Städte verschlägt, in denen sie niemanden kennen, über den Zerfall der Familie und die daraus folgende Einsamkeit der Alten ist es bei dem Thema nicht getan. Hecht hat eine Art „Philosophie der Einsamkeit“ geschrieben. Einsamkeit, so konstatiert er, ist „eine Art soziales Virus, das kollektiv über die gesamte Gesellschaft gekommen ist“.

Die Moderne ist eine Geschichte der Individualisierung und das heißt zunächst: das entwickelte Individuum, das seine Freiheit lebt, seine Talente entwickelt, wird zu einem hohen gesellschaftlichen Wert. Zugleich werden alte traditionelle Bindungen zersetzt, im Dorf, in überschaubaren Kollektiven, in der Familie. „Alles Ständische und Stehende verdampft“, hatte schon Karl Marx proklamiert. Zunächst entstehen damit noch neue Bindungen und Solidaritäten, in den Stadtvierteln, durch die Arbeiterbewegung, in Parteien, Vereinen, was auch immer. Aber mit den zweiten Individualisierungsschüben gehen auch diese Bindewirkungen verloren. „Mach Dein Ding“, wird zum Zeitgeist. All das ist hochgradig ambivalent. Der legendäre Soziologe Georg Simmel hat schon vor hundert Jahren beschrieben, wie uns etwa die moderne Geldwirtschaft befreit: Wir müssen uns mit dem Bäcker nicht mehr anfreunden, er gibt uns Brot, wenn wir ihm für ein „Bitte“ und „Danke“ ein paar Münzen auf dem Tresen legen. In den modernen Städten können wir nebeneinander her leben, sind befreit von sozialer Kontrolle.

Die alte Enge in der kuhwarmen Küche, sie war bedrückend, und die Menschen hatten ihre Gründe, aus ihr auszubrechen. Millionen Menschen haben bewusst die Freiheit der Individualisierung gewählt, und über Millionen andere kam sie, gewissermaßen via sozialen Wandel, von selbst. Der Preis ist aber existenzielle Einsamkeit. Philosophie der Einsamkeit weiterlesen

Die Eigentorjäger

Die SPÖ sollte als stärkste Oppositionspartei die Kurz-Regierung jagen, versinkt aber in Zanksucht und Selbstbeschädigung. Eine Geschichte von langen Konflikten und sozialer Imkompetenz hat dazu beigetragen. Wie kommt man da raus?

Falter, Juli 2021

Schock, Ratlosigkeit, lange Gesichter. Als beim SPÖ-Parteitag bekannt wurde, dass die Parteivorsitzende von beinahe 25 Prozent der Delegierten gestrichen worden war, waren die allermeisten wie von einer Keule getroffen.

Damit hatte nun wohl keiner gerechnet.

Gewiss, dass viele mit der Parteivorsitzenden unzufrieden waren, war klar. „Die kann es nicht“, das ist einer dieser Sätze, die sich manche fast schon routinemäßig zuraunen. Einige würden sich wünschen, dass Pamela Rendi-Wagner häufiger bei Landesparteichefs oder wichtigen Bürgermeistern anruft, oder sie werfen ihr vor, dass sie an ihrem Bundesgeschäftsführer festhält. Wieder andere sind auf irgendetwas anderes sauer, was gar nichts mit der Parteivorsitzenden zu tun hat, kühlen aber an ihr ihr Mütchen, weil irgendjemanden muss man es halt mal „zeigen“.

Aber eine Prise von der faden, alten Parteidisziplin hatten die meisten fix erwartet. Denn was hat man denn davon, wenn man die eigene Frontperson beschädigt? Wochenlange Schlagzeilen, eine Partei, die sich selbst ohne Not zum negativen „Sommerthema“ macht. Ersatzperson hat sowieso niemand eine in der Tasche. Die Eigentorjäger weiterlesen

Identität, nein danke

Der große karibisch-britische Kulturtheoretiker Stuart Hall in posthumen Schriften und seiner atemberaubenden Autobiografie.

Eine der seltsamen Eigenschaften unserer Zeit ist, dass umso mehr von „kultureller Identität“ die Rede ist, je weniger es davon gibt. Die radikalen Rechten wollen explizit die „Kulturen“ auseinanderhalten, linke Identitätspolitik hält eine Äußerung für unangreifbar, sobald sie etwa vom Standpunkt einer diskriminierten Identität aus geäußert wird. Beide tappen in die Falle eines Identitätsbegriffes, „der dazu neigt, die Verbundenheiten mit den Ursprüngen besonders zu betonen und Kontinuität, Beständigkeit und unveränderliche Verwurzelung unterstellt“. So formuliert das Stuart Hall, der große jamaikanisch-britische Kulturtheoretiker in seinen Lebenserinnerungen. „Vertrauter Fremder – Ein Leben zwischen zwei Inseln“. 82jährig ist Hall vor sechs Jahren verstorben, die Autobiografie ist posthum im Frühjahr erschienen, ebenso wie der Essayband „Das verhängnisvolle Dreieck“, im Vorjahr bei Suhrkamp aufgelegt. Identität, nein danke weiterlesen

„Koste es, was es wolle“

Der Staat als zentraler Wirtschaftsakteur, Defizite, die niemanden kümmern und billiges Geld, das unbegrenzt zur Verfügung steht – ist das schon das Ende des Neoliberalismus? „Change is coming“ proklamiert jetzt sogar der „Economist“.

