Frisch gestrichen!

EU-Verfassung. Europas Lenker geben nach dem "Non" und dem "Nee" Durchhalteparolen aus – ein sicherer Weg, die Verfassung endgültig umzubringen. Doch noch gibt es eine Chance: die Verfassung verschlanken, neu redigieren und die empörendsten Passagen rausstreichen. Falter, Juni 2005

 

 

Erst das "Non", dann das "Nee" – zwei Referenden innerhalb von wenigen Tagen haben die Europäische Union in eine tiefe Krise gestürzt. Ist das Projekt einer Union, die sich immer mehr vertieft und sich, wie ungenügend auch immer, auch politische und soziale Ziele setzt, nun für’s Erste tot? Oder erleben wir, im Gegenteil, die Geburtsstunde der europäischen Demokratie, weil sich die Bürger "das erste Mal Gedanken über die EU machen und sagen – Europa ist unser gemeinsames Gut", wie das Francine Bavay formuliert, die ehemalige Sprecherin der französischen Grünen und prominenteste Neinsagerin der "Les Verts"? Sie jedenfalls sieht das "Non" halb stolz, halb dreist als "unser Geschenk an Europa".

 

Ist es eine faule Gabe oder erweist es sich am Ende gar noch als ein nützliches Präsent? Die Gefühle sind zwiespältig, sowohl bei denen, die für die Verfassung stritten, wie auch bei vielen jener, die gegen sie argumentierten. Der Rauch senkt sich langsam. Jetzt stellt sich die Frage: Kann aus der Referendums-Revolte etwas Gutes folgen?

 

Johannes Voggenhuber, der österreichische Grüne und engagierte Verhandler im Verfassungskonvent lacht, am Tag nach dem zweiten Niederschlag, dem Nein der Holländer, mit dieser unerwarteten Frage konfrontiert. "Diese Formulierung", platzt es aus ihm heraus, "überfordert jeden Optimismus". Aber natürlich, sagt er noch einigen Momenten, entsteht jetzt auch "der europäische Demos". Und: "Das französische Referendum hat die soziale Frage auf die Agenda gesetzt – unabsetzbar." Man könnte das als Chance begreifen, bloß: "Die Gefahren sind so groß." Die Gefahr nämlich, dass die Neinsager das bekommen, was sie eigentlich nicht wollten: Ein Europa, das soziale Ziele gar nicht mehr verfolgt, in dem sich die nationalen Regierungen die Dinge wieder stärker unter sich ausmachen, in dem auch kleinste Demokratisierungsschritte abgesagt sind und in dem weiter die Wirtschaft bestens, die Politik aber nur mangelhaft integriert ist.

 

In den Zirkel der Globalisierungskritiker von attac, die in ganz Europa für ein "Nein" zur Verfassung agitieren – das französische attac-Netzwerk hat einen großen Anteil am Ergebnis des Referendums -, sieht man das gar nicht dramatisch anders, auch wenn die Schlüsse so diametral andere sind. "Natürlich freue ich mich über das ‚Nein’", sagt  Alexandra Strickner, attac-Vorstandsmitglied und im Zivilleben für eine amerikanische NGO tätig, die kritische Welthandelsstudien betreibt. "Es ist jetzt ein Fenster offen. Aber es liegt auch viel Arbeit vor uns."

 

Natürlich weiss auch sie, das Projekt Europa ist unverzichtbar, will man das Primat der Politik über die Wirtschaft wieder herstellen. Die meisten der attac-Forderungen lassen sich ohnehin nur auf supranationaler Ebene verwirklichen. Auch die Attac-Leute übersehen nicht, dass das "Nein" die Gefahr birgt, dass der europäische Zug vollends entgleist: Statt einer besseren Verfassung könnte ihr "Sieg" eine Europäische Union ohne Verfassung bringen, mit schwindendem inneren Zusammenhalt, wachsenden zentrifugalen Tendenzen, eine Union, die langsam wieder zu einer gigantischen Freihandelszone erodiert. Aber gegen diese Zwangsjacke, gegen dieses Mantra der Alternativlosigkeit war das "Nein" eben auch eine Revolte – eine Verweigerung gegen diese dürre Vernüftigkeit, die sich immer die kleineren Übel wählt, bis sie einen Rucksack voll mit Übel angesammelt hat. "Es gibt diesen pragmatischen Blick der linksliberalen Parteien", sagt Judith Sauer, die bei attac-Österreich im Vorstand sitzt, "dieses Argument, das da lautet: ‚Wir müssen dieser Verfassung zustimmen, denn eine Bessere kriegen wir eh nicht‘." Nur, fragt sie, "welche Erfolge hat denn dieser handzahme Pragmatismus in den vergangenen zehn Jahren vorzuweisen?"

 

Insofern ist das "Nein" gewiss auch eine Energiezufuhr. Neben neoliberal-technokratischen Proeuropäertum und verdrossenem "Nein zu Europa" muss es eine Alternative geben. Denn eine Wahl, die nur solches zur Auswahl stellt, ist eine Nicht-Wahl; eine Wahl, die nur die binäre Entscheidung zwischen einer mit allerlei teils widersprüchlichen, teils rabiat neoliberalen Passagen durchsetzen Verfassung und keiner Verfassung zuläßt, ist eine Nicht-Wahl. Das ist, in den Worten von Slavoj Zizek, das "Positive Wahl in diesem Nein: die Wahl der Wahl selbst. Die Zurückweisung der Erpressung durch die neue Elite, die uns nur die Wahl bietet, ihr Expertenwissen zu bestätigen – oder unsere ‚irrationale‘ Unreife zur Schau zu stellen." Die Wähler, sekundierte der deutsche Philosoph Jürgen Habermas zu Beginn dieser Woche, hatten schon "einen guten Grund, gegen das oppositionslose Regime von Brüssel zu opponieren".

 

Das "Nein" ist jetzt zwei Mal so kraftvoll ausgefallen, dass ein Weiter-So einfach nicht mehr möglich ist. Angesichts von einem Zehn-Prozent-Vorsprung des Nein-Lagers in Frankreich, angesichts einer beinahe Zwei-Drittel-Mehrheit in den Niederlanden wirken die Durchhalteparolen aus Brüssel, fast im Stundentakt von Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso und Ratschef Jean Claude Juncker abgesetzt, grotesk entrückt. Weiter-So löst kein Problem, weiter-so ist das Problem. Die Ratifizierung "Augen-zu-und-durch"-fortsetzen, mag demokratisch eine hehre Forderung sein, weil ja alle Nationen ein Recht haben, ihre Meinung zu äußern, aber eine ziemlich weltfremde. Denn die Frage lautet ja ab nun in etwa: "Sind sie für oder gegen diese Verfassung, die eventuell in Kraft hätte treten können, wäre sie nicht von Franzosen und Niederländern schon abgelehnt worden?" Auf solch eine Frage wird man keine ernsthafte Antwort erwarten können.

 

Wer jetzt die Verfassung noch retten will, muss schon verwegener denken. Vor eineinhalb Wochen hätte noch kaum jemand die Möglichkeit in Erwägung gezogen, dass die Kritik der sozialen Bewegungen an der EU-Verfassung dazu führen könnte, dass das Paket noch einmal aufgeschnürt wird. Auf mehr, so hätte der Einwand gelautet, wird man sich mit den Repräsentanten von 27 Regierungen, 27 Parlamenten, unzähligen Regionen, Unternehmerverbänden, Arbeitnehmerorganisationen nicht verständigen. Aber jetzt? Jetzt ist der laue Realismus selbst unrealistisch geworden.

 

Es gehört zu den absurderen Seiten der Chose, dass die umstrittendsten Passagen der Verfassung, vor allem der Abschnitt III, in dem etwa das Primat der Preisstabilität vor etwaigen Beschäftigungszielen festgeschrieben wird, in denen bestätigt wird, dass Schritte zur Steuerharmonisierung weiterhin Einstimmigkeit im Rat der Regierungschefs verlangen, in denen Flexibilisierung, Liberalisierung und Deregulierung zu Staatszielen der Union erklärt werden, längst geltendes EU-Recht sind. Wären diese endlosen Artikel und Paragraphen nicht in die Verfassung übernommen worden, hätte das rechtlich am Bestand europäischer Regelungen nichts geändert. Was es aber zur Folge hatte, war, dass die Verfassung angreifbar wurde: sie wurde infiziert mit diesen Prinzipien, die alle über haben – "Steuern runter", "schlanker Staat", "freie Bahn der Wirtschaft", "alle Macht dem großen Geld"; und sie wurde widersprüchlich. Denn wie verträgt sich das Ziel des hohen Beschäftigungsniveaus und den sozialen Rechten, das weiter vorne postuliert wird, mit der radikalliberalen Binnenmarktrhetorik, die nun weite Strecken des Verfassungsvertrages prägt?

