Mehr Gleichmacherei, bitte!

Selektion macht dumm, Gleichheit macht klug, zeigt Pisa. Dass wachsende Ungleichheiten Folgekosten zeitigen und damit ineffizient sind, gilt nicht nur für Bildungsdinge. Zeit, die Egalité, den verstaubten, alten Grundwert aus dem Keller zu holen. Falter, März 2005

 

 

Nichts war in den vergangenen fünfzehn, zwanzig Jahren mehr aus der Mode gekommen als die Gleichheit. Wer mehr Gleichheit verwirklichen will, tönte es da aus allen Ecken, tut nicht nur den immer einzigartigen Menschen Gewalt an, er vergeht sich auch an den Zukunftschancen unserer Gesellschaft. Leistung muss sich lohnen und freie Marktwirtschaften garantieren Prosperität. Mehr freies Spiel von Erfolg und Mißerfolg, mehr Elite muss her – von Sozialstaats- über Gesundheits- bis Universitätsreform ist dies das bestimmende Lied. "Hasspredigten der Gleichheitsfeinde", nennt der Berliner Soziologe Wolfgang Engler diese Rhetorik in seinem dieser Tage erscheinenden Buch "Bürger, ohne Arbeit" (Aufbau-Verlag, Berlin). Es blieb natürlich nicht bei den Predigten: Wurden die westlichen Gesellschaften in den ersten drei Nachkriegsjahrzehnen tendenziell "gleicher", hat sich "in allen westlichen Industrieländern der Trend zu einer immer egalitäreren Einkommensverteilung seit den achtziger Jahren markant umgekehrt", wie der liberal-konservative deutsche Sozialhistoriker Paul Nolte ausführt.

 

Erst mit den Pisa-Studien wurde das Gleichheitsideal wieder ein wenig rehabilitiert. Zu deutlich ist, dass jene Gesellschaften in der Wissensgesellschaft einen Vorsprung haben, in denen weniger selektiert wird, in denen versucht wird, Klassenschranken aufzuweichen, anstatt sie zu zementieren. Wobei die konservativen Gleichheitsfeinde natürlich gegen Fakten weitgehend immun sind. Erst vor ein paar Tagen insinuierte ein durchgeknallter Presse-Kommentator allen Ernstes, es sei keineswegs klar, ob die skandinavischen Staaten wirklich wegen und nicht trotz ihres egalitären Bildungsideals alle Pisa-Ranglisten anführen.

 

Sei’s drum: Der Erfolg des Angriffes auf die Gleichheit ist kaum zu verstehen, hat man nur die Rechten im Auge: Der traditionelle Konservativismus hielt immer schon viel auf Elite und natürliche Rangordnung. Die Gleichheit kam ins Gerede, weil die Linken, für die "das Ideal der Gleichheit" – mit den Worten des italienischen Philosophen Norberto Bobbio – "immer der Polarstern war", halb verschämt, halb technokratisch-entschieden von ihr Abschied nahmen. Das betrifft zunächst natürlich die europäischen Sozialdemokraten, die die "neue Mitte" umgarnen wollten und denen das alte proletarische Gleichheitsprinzip dafür zu verstaubt erschien. Umverteilung, Förderung der Unterklassen, das roch nach Klassenkampf und beschwor die Gefahr herauf, dass "die neue Mitte" die Furcht packt, ihr könnte etwas weggenommen werden. Das alte Prinzip Gleichheit wurde durch die modische Allerweltsformel "Chancengerechtigkeit" ersetzt. Die ist freilich nur die gutmenschliche Variante des neoliberalen Leistungscredos: Alle sollen von der gleichen Startlinie loslaufen, wenn der Schnellere früher ins Ziel kommt, dann ist das schön für ihn. Für die Langsamen gilt: Pech gehabt. "Die Förderung menschlicher Kreativität und Möglichkeiten sollte, soweit es geht, eine nachträgliche Umverteilung ersetzen", postulierte Anthony Giddens, der Chef der "London School of Economics" und Stichwortgeber Tony Blairs. Mit einer Einschränkung: Ohne eine Spur Umverteilung würde "aus der Ungleichheit im Ergebnis der einen Generation die Ungleichheit der Chancen der nächsten". Bezeichnend ist der Konjunktiv: Als wäre es nur eine Gefahr und nicht eine Tatsache, dass ganze Kohorten mit weniger Chancen ins Leben gehen als ihre Altersgenossen.

 

Aber es wäre auch billig, so zu tun, als hätten nur die Sozialdemokraten das Gleichheitsideal feige in den Keller verräumt. Im weiten Feld unorthodoxer Gesellschaftskritik, der Blase aus Postmarxisten, Kulturlinken und postmoderