Heroische Gelassenheit

Siebzig Tote in Londons Innenstadt – und kein bißchen Hysterie. Europa hat offenbar mit dem Terror leben gelernt. Eine strategische Niederlage für die Terroristen: Denn die brauchen den Alarmismus und die Panikreaktionen, die sie auslösen. Falter, Juli 2005

 

 

Selten kommt ein Terroranschlag völlig aus dem Nichts. Aber noch kaum einer kam derart erwartet worden wie der in London in den Morgenstunden des vergangenen Donnerstags. Nach dem Massaker von Madrid im März vergangenen Jahres hatte der damalige Polizeichef von London sogar gemeint, es sei "unvermeidlich", dass es einmal auch seine Stadt treffen würde. "When not if" – nicht ob, sondern wann ein Anschlag auch in London gelingen würde, sei die Frage – diese Formulierung hatte sich längst durchgesetzt. So zeigten sich die Briten, als das "Unvermeidliche" dann tatsächlich eintrat, demonstrativ gelassen. Die Überlebenden schleppten sich aus den U-Bahn-Schächten, schippten sich die Asche von den Schultern, gingen ins nächste Starbucks und sagten routiniert in die TV-Kameras: "Es war doch nur eine Frage der Zeit. Früher oder später musste es hier passieren." Oder: "Damit haben wir doch täglich gerechnet".

 

Ist das Ausdruck der speziell britischen Eigenart, auch im Katastrophenfall Haltung zu bewahren? Einfach "Cool Britannia"? Oder hat Europa mit dem Terror zu leben gelernt?

 

Gewiss kann man einwenden, London sei relativ glimpflich davongekommen – 70 bis 80 Todesopfer sind qualitativ etwas anderes als 191 Tote (wie in Madrid) oder 3000 Tote (wie in New York). Da der neue Terrorismus auf den maximalen Schrecken abzielt, ist der "Body Count" keine Nebensache. Und mental hatten sich die Briten auf Schlimmeres eingestellt. Aber dennoch: Ein Massaker mit knapp 80 Toten ist andererseits nicht ein Geschehen, dem gegenüber Gelassenheit die natürliche Reaktion ist.

 

Jetzt werden historische Erinnerungen wachgerufen. An die Ausflügler, die im Zweiten Weltkrieg in den britischen Seebädern ungerührt am Strand lagen, Ferngläser in der Hand, während über ihnen die Bomber der deutschen Luftwaffe gegen London dahinbrausten. Diese Lässigkeit war ja nicht Ausdruck einer Indifferenz, sondern selbst ein Widerstandsakt. Die Ferien an der Küste waren Teil eines Way of Life und wenn man sich diesen nehmen ließe, hätte der Feind schon seinen ersten, womöglich entscheidenden Sieg errungen.

 

Es springt jedenfalls ins Auge: Nach den Anschlägen vom vergangenen Donnerstag auf Tube und Doppeldeckerbus – offenbar mit simultan gezündeten Bomben in der U-Bahn und einem 45 Minuten später detonierenden Sprengsatz in der Autobuslinie 30 – ist das Reaktionsmuster ein völlig anderes als noch bei dem Angriff auf die Madrider Vorortelinien, aber auch auf den Mord auf Theo van Gogh vergangenen Herbst in Amsterdam. Keine Spur von Hysterie diesmal. Kaum ein Bericht, kaum ein Kommentar, in dem nicht das Schlüsselwort lautet: Gelassenheit. Ist der Zenit des Erregungsbogens womöglich überschritten? Und was bedeutet das? Haben wir uns an die Bilder von zerschundenen Verletzten und zerrissenen Leichen einfach nur gewöhnt, sodass sich Indifferenz einschleicht? Wiegen wir uns gar in falscher – relativer – Sicherheit?