 

Weniger wäre, insofern, mehr. Stünde der Wirtschaftsliberalismus nicht in der Verfassung, hieße das ja noch lange nicht, dass der Marktliberalismus außer Kraft gesetzt würde. Aber auch wenn man anerkennt, dass die majoritären politischen Kräfte in Europa auf Wirtschaftsliberalismus setzen, sagt der französische Jurist Guy Braibant, der selbst die EU-Grundrechtscharta mitformuliert, nun aber gegen die Verfassung gestimmt hat, so sei das keine Veranlassung, Dinge in die Verfassung zu schreiben, "die ein sehr orientiertes politisches Programm sind". Diese Teile, so Braibant, "müssen raus".

 

Die Lösung wäre, heißt es auch bei den Austro-Attacies, "einen bescheideneren Text zu formulieren, der sich auf wesentliche Ziele beschränkt", so attac-Aktivist Christian Felber. Auf die Grundrechte etwa, auf Regelungen für das effektivere interne Funktionieren der Union; und an Demokratisierung muss mehr vorgesehen werden, als dem Europäischen Parlament nur "peanuts" hinzuschmeißen.

 

Ist das völlig unrealistisch? Sicher nicht unrealistischer, als nach den Voten aus Frankreich und Holland zu glauben, man könnte den Ratifizierungsprozess einfach so fortsetzen. "Man soll den Teil III der Verfassung abtrennen", meint auch Johannes Voggenhuber. "Und die Verschlechterungen, die die Regierungschefs gegen den Konvententwurf durchgesetzt haben, rückgängig machen". Denn diese Abweichungen vom Ursprungstext sind es ja, die vor allem in die Kritik kamen – dass etwa auch künftig von Europäischen Rat Gesetze ohne Mitwirkung des Parlamentes verabschiedet werden können; oder dass in wichtigen Fragen weiter das Veto eines einzigen Landes reicht, um Regelungen zu verhindern; oder dass Preisstabilität zu einem Grundwert der Union erklärt wurde.

 

In solch eine Richtung müsste die "Skizze eines Ausweges" (Voggenhuber) gehen. Die Eliten und Staatenlenker werden da nicht mittun wollen? Nun, ihr Einspruch zählt seit vergangener Woche nicht mehr gar so viel – schließlich haben sie den europäischen Zug in den Graben geführt. So viele Möglichkeiten, ihn wieder raus zu kriegen, haben sie nicht mehr.

 

Eine Utopie, zumal eine träumerische, weil sie nur jenen Nein-Stimmern entgegenkäme, die des Europas als rein ökonomistisches Projekt überdrüssig sind, aber nicht jenen, die überhaupt nichts mit der EU am Hut haben? Jene, die sich wieder mehr Nationalstaat, nicht weniger wünschen, die wollen, das Holland Holland bleibt, die schon den polnischen Klempner nach Hause wünschen und von Verhandlungen mit der Türkei überhaupt nichts halten? Nun, Affekte sind nie so präzise. Würden die Staats- und Regierungschefs in die skizzierte Richtung umsteuern, würden alle, auch die muffigeren Euroskeptiker, das Gefühl haben, dass es erstmals mit demokratischem Votum geglückt ist, auch eine europäische Entscheidung zu korrigieren. Es wäre der Beginn der Demokratie in Europa, einer mit Ächzen und Keuchen, aber anders sind solche Anfänge ohnehin nicht zu haben.