Falter, Oktober 2020

Überall bricht die Nachfrage ein, weil in der Hochphase der Pandemie Teile der Wirtschaft abgeschaltet wurden, aber vorranging deshalb, weil die Menschen einfach ihr Geld nicht ausgeben. Weil sie nicht ausgehen, weil sie nicht verreisen, weil der Tourismus brach liegt; es reißen auch Lieferketten ab, weil Produktion ausfällt und Logistikunternehmen an geschlossenen Grenzen hängen bleiben. Die Konsumnachfrage ging in den Hochphasen des Infektionsgeschehens um 25 bis 30 Prozent zurück, und zwar relativ unabhängig davon, ob ein Land einen strengen Lockdown verhängte (wie etwa Dänemark) oder eher lässigere Regeln praktizierte (wie etwa Schweden). Unternehmen investieren logischerweise nicht, fahren ihre Produktionskapazitäten zurück.

Jetzt rollt langsam die Insolvenzwelle an. Konzerne streichen hunderte Arbeitsplätze, schließen Produktionsstandorte. Viele gehen unter. Es droht der Verlust von tausenden Unternehmen und Massenarbeitslosigkeit, die dann erst Recht eine Abwärtsspirale und Dominoeffekte von bisher kaum gekanntem Ausmaß in Gang setzen werden – wenn die Regierungen nicht viel entschlossener als bisher dem entgegen treten werden: mit Direkthilfen für Unternehmen (und nicht nur mit Stundungen von Steuer- und Sozialversicherungskosten), mit Rekapitalisierung insolventer Unternehmen, mit Verstaatlichungen und massiven öffentlichen Investitionen in Infrastruktur, staatliche Dienstleistungen, Digitalisierung und ökologische Transformation.

Das wird seine Auswirkungen haben: Das neoliberale Grundparadigma, dass sich der Staat in die Wirtschaft nicht einmischen solle, wird endgültig auf der Giftmülldeponie der Ideologiegeschichte endgelagert. Letztendlich ist dieses Postulat schon in der Finanzkrise schwer ins Wanken geraten. Erstens, weil deregulierte Finanzmärkte, weit davon entfernt, für eine „effiziente Allokation“ des Kapitals zu sorgen, den globalen Kapitalismus an den Rand des Kollaps gebracht hatten, zweitens, weil die Finanzinstitutionen von den Staaten gerettet werden mussten, drittens, weil überall mit Konjunkturprogrammen, mit staatlich finanzierter Kurzarbeit und anderen Maßnahmen die Wirtschaft wieder angekurbelt werden musste. Aber es war kein vollständiger Untergang der wirtschaftsliberalen Irrlehre. „Koste es, was es wolle“ weiterlesen

Denkmalsturz

Arbeit am nationalen Gedächtnis, oder: Wie kann man mit Fingerspitzengefühl einen Vorschlaghammer bedienen?

Falter, Juni 2020

Wenn Revolutionen aufbrausen, dann fallen immer auch die Denkmäler, und das ist auch gut so. Hitler-Plätze gibt es in unseren Städten keine mehr und in den vergangenen dreißig Jahren sahen wir überall Statuen wackeln und dann kippen: Lenin-Statuen, die letzten Stalin-Denkmäler, auch die grobkornigen Bilder des kippenden Saddam-Hussein-Standbildes haben viele von uns noch vor Augen.

Ganz ähnlich erging es jetzt auch dem reichen Sklavenhändler aus Bristol, den eine Menge bei einer Antirassismus-Demonstration vom Sockel holte und ins Meer warf. Vandalismus? Hätte man alle Standbilder stehen gelassen, die jemals errichtet wurden, in unseren Städten stünden viele finstere Gesellen herum. Spontaner Volkszorn, der Verbrecher vom Sockel holt – er hat sowieso seine eigene politische Energie und sein eigenes Recht.

Freilich: In unseren Städten stehen genügend Denkmäler herum, die wir heute so nicht mehr errichten würden. Reiter- und Kriegerdenkmäler irgendwelcher Aristokraten und Heerführer, scheinbar unschuldige Standbilder unserer großen geistigen Vorväter, Leute mit zweifelhafter historischer Bilanz von Karl Lueger bis Che Guevara. Denkmalsturz weiterlesen

Die Gesellschaft der Verwundeten

Das letzte Tabu: Unsere Gesellschaft ist voll mit Menschen, denen fortgesetzt Verletzungen und Kränkungen zugefügt werden. Aber über dieses Leiden reden wir nicht. Kaum eine gesellschaftliche Pathologie, die nicht darin ihre Ursache hat.

Der Falter, 33/2019

Blickt man sich um, sieht man Verwundete, aber man nimmt sie nicht wahr. Unsere Welt ist eine Welt der Beschädigten, die mit der Verarbeitung ihres Leids beschäftigt sind. Natürlich betrifft das nicht alle in unserer Gesellschaft. Aber einen gehörigen Teil. Fünfzehn Prozent? Zwanzig Prozent? Man weiß das nicht genau. Statistisch kann man sich dem natürlich annähern, wenn man Einkommensdezile oder Armutsgefährdungsquoten hernimmt. Aber ob Menschen ihre Lage als ausweglos wahrnehmen und sich selbst als Geschundene, als Verlierer sehen, hängt ja von mehr ab als nur von der reinen, nackten ökonomischen Lage. Manche haben ökonomische Krisen, ihnen fehlt am Monatsende Geld am Konto, aber zugleich machen sie auch Abwertungserfahrungen. Manche leben in sterbenden Regionen, andere nicht.

Knappheit und Abwertungsgefühl: das eine ist mit dem anderen nicht immer identisch, beides geht nicht immer miteinander einher, oder oft mischt es sich in den verschiedenen Graustufen. Kränkungen produzieren Traumata. Verwundungserlebnisse addieren sich, sie türmen sich aufeinander. Die kleinsten Verwundungserfahrungen schieben sich übereinander, werden mächtig, ergreifen Besitz von den Befallenen. Zorn, Aggression, Abwehr. Die Welt ist von Gefühlen getrieben, und meist von miesen. Jeder hat seine Beweggründe, die meist niedere Beweggründe sind. Die Gesellschaft der Verwundeten weiterlesen

Die österreichische Pasionaria

Rosa Jochmann war die große Frau des österreichischen Sozialismus des 20. Jahrhunderts. Betriebsratsvorsitzende mit 19 Jahren, Parteiführerin mit Ende zwanzig, Untergrundkämpferin in ihren Dreißigern. Sie überlebte acht Jahre Gefängnis und KZ. Eine neue Biografie zeichnet jetzt dieses Ausnahmeleben nach.

Eine Kurzfassung dieses Beitrages erschien in der dieswöchigen Ausgabe des „Falter“

„Man meint, dass man sich kennt, aber es ist in Wirklichkeit nicht wahr“, schrieb Rosa Jochmann in späten Jahren in einem Brief. Und an vielen anderen Stellen bemerkt sie, dass sie nie ganz aus dem Konzentrationslager Ravensbrück, in dem sie fünf Jahre gefangen war, herausgekommen ist. „Jede Nacht träume ich von dieser furchtbaren Zeit“, wer sie überlebte, „bleibt ein ewig Gefangener“, ist „durch das Tor des Lagers nur scheinbar in die Freiheit gegangen“. Wer sie noch gekannt hat, oder gehört hat, bei ihren großen Auftritten als rebellische alte Dame, mit ihrem aus der Zeit gefallenen Pathos, etwa in den achtziger Jahren bei Demonstrationen gegen Kurt Waldheim oder noch 1992 beim großen „Lichtermeer“, für den war Rosa Jochmann irgendwann bloß noch die „Zeitzeugin“, die von Haft, Verfolgung, Lager Geschundene, Heldin und Opfer zugleich. Oder, anders gesagt: Noch fast fünfzig Jahre nach der Befreiung eine KZlerin. Als hätte sie nie ein anderes Leben gehabt als das, das ihr die Nazis aufgezwungen hatten.

Die Wiener Historikerin Veronika Duma hat nun erstmals eine umfassende Biografie dieser großen kleinen Frau und legendären Sozialistin vorgelegt: „Rosa Jochmann – Politische Akteurin und Zeitzeugin.“ Was diese Frau erlebt hat, wie schnell sie in wichtige Positionen aufstieg, wie sie im Alltag und in historischen Momenten eine Akteurin war – auch gegen alle Wahrscheinlichkeiten und auch in einer Partei, die es ihr natürlich nicht leicht gemacht hat, ihr, dieser jungen Hilfsarbeiterin, einer Frau noch dazu in männlich geprägten Politiknetzwerken.

Video: Ein ORF-TV-Porträt von Trautl Branstaller über Rosa Jochmann

1901 geboren, wächst Rosa Jochmann in ärmlichsten Verhältnissen auf, in einer Familie mit sechs Kindern in einer Zimmer-Küche-Wohnung in Simmering. Der Vater Eisengießer, die Mutter Wäscherin. Mutter und Vater starben mit 41 bzw. 45 Jahren. Schon als 14jährige muss die Halbwüchsige in der Fabrik arbeiten, um die Geschwister durch zu kriegen. Mit der Idee des Sozialismus ist sie von Kleinkindtagen auf vertraut. Über dem Ehebett der Eltern hängt neben der Heiligen Familie und Ferdinand Lassalle auch ein Porträt von Karl Marx, und Rosa hört, wenn der komme, werde alles gut. Sie hält ihn wie selbstverständlich für den lieben Gott. „Die Geldsorgen von damals sind unbeschreiblich“, schrieb sie später. Die österreichische Pasionaria weiterlesen

Sollen weiße Männer die Klappe halten?

Häufig wird darauf bestanden, dass Betroffenheit ein Wissen ist, das durch andere Wissensarten nie aufgewogen werden kann und Nicht-Betroffene schweigen sollen. Aber die Argumente dafür stehen auf dünnen Beinen.

Falter, August 2018

Es gibt eine rhetorische Figur, die sich zunehmender Beliebtheit erfreut, etwa wenn es um Rassismus geht oder um sexuelle Übergriffe oder andere Diskriminierungen, die nicht „jede/r“ erfahren kann: dass jene, die nicht betroffen sind, die Klappe halten sollen. Diese rhetorische Figur ist nicht immer klar und sauber konturiert, sie verschwimmt gewissermaßen. Die meisten meinen damit: Wer nicht betroffen ist, soll den Opfern erst einmal zuhören, ihnen mit Empathie begegnen, nicht mit depperten Ratschlägen kommen. Aber diese Denkfigur geht gewissermaßen schleichend über in die rigidere Formel, dass Nicht-Betroffene überhaupt nicht mitreden sollen.

Auch diese These hat auf dem ersten Blick eine ganze Reihe guter Argumente für sich. Die Nicht-Betroffenen sind, nimmt man alles zusammen, die berühmten „weißen, alten, heterosexuellen Männer“. Die seien privilegiert und können die Lebenswelten der Betroffenen gar nicht verstehen, vor allem aber würden sie ohnehin auch auf der Ebene des Gehört-werdens privilegiert sein. Bist du weiß, bist du nicht von Rassismus betroffen. Bist du männlich, dann nicht von sexualisierter Gewalt. Allein, das Altersargument ist nicht völlig stichhaltig. Klar, Leute in Machtpositionen sind meist älter. Zugleich ist in einer Gesellschaft des Jugendkults Alter nicht mehr nur ein Privileg. Also, über die rhetorische Figur „alter“ kann man noch einmal gesondert diskutieren, aber man kann es auch bleiben lassen.

Die weißen Männer sind nicht nur privilegiert, weil sie von den vielfältigen Diskriminierungen nicht betroffen wären (auch wenn sie zB. als weiße männliche Kids aus unterprivilegierten Schichten von anderen Diskriminierungen betroffen sind), weiße Männer aus der oberen Mittelschicht oder Oberklasse sind vor allem noch in einer anderen Hinsicht privilegiert: in der medialen Öffentlichkeit (und anderen Öffentlichkeiten, von der politischen Öffentlichkeit bis den Öffentlichkeiten von Berufsverbänden, der Vereine etc.) sind es vor allem sie, denen das Privileg des Sprechenden und Sichtbaren zuteil wird.

Das Argument lautet daher auch: lasst einmal diejenigen, die nicht so privilegiert sind, sprechen. Gebt ihnen Platz. Macht die Unsichtbaren sichtbar. Räumt die Sprecherpositionen, damit endlich auch die anderen gehört werden.
Dafür gibt es nicht nur gute Argumente, diese guten Argumente sind überhaupt nicht bestreitbar. Dass die einen endlich mehr gehört werden sollen, und dass dafür die anderen mal bisschen mehr zuhören – wer bei Trost ist, wird dagegen kaum einen Einwand vorbringen können.

Vielleicht bin ich ja auch etwas zu verkopft, sodass ich versuche, Argumente immer in ihrer Radikalität durchzudenken, um zu überprüfen, ob sie überhaupt haltbar sind. Aber es liegt wohl nicht nur an dieser Charaktereigenschaft – man könnte die auch Macke nennen -, sondern auch daran, dass dieses Argument von einigen ja auch radikalisiert wird. Nämlich in die Richtung: Die, die nicht betroffen sind, sollen nicht nur nicht blöd daher reden, sie sollen überhaupt nicht mitreden.

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Dieses Postulat begegnet einem in den verschiedensten Milieus immer wieder. Ein Klassiker dieser Argumentation ist etwa die Forderung der Studierenden der Londoner School of Oriental and African Studies, die sich dafür stark machten, dass in ihrem Lehrfach nur mehr Philosophen unterrichtet werden, die „aus dem globalen Süden oder der Diaspora“ stammten. Sollte es gelegentlich unvermeidlich sein, dass auch „weiße Philosophen“ auf dem Lehrplan stünden, dann müsse ihr Werk „kritisch beleuchtet und der koloniale Kontext bedacht werden“. Nun wird es wahrscheinlich recht schwierig sein, Frantz Fanon, Stuart Hall, Gayatri Spivak ohne Hinweis auf Hegel, Marx, Gramsci oder Sartre zu unterrichten, sodass die Forderung etwas überspannt wirkt.

Aber wie kommt man überhaupt auf solche Ideen? Diese Haltungen gehen von Voraussetzungen aus und haben, wenn man sie ernst nimmt, fragwürdige Resultate – sogar dann, wenn man ihnen grundsätzlich sympathisierend gegenüber steht.

Erstens: Empathie nützt letztlich nichts.

Sie unterstellen, dass es grundsätzlich nicht möglich ist, sich wirklich in die Anderen hinein zu denken. Bin ich nicht von täglicher rassistischer Diskriminierung betroffen, dann kann ich mir das praktisch nicht vorstellen. Bin ich nicht von stetiger Sexualisierung betroffen, werde ich nicht regelmäßig als Objekt behandelt und oft sogar Opfer massiver Übergriffe, dann kann ich mir einfach nicht vorstellen, wie sich das anfühlt. Nun ist freilich genau das die Voraussetzung für sinnvolle Diskurse in pluralen Gesellschaften: Dass ich mich als Mann in die Frau, als Mitglied der privilegierten ethnischen Mehrheitsgesellschaft in jene, denen man täglich zu verstehen gibt, dass sie nicht dazu gehören, dass ich mich als 50something in die Teenagerin und dass ich mich als Angehöriger gut situierter Mittelstandsmilieus in die Gemeindebaubewohner in der Vorstadt hineinversetzen kann, denen man zu verstehen gibt, sie seien kulturell von vorgestern und so weiter. Und übrigens vice versa und kreuz und quer. Natürlich steht und fällt diese Fähigkeit zur Empathie damit, erst einmal zuzuhören. Aber auch damit, Einwände zu formulieren, nachzufragen, und noch einmal zuzuhören. Und außerdem: Die Erfahrung zeigt natürlich, dass das sehr wohl geht. Klar: Genügend Leute sind empathiebefreit. Genügend sind es aber auch nicht.

Zweitens: Sinnliche Erfahrung ist der wichtigste Schlüssel zum Wissen.

Letztendlich steht hinter dieser Haltung ein unausgesprochenes Postulat: dass sinnliche Erfahrung ein derart wesentlicher Aspekt von „Wissen“ ist, dass sie praktisch nicht ersetzt werden kann. Jemand kann zuhören, sich Videodokumentationen und Radiofeatures anhören, Bücher lesen und Interviews, sich über die Verletzungen informieren, die in all jenen Milieus grassieren, denen er oder sie nicht angehört – es wird den Mangel an Erfahrungswissen nie völlig ausgleichen, nein, nicht einmal signifikant aufwiegen. Das ist eine Konzeption von Wissen, die das Fühlen über das kognitive Wissen stellt. Denn niemals würde aus einer solchen Position formuliert werden, dass jemand, der Diskriminierung nur fühlt, aber ansonsten von Tuten und Blasen keine Ahnung hat, nicht sprechen soll. Er kann ja dann immer noch darüber palavern, wie er seine Diskriminierung empfindet und was ihm spontan so dazu einfällt. Das ist eine der Spielarten von Antiintellektualität, auch nicht viel anders, als von den FPÖ-lern in den Dorfwirtshäusern, die finden, die Gscheiterln aus dem Bobo-Cafés in der Stadt hätten keine Ahnung vom Leben. Es gibt diese Spielarten von Antiintellektualität eben auch in den Milieus, die sich kritisch vorkommen. Etwa in Künstlermilieus, die meinen, Kreativität käme primär vom „Fühlen“, vom „Spüren“, und allzu viel Nachdenken und Theoriewälzen sei eine Unart von verkopften Hirnwichsern, die nie der Wahrheit des „künstlerischen Empfindens“ begegnen werden. Meine Gegenthese wäre: Unwissenheit hat noch nie jemanden genützt.

Drittens: Nicht-Betroffene haben daher praktisch nichts Sinnvolles beizutragen

Diese ganzen rhetorischen Figuren leben von der impliziten Voraussetzung, dass die Nicht-Betroffenen praktisch nichts Sinnvolles beitragen können. Sie haben von nichts eine Ahnung, geben aber im Extremfall den Betroffenen noch blöde Ratschläge. Nun können Ratschläge blöder oder gescheiter sein, aber lasst uns einmal die These überprüfen, ob Nicht-Betroffene tatsächlich als Ratschlag-Geber unbrauchbar sind. Nun ist die gesamte Geschichte der Selbstermächtigung von Machtlosen auch durchzogen von den relativ Privilegierten, die sich auf die Seite der Schwachen gestellt haben: von Karl Marx bis Victor Adler bis zu Frantz Fanon oder Simone de Beauvoir. Natürlich kann man der Meinung sein, dass all das ein Problem aller bisherigen Emanzipationsbewegungen gewesen sei, aber ich würde diese Meinung nicht unbedingt teilen. Wollen wir nur einmal praktisch nachdenken: Dass jemand wegen seiner sexuellen Identität Diskriminierung erfährt, führt noch lange nicht dazu, dass er* oder sie* oder * sehr viel Ahnung davon hat, wie man solche Diskriminierung wirksam bekämpft. Jemand, der die Geschichte der deutschen Frauenbewegung oder der amerikanischen Black-Panthers kennt und auch noch eine juristische Ausbildung hat, aber Unterdrückung wegen sexueller Identität nicht persönlich erfährt, kann dazu vielleicht ein paar wertvolle Gedanken beisteuern. Also, auch dieses Argument hält einer Überprüfung nicht stand, die über das No-Na-Argument hinaus geht, dass man sich depperte Ratschläge eher spart, klügere vielleicht besser nicht. Was klüger und was depperter ist, lässt sich allerdings am besten diskursiv ergründen, steht also nicht vor dem Sprechakt schon fest.

Viertens: „Opfer“ haben nicht die Aufgabe, den „Privilegierten“ oder gar „Tätern“ etwas beizubringen.

Nun ist das gewiss wahr. Dass jemand, der gerade Opfer eines homophoben Übergriffs geworden ist, auch noch irgendeinem Trottel, mag der auch noch so gutwillig sein, lang und breit das ABC dessen erklärt, was stetige Diskriminierungserfahrungen mit dir machen, ist gewiss nicht die reine Freude – ganz zu schweigen von bockigen Trolls, die gar nicht gutmeinend sind, sondern sich auch noch nach Kräften bemühen, nichts zu begreifen. Gleichzeitig wissen wir auch, dass gesellschaftliche Fortschritte nicht allein dadurch erzielt werden, dass man eh nur mit jenen kommuniziert, die schon für die gemeinsame Sache gewonnen sind und über alles bestens Bescheid wissen.

Fünftens: Wie stellen wir uns Kommunikation in einer pluralen Gesellschaft überhaupt vor?

Das Postulat, dass Betroffenheit besonders zum Sprechen qualifiziert, steht also auf äußerst dünnen Beinen, wird aber durch einen Umstand gänzlich unhaltbar: denkt man es radikal zu Ende, würden wir in völlig segmentierten Sprech-Gesellschaften leben. Zu jeden x-beliebigen Thema dürften nur – einmal größere, einmal kleinere – Betroffenencommunities sprechen, die sich im schlimmsten Fall dann auch noch aussuchen, wer mitreden darf (nämlich, wer dem gerade vorherrschenden Common-Sense des betreffenden Submilieus am besten nach dem Mund redet). Am Ende stünde dann kein gesellschaftliches Gespräch, sondern wie am Jahrmarkt der Meinungen eine Community neben der anderen, die irgend etwas herausposaunt – und sich diskursive Einmischung in ihr je eigenes Feld verbitten würde. Der Verdacht liegt nahe, dass das die Luft nicht besser machen würde.

Nun kann man natürlich der Meinung sein, dass ein Argument, hart zu Ende gedacht, falsch sein kann, aber auf weiche Weise dennoch richtig. Sozusagen auf halbem Weg richtig, und erst in einem Unendlichen falsch, das ohnehin nie erreicht wird. Ich fürchte nur, dann ist es eben als Argument nicht nur angreifbar, sondern auch falsch. Es kann zwar positive Effekte zeitigen, nämlich beispielsweise bisher kaum gehörte Betroffene hörbar zu machen, aber es wird möglicherweise schon auf halbem Weg unerfreuliche Nebeneffekte haben, etwa, dass sich Nicht-Betroffene aus dem gesellschaftlichen Gespräch zurück ziehen, sich denken, diese Thematik sollen sich die in ihrer Nische ausmachen, ich habe damit nichts zu tun. Von der Art: „Bevor ich mich in die Nesseln setze, lasse ich die auf ihrer Spielwiese alleine.“

Realitätstauglicher dürfte auch auf halbe Sicht folgende Haltung sein: ein Machtgefälle, das den einen privilegierte Sprecherpositionen einräumt, gehört bekämpft – indem den Ungehörten zugehört wird. Indem sie sich nicht nur Plattformen erkämpfen, sondern man sie dabei auch unterstützt. Aber in einem gesellschaftlichen Diskurs darf jeder und jede mitreden. Sogar Unsinn ist erlaubt. Es gibt kein Wissen, das andere Wissensarten aussticht. Empfindungen haben keine größere „Wahrheit“ als Resultate intellektuellen Bemühens. Empathie ist keine Unmöglichkeit, sondern muss gerade als Voraussetzung eines sinnvollen gesellschaftlichen Gesprächs eingefordert werden. Eine Gesellschaft, die in Communitys zerfällt, ist eher Teil des Problems, nicht Teil der Lösung.

Steh zu Deinen Werten!

Walter Ötsch und Nina Horaczek sezieren die Tricks der Demagogen – und erklären, wie man mit ihnen umgehen soll. (Falter, August 17)

Sie mögen sich vielleicht fragen, ob es ein solches Buch in Österreich unbedingt gebraucht hat: „Populismus für Anfänger. Anleitung zur Volksverführung.“ Wir hier in Österreich sind ja ohnehin unfreiwillige Experten auf diesem Feld: Seit 30 Jahren, seit dem Amtsantritt Jörg Haiders sind wir den rhetorischen und den narrativen Tricks der Demagogen ausgesetzt und entsprechend mit ihnen vertraut. Wozu das also? Und außerdem, mögen Sie schließlich zu bedenken geben, wollen Sie ja gar kein Populist und Volksverführer werden. Wozu also eine Anleitung dazu?

Aber die Antwort ist einfach: Weil man die Tricks durchschauen muss um auf sie angemessen reagieren zu können. Der Populist will spalten – und wer rein emotional reagiert, läuft ihm schon ins Messer.

Hier haben sich zwei Autoren gefunden: Nina Horaczek, Falter-Journalistin, eine Expertin auf dem Gebiet der rechten Politik und exzellente Schreiberin, Walter Ötsch wiederum ist Universitätsprofessor, Kommunikationstrainer, wahrscheinlich der ausgewiesene linke NLP-Trainer. Er hat schon Politiker gegen Jörg Haider erfolgreich gecoacht und vor einem Jahr in Falter-Videos die Hofer-Auftritte minutiös seziert. Das Buch ist nun tatsächlich im Stil der Ratgeberliteratur geschrieben. „Wenn sie Populist werden wollen, dann tun sie dies und das…“ Man kann das einen erzählerischen Kunstgriff nennen: Denn natürlich richtet sich das Buch nicht an das Publikum der Möchtegern-Populisten. Aber gerade der Kunstgriff erlaubt eine Nüchternheit. Nie wird die Schrecklichkeit der Populisten gegeißelt, sondern deren Geschick heraus gestrichen. Steh zu Deinen Werten! weiterlesen

Privatisierung ist Korruption

Privat ist effizient, der Staat ist inflexibel – ideologische Figuren wie diese bringen einigen Leuten sehr viel Geld. – Falter, Dezember 2016

Ideologie arbeitet mit starken Bildern, die überzeugen sollen. Die Ideologie von Privatisierung und Entstaatlichung, die das Private gut dastehen lässt, das Öffentliche dagegen herunter macht, evoziert sofort Imaginationen vom Staat, dem trägen, dicken Tanker, und dem Markt, dessen Akteure elegant tänzeln. Privat ist effizient, Staat ist inflexibel. Privat ist sorgsam und achtet auf jeden Groschen, Staat wirft das Geld in Fässer ohne Boden. Privat folgt einer verantwortungsvollen Ethik der Bescheidung, der Staat einer unverantwortlichen Ethik des Nach-mir-die Sintflut. Privat ist Wettbewerb – Staat ist geschützte Werkstätte, Monopol.

So sind auch Austerität und Entstaatlichung miteinander verbunden. Wenn Staaten sparen müssen, werden ja in der Praxis nicht nur staatseigene Unternehmen und Vermögenswerte privatisiert (um mit den Erlösen etwa Schulden zu begleichen), sondern zugleich wird ja auch die Reduktion sozialsstaatlicher Leistungen als moralischer Akt gepriesen, als Härte, die auf lange Sicht stark macht und verweichlichten Subjekte wieder Energie gibt.

John Maynard Keynes hielt die „Laissez-Faire-Doktrin“, also die Ideologie freier Märkte „für etwas Kurioses und Rätselhaftes. Dass ihre Lehre, in die Praxis übersetzt, spartanisch und oft widerwärtig war, verlieh ihr einen Anstrich von Tugend.“ Oft wird das in der Sprache der pragmatischen Nüchternheit vorgebracht, dahinter verbirgt sich aber ein asketisches Ideal, das eben das Gegenteil von Nüchternheit ist – sondern eine reine ideologische Figur. Ein wunderbares Beispiel finden wird dafür etwa in einem programmatischen Text, den Wolfgang Schäuble in der „Financial Times“ schrieb, und zwar genau zu der Zeit, als die Europäische Union auf die Austeritätspolitik nach 2010 umschwenkte:

„Das Rezept ist so einfach, wie es schwierig in die Praxis umzusetzen ist: die westlichen Demokratien und andere Länder mit hohen Schuldenniveaus und Defiziten müssen ihre Ausgaben kürzen, ihre Einnahmen erhöhen und die strukturellen Probleme ihrer Ökonomien in den Griff bekommen, wie schmerzhaft das politisch auch sein mag. … Es gibt die Sorge, dass fiskalische Konsolidierung, ein kleinerer öffentlicher Sektor und flexiblere Arbeitsmärkte die Nachfrage in diesen Ländern in kurzer Frist unterminieren würden. Ich bin nicht überzeugt davon, dass dies wirklich der Fall sein würde, aber sogar wenn es der Fall wäre, müsste man eine Abwägung treffen zwischen dem kurzfristigen Schmerz und dem langfristigen Nutzen. (Dieser…) wird den kurzfristigen Einbruch der Nachfrage aufwiegen.“

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Die Theorie, die die Demokratie killt

Die Theorie sagte, dass mehr Handel und Globalisierung allen nützt. Ein Irrtum, den wir nun mit einer rechten und populistischen Revolte bezahlen.

Falter, November 2016

Wie tickt sie nur, die Arbeiterklasse? Jahrzehntelang hat man angenommen, diese verstaubte, alte Klassenfrage hätte sich irgendwie erledigt, Arbeiterklasse gäbe es doch gar keine mehr, und wenn ja, dann in Gestalt des migrantischen Dienstleistungsproletariats. Aber seit der Brexit-Abstimmung, der Trump-Wahl und dem Aufstieg von Rechtspopulisten allüberall sind plötzlich alle geschockt: Die „weiße Arbeiterklasse“ wählt die Globalisierung ab!

Wenn ganze Bevölkerungssegmente das Gefühl haben, mit ihnen gehe es chronisch bergab, ihnen schwimmen die Fälle davon, dann brennt in pluralistischen Demokratien plötzlich der Hut. Besonders dann, wenn diese Leute das Gefühl haben, dass sich für sie niemand interessiert.

Man hätte das schon vorher wissen können.

Aber inwiefern sind Freihandel und Globalisierung dafür verantwortlich? Immer hörbarer werden die Argumente derer, die sagen, es sei „eine Theorie, die unsere Wirtschaft killt“, wie das der amerikanische Politikberater Ian Fletscher nennt, der Autor von „Free Trade Doesn’t Work“.

Erstmals seit Jahrzehnten wird jedenfalls in einem breiteren ökonomischen Fachpublikum die Frage diskutiert ob Handel und internationale Kapitalverflechtung tatsächlich ökonomisch vorteilhafte Resultate produzieren. Und das ist eine ziemlich spektakuläre Wende.

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„In jedem Markoökonomiekurs sagen wir den Satz: ‚Makroökonomen sind sich in wenigen Dingen einig, aber sie alle teilen die Auffassung, dass freier Handel eine gute Sache ist'“, sagt der US-Wirtschaftsprofessor Noah Smith. „Und das ist völlig korrekt. Aber der Grund für diesen Konsens ist keinesfalls, dass die Ökonomen das bewiesen haben. Sie nehmen es einfach an, und deshalb benützen sie Modelle, die diese Annahme voraussetzen.“ Die Theorie, die die Demokratie killt weiterlesen

Tsipras Tragödie

Nikos Chilas und Winfried Wolf beschreiben klug und luzide die vergangenen sechs Jahre des griechischen Dramas. Falter, September 2016

Im Januar 2015 hat Alexis Tsipras die Wahlen in Griechenland triumphal gewonnen und ein halbes Jahr lang war er ein Hoffnungsträger der europäischen Linken. Auch nach der Wende vom Sommer – als er nach einer Nacht brutaler Verhandlungen vor dem Diktat der Eurozonen-„Partner“ – kapitulieren musste, blieb seine persönliche Popularität hoch und die Griechen bestätigten seine linke Syriza-Partei bei den darauffolgenden Neuwahlen. Immerhin hatten der Premier und sein Team gekämpft wie die Löwen und Tsipras neue Politgeneration hatte wenigstens Glaubwürdigkeit, was sie von allen Rivalen unterschied. Erst jüngste Umfragen zeigen, dass es mittlerweile verdammt schlecht um die Syriza-Regierung steht: Nur mehr 16 Prozent der Griechen würden sie heute wählen, die Konservativen liegen bei 24 Prozent – sofern die Zahlen stimmen. Die Griechen haben ihre letzte Hoffnung verloren.

Nikos Chilas und Winfried Wolf beschreiben in ihrem Buch „Die Griechische Tragödie“ fesselnd, wie es dazu kommen konnten – wie sich das Drama entfaltete, das Griechenland an den Rand des Bankrotts brachte, ein ganzes Land zum Versuchskaninchen im neoliberalen Austeritäts-Laboratorum wurde, wie die griechische Zivilgesellschaft in der Rebellion erwachte und Tsipras Syriza-Bündnis aufstieg – und sich danach die Zähne ausbiss an Schäuble und Co. Selbst jene, die das in groben Zügen alles kennen, erfahren in diesem Buch bemerkenswerte Details, aber auch viel über die langen, politkulturellen Prägungen Griechenlands.

Nikos Chilas, der viele Jahre in Wien lebte und nun seit rund 25 Jahren renommierter Deutschlandskorrespondent verschiedener griechischer Medien ist (erst des Staatssenders ERT, seit 1999 der Tageszeitung „To Vima“), ist nicht nur ein brillanter Kenner der griechischen Innenpolitik, sondern auch ein humorig-geistreicher Kommentator. Winfried Wolf, seit 50 Jahren fixer Bestandteil der deutschen radikalen Linken und ehemaliger Bundestagsabgeordneter der „Linkspartei“, ist wiederum ein präziser Analytiker ökonomischer Zusammenhänge. Ein produktives Autorenteam.

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