 

Ausgerechnet die ehrwürdige "Times", der Klassiker unter Europas Tageszeitungen, fragte fast frivol in einem Kommentar am Tag nach dem Anschlag: "Ist das alles, was die können?" Zeigt sich jetzt vielleicht gar, "auf was wir sie zurechtgestutzt haben"? Schließlich hätten die Terroristen Großbritannien – dem Hauptverbündeten der USA – doch sicherlich gerne mehr angetan. Der Krieg gegen den Terror, so die "Times", zeitigt Erfolge.

 

Man weiss das nicht genau, auch wenn tatsächlich manches dafür spricht. Womöglich ist Gelassenheit aber in jedem Fall die viel angemessenere Haltung als Panikreaktionen und übertriebener Alarmismus, die dem islamistischen Extremismus letztlich in die Hände spielen. Denn hysterische und maßlose Reaktionen auf ihre Akte sind es ja, womit die Jihadis kalkulieren. Offene Gesellschaften in eine Wagenburgmentalität zu bomben, ist Teil ihrer Rechnung. "Heroische Gelassenheit", so formulierte der Berliner Politikwissenschafter Herfried Münkler schon vor zwei Jahren – angesichts der Anschläge von Istanbul -, das ist es, was die liberalen Rechtsstaaten im Umgang mit der jihadistischen Herausforderung zu erlernen haben. Denn der Terrorismus zielt auf maximalen Schrecken ab. Er will nicht ausgesuchte Mächtige aus dem Weg räumen, sondern so viele normale Menschen wie möglich in den Tod reißen. Er will Panik verbreiten. Er setzt dort an, so Münkler, "wo unsere Gesellschaften hochgradig verletzlich sind und durch Medien in einen hysterischen Zustand versetzt werden". Attacken "ohne Weinerlichkeit und Wehleidigkeit" zu ertragen heißt aus solcher Perspektive schon, dem Terror die Spitze zu nehmen. In medial konstruierten Wirklichkeiten ist, wie wir alle wissen, nicht so sehr der Gewaltakt wirksam – außer für die unmittelbar Betroffenen selbstverständlich -, sondern das, was im nachfolgenden Diskurs daraus gemacht wird. Oder, wie das Ulrich Schneckener von der renommierten deutschen "Stiftung Wissenschaft und Politik" formuliert: "Der Terrorismus erzielt seine Wirkung nicht zwingend durch das, was er tut, sondern durch unsere Reaktion darauf."

 

Sich diesem Mechanismus zu entziehen ist natürlich extrem schwierig.

 

Und doch führt kein Weg daran vorbei. Weil man den liberalen Rechtsstaat nicht verteidigen kann, indem man Bedrohungen mit einem Hochssicherheitsstaat schon im Keim erstickt; weil man die westliche Moderne, mit ihrer Achtung vor dem Einzelnen und dem Respekt der Differenz nicht gegen ihre Feinde schützen kann, indem man Muslime unter Generalverdacht stellt; weil sich ein offenes Klima mit verallgemeinerten Ausnahmezustand nicht verträgt – weil dies alles nicht geht, müssen wir eben mit dem Risiko einen modus vivendi finden. Es ist durch polizeiliche und geheimdienstliche Maßnahmen minimierbar. Das hat gerade das britische Beispiel gezeigt. Viele Komplotte für Anschläge konnten durch die dortige Polizei vereitelt werden. Aber das Risiko ist nicht völlig auszuschließen.

 

So ist die neue Gelassenheit womöglich gar nicht primär ein Phänomen britischer Coolness sondern Resultat eines Lernprozesses, den buchstäblich jeder westliche Metropolenbewohner durchmachen musste. Wir wissen heute, dass wir ein Risiko eingehen, wenn wir in eine U-Bahn steigen. Herrenlose Gepäckstücke versetzen uns in Alarmzustand. Wir wissen aber auch, dass das Risiko überschaubar ist. Bei einer "leidenschaftslosen Einschätzung" der gegenwärtigen Bedrohung durch den Terrorismus, schreibt etwa der britische Geschichtsprofessor Charles Townshend, "könnte es tatsächlich am angemessensten sein, ihn gar nicht zur Kenntnis zu nehmen. Statistisch gesehen, stellt er eine bedeutend geringere substanzielle Gefahr dar als ein Verkehrsunfall…"