 

Den Text verschlanken, neu redigieren, die Passagen streichen, die am meisten Empörung hervorgerufen haben, und, wo möglich, das ganze auch noch verständlicher Formulieren – das ist der einzige Ausweg, der den Präsidenten und Premierministern bei ihrem kommenden Gipfel bleibt. Das Ergebnis wäre dann ein Vertrag, der einige Grundwerte – vor allem die Rechte des Einzelnen gegenüber Staat und Herrschaft – absichert und ansonsten das innere demokratische Funktionieren regelt. Weitere Programmatik hat in einer Verfassung nichts verloren – weder linke oder soziale, noch rechte oder neoliberale. Am besten, man nennt das dann nach deutschem Vorbild eher Grundgesetz als Verfassung, was dem Konvolut die Aura des Provisorischen verleihen würde – nichts für die Ewigkeit, sondern vorläufig, bis Besseres möglich ist. Legt man dieses dann noch einem gesamteuropäischen Referendum zur Entscheidung vor, könnte aus der Malaise tatsächlich noch Positives resultieren – aus einem schweren Rückschlag ein Schritt nach vorne werden.

 

Eine nicht allzu wahrscheinliche Variante? Kaum ein Zweifel kann daran bestehen, dass sie die einzig mögliche ist. "Manchmal", bringt Jürgen Habermas in der "Süddeutschen Zeitung" denn auch leisen Optimismus unter die Leute, "manchmal wachsen aus dem Mut der Verzweiflung unvermutete Kräfte".

 

Kasten

 

Ach Tony!

 

Das Who is Who des Krisenmanagements.

 

Kaum hatten die Franzosen Non zur EU-Verfassung gesagt, stand Jean-Claude Juncker, der gegenwärtige Ratspräsident und längstdienende EU-Regierungschef schon Rede und Antwort, Kommissionspräsident Jose Manuel Barroso neben ihm. Drei Tage später, das fulminante Nee der Niederländer war gerade über die Ticker gelaufen, war Juncker abermals schnell am Pult. "Da bin ich wieder", so Juncker sarkastisch.

 

Auf den Schultern des Premiers des schmächtigen Fürstentum liegt die Hauptlast des Krisenmanagements. Barroso, der sich nach nicht einmal einer Legislaturperiode als portugiesischer Premier auf den Brüsseler Präsidentenstuhl gerettet hat, gilt schon heute als grobe Fehlbesetzung. Dass er in peinliche Affären verwickelt ist und sich Nehmerqualitäten nachsagen lassen muss, ist noch das kleinste Problem. Er ist fahrig, furios uncharismatisch – alles andere als "das Gesicht" Europas.

 

Auch der französische Präsident und der deutsche Premier, normalerweise in Krisenzeiten als Katastrophenfeuerwehr sichere Besetzungen, fallen aus. Frankreichs Jacques Chirac ist nach dem niederschmetternden "Non" eine lame duck, Gerhard Schröder, im Herbst seiner Kanzlerschaft, ebenfalls. Und auch Juncker ist wackelig – ihm droht beim EU-Referendum in seinem eigenen Land eine Abfuhr.

 

Europa torkelt führungslos, ohne Zentralfiguren, um die sich Interessen und Optionen gruppieren könnten. So hoffen nicht wenige mittlerweile auf einem Mann, der sich bislang nicht als Euro-Missionar erwiesen hatte – auf Londons Premier Tony Blair. Der übernimmt im Sommer turnusmäßig den EU-Vorsitz. Schon setzt es den Hinweis, dass seine Regierung auf die soziale Frage, von den französischen Wählern auf die Agenda der EU gesetzt, eine überzeugendere Antwort gegeben als die meisten anderen EU-Kabinette. Umverteilung von Oben nach Unten, mehr Chancen für die Bedürftigen und Wachstum am Arbeitsmarkt – das hat es in den vergangenen Jahren nur in Großbritannien gegeben.

 

Schon richten sich die Augen europäischer Insider aber auch auf eine Frau und einen Mann, um die in den nächsten zehn Jahren wohl kein Weg herumführt – auf die deutsche CDU-Chefin Angela Merkel und den französischen Innenminister Nicolas Szarkozy. Wird sie, wie erwartet, deutsche Kanzlerin, und er, wie anzunehmen, nächster französischer Präsident, gehört ihnen auch die europäische Zukunft. Zunehmend hektisch versuchen die Brüsseler Eurokraten jedenfalls schon zu ergründen, was die beiden – in EU-Dingen weitgehend unbeschriebene Blätter – europapolitisch wohl so denken.

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