Antiislamische Hetze

Nichts ist ekeliger als die "falsche Toleranz": Westeuropas liberale Intellektuelle und Kommentatoren gehen in Verteidigungsstellung gegen den Muselmann. Da darf ein bißchen Rassismus auch dabei sein. Falter, 11/04

 

Irgendwann, der Verputz in den Kinderläden war blättrig geworden, wurde auch die freie Reformpädagogik verabschiedet. Die totale Freiheit hatte kleine Monster geboren. Plötzlich war wieder Strenge angesagt: Grenzen ziehen! "Kinder brauchen Regeln", war die Parole der Stunde.

 

Ein Muster, an das man sich seit dem Mord an Theo van Gogh zunehmend erinnert fühlt. Kein Leitartikel, keine Glosse, in der nicht der Multikulturalismus entschieden verworfen wird. Diesmal in der Rolle des Zöglings: Der Moslem. Grenzen ziehen! Moslems brauchen Regeln!

 

Sie verachten unseren Laizismus, haben keinen Sinn für Ironie und verpuppen sich in Parallelgesellschaften, in denen die Menschenrechte nichts gelten, wickeln ihren Frauen häßliche Tücher um den Kopf, verprügeln und vergewaltigen sie gewohnheitsmäßig und es ist allgemeine Übung, dass Brüder ihre Schwestern erstechen, wenn die gegen die Scharia verstoßen. Was exakt so abgeht in der Parallelgesellschaft, weiß man zwar nicht, aber gerade das macht die Sache so bedrohlich.

 

Und warum das alles? Weil "wir" so tolerant waren. Multikulturalismus, das ist doch eigentlich nur eine "verkehrte Toleranz ", die "Feigheit der Zivilgesellschaft" (Dirk Schümer in der FAZ). Die Toleranz ist nichts anderes als eine fahrlässige "Kultur des Duldens" (so der niederländische Publizist Paul Scheffer im Standard), Camouflage des "gleichgültigen Nebeneinander" (Gustav Seibt in der Süddeutschen Zeitung). Selbst der bedächtigste Kommentator kommt ohne eine dramatische Distanzierung von der Toleranz nicht mehr aus. Schluss muß sein mit dem Laissez-Faire. Ab jetzt wird ganz fest hingeschaut!

 

Damit kein Mißverständnis entsteht: Das ist wahrscheinlich alles nicht ganz verkehrt. Es gibt arrangierte Ehen, die Generationskonflikte vornehmlich zwischen Vätern und Töchtern sind in Immigrantenfamilien schroff, es wuchert in Randbereichen unter zukunftslosen Türken-Jungs eine Mixtur aus Street-Fighter- und Islamismus-Jargon und bestimmt gibt es in der Einwanderer-Unterklasse mehr häusliche Gewalt als in eleganten Innenstadtquartieren mit ihren Singlehaushalten oder Ein-Kinder-Familien samt Zugehfrau. Gewiss kann Toleranz nicht heißen, den Rechtsstaat zu sistieren. Und die Toleranz war schon immer mit dem kniffligen Problem konfrontiert, den Intoleranten intolerant begegnen zu müssen, ohne selbst zu einer Form der Intoleranz zu werden.

 

Und doch: Der Ton! Unwillkürlich stellt man sich beim Lesen vor, mit welcher Verachtung die Frontkämpfer im Feuilleton das Wort "Toleranz" aussprechen: Niemand mag es mehr in den Mund nehmen, ohne auszuspucken. Toleranz, das ist: Feigheit vor dem Feind; unterlassene Hilfeleistung; nur etwas für Weicheier, die, wenn sie dem Unrecht begegnen, sich als erstes die Augen zuhalten.

 

Geht es da wirklich nur um den Kampf gegen den Terror oder die hehre Sorge um das Wohl moslemischer Mädchen, die in Ehen mit Importgatten aus Kleinasien gezwungen werden? In der Rede von der "falschen Toleranz" schwingt ein Groll mit, der sich offenbar lange aufgestaut hat: über das anatolische Neoncafe am Eck; über den Türkenbuben, der beim Fußball immer überhart gespielt hat, dem das Gewinnen wichtiger war als unsere verzärtelte Fairness; über den Neger in der Disco, der die Girls so plump anmachte, dem die subtilen und politisch korrekten Flirtcodes, auf die wir uns in langen wortlosen Prozessen verständigt haben, so offenbar am Arsch vorbei gingen. Denen haben wir nie etwas gesagt, weil die uns dann gleich mit der Rassismuskeule gekommen wären.

 

Aber jetzt haben wir auch eine Keule in der Hand: "falsche Toleranz". Die demokratischen Rechtsstaaten haben "die abweichende Lebensführung der islamischen Minderheiten" geduldet, "bis hin zu Dingen, die sie schon nicht mehr dulden sollten", bilanziert Jens Jessen im Leitartikel der Zeit. Dabei stehe der säkulare Rechtsstaat nicht über den Religionen, sondern in Frontstellung zu religiösen Wahrheitsansprüchen. Er sollte sich ab nun "offen zu seiner Parteilichkeit bekennen".

 

Kaum mehr jemand fragt sich, wie die Stigmatisierung einer ganzen Bevölkerungsgruppe auf der anderen Seite ankommt. In Baden-Württemberg ist Lehrerinnen das Tragen von Kopftüchern verboten, während Nonnen selbstverständlich in ihre Kutte weiter unterrichten dürfen. Aber mit zweierlei Maß hat das natürlich gar nichts zu tun.

 

Den Feind im Visier ist jetzt Kampf angesagt. Hochkonjunktur hat in diesen Wochen der unvermeidliche Leon de Winter, der nie fehlen darf, wenn es gegen die Feinde der Freiheit im allgemeinen und den Muselmann im besonderen geht. In der Zeit diagnostiziert er: die "arabisch-islamische Schamkultur" unterscheide sich derart schroff von der hedonistischen Kultur des Westens, sodass es "nur den Stärksten und Klügsten" gelinge, die "Anpassungsschwierigkeiten" zu überwinden. Mag da ein Cem Özdemir oder Feridun Zeimoglu, dort eine Sibel Kekilli leuchten – die große Masse der Moslems sind modernisierungsresistente Allah-Fans.  

 

Mit dem Mord an Theo van Gogh, dem clownesk-anarchischen Filmemacher, haben die liberalen, säkularen Intellektuellen Europas endlich wieder etwas zum Kämpfen. Bisher war der "Krieg gegen den Terror" offenbar doch zu weit weg. Im Mordfall van Gogh ist die Frontstellung auch besonders grell: hier der notorische Provo, der die hedonistische Spektakelkultur, die jeden Augenblick vom halben Ernst in die totale Ironie zu changieren vermag, in Reinkultur verkörperte – und da der verbiesterte Dschijhadist mit dem Fleischermesser, der keinen Spaß versteht. Welch eine Gelegenheit, die Denker an die Front zu befehlen, wie das in den USA auch linksliberale Essayisten wie Paul Berman schon länger tun: "die freiheitliche Gesellschaft" müsse "eine kriegerische Gesellschaft sein, wenn sie herausgefordert" wird, schrieb er in seinem Buch "Terror und Liberalismus".

 

Auch das ist nicht falsch und doch ist der hohe Ton decouvrierend. Der kämpferische Liberale kämpft immer auch gegen etwas in sich selbst an: gegen seine Friedlichkeit, die er insgeheim verachtet; gegen den Zweifel, ob die liberale Kultur nicht doch eine klägliche Kultur ist, unfähig, für irgend etwas einzustehen; gegen die innere Leere, das Mangelgefühl, das er verspürt, weil ihm die großen Gefühle fehlen, die einst die religionsähnlichen Weltanschauungen bereitstellten. Schon für Nietzsche war "die Toleranz" eines dieser "Prunkworte", Beweis für "das Fehlen" jedweden Ideals. Im Kampf gegen den "Islamofaschismus" kann der aufgeklärte Intellektuelle sich endlich wieder in die Heldenpose werfen.

 

Jetzt geht es gegen die "multikulturelle Senkgrube" (Leon de Winter). Jetzt kann alles einmal gesagt werden über die anatolischen oder arabischen Brautleute, die in Westeuropa ankommen, "türkisch oder arabisch abgefaßte Formulare ausfüllen, um Sozialhilfe zu beantragen und danach in ihrem eigenen subventionierten Ghetto verschwinden" (de Winter in der Welt). Wenn der wehrhafte Liberalismus in Kampfesstimmung gerät, dann ist der Grat zwischen Aufklärung und antiislamischer Hetze schmal, dann wollen wir nicht kleinlich sein: ein bißchen rassisteln kann nicht schaden, schließlich verteidigen wir ja die Menschenrechte von "Allahs rechtlosen Töchtern" (Spiegel-Cover).

 

Womöglich steckt in der heutigen Verhöhnung der Toleranz ein gehöriger Schuss liberaler Selbsthass.

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