 

Das heißt nicht, dass man die Werte einer liberalen Gesellschaft, den Respekt vor Differenz und das Recht eines jeden, sein Leben nach eigenen Gutdünken zu führen, nicht gegen eine Doktrin verteidigen soll, die eine Gesellschaft nach dem Vorbild einer Wüstenkriegerordnung aus dem siebten Jahrhundert formen will. Aber die Instrumente dafür sind zunächst die polizeilichen Maßnahmen. Schon am vergangenen Wochenende trafen sich knapp hundert führende Polizeioffiziere aus aller Welt in London um die Ermittlungsergebnisse miteinander auszutauschen. Es war, nach den Worten des "Observer" eine "Konferenz der globalen Polizeiführer, wie es sie noch nie gegeben hat". Al-Qaida, da sind sich alle Fachleute einig, ist heute nicht mehr das, was es noch vor vier Jahren war – ein Terrornetzwerk, das zwar nicht völlig zentral gelenkt, aber doch global organisiert war. Heute ist al-Qaida mehr eine Maxime, eine Formel extrem radikalisierter Islamisten, die zunehmend auch den Anschluss an den Common Sense in ihrem eigenen Milieu verlieren. An die Stelle einer organisierten Kaderstruktur ist – aufgrund der Zerstörung der Zentrale in Afghanistan und auf Grund des Fahndungsdruckes – ein "dezentralisiertes, nahezu führerloses Netzwerk" getreten, wie das Jason Burke formuliert, der Autor von "Al Qaeda – The True Story of Radical Islam" und wohl beste Kenner der engeren Jihadistenszene. In Bali, Casablanca, Istanbul waren die Opfer der Anschläge mehrheitlich Muslime, bei den Anschlägen in Madrid und London haben die Attentäter auf ihre Glaubensbrüder keinerlei Rücksicht genommen, im Gegenteil: "Weiche Ziele" wie Pendlerzüge und U-Bahn werden nicht zuletzt von Immigranten benützt. Die Radikalisierung, mit der die losen al-Qaida-Zellen auf den Fahndungsdruck reagieren, kostet sie die Sympathien, die sie unter entfremdeten, zukunftslosen, ressentimentgeladenen Muslimen noch vor kurzem genossen haben mögen. "Das erinnert, bei allen Unterschieden, an den Niedergang der Islamisten in Algerien und Ägypten in den neunziger Jahren", meint Jason Burke.

 

Das Entscheidende ist also die Unterstützung, die die Bomber in ihren eigenen Kreisen verlieren. Im Lichte dessen ist vor allem die Reaktion islamistischer Autoritäten auf die Anschläge von London bemerkenswert. So meinte der modernistische islamistische Prediger Tariq Ramadan bereits am Tag nach dem Terrorakt nicht nur: "Wir müssen diese Attacken mit aller Kraft verurteilen". Er rief auch dazu auf, jeder einzelne habe "unsere Ideale" gegen die "Botschaft des Hasses" zu verteidigen. Sogar die palästinensische Hamas verurteilte prompt den Mord "an Unschuldigen". Und der ultrakonservative iranische Ayatollah Emami Kaschani nannte die Attentäter schlicht "diese Barbaren".

 

Es zeichnet sich also schon ab, welche Art von "Kampf gegen den Terror" funktioniert: Fahndung nach Terrorzellen; die Unterstützung moderater Muslime bei ihrem Versuch, die Killer in ihren Milieus zu isolieren; sowie die Verteidigung der Werte einer liberalen Gesellschaftsordnung. Die verteidigt man am besten, in dem man sie auch in gefährdeten Momenten hochhält und in dem man sie in dem Selbstbewußtsein vertritt, dass diese Werte sich mit Gewissheit behaupten werden.

 

Ein anderes Wort dafür ist: mit Gelassenheit.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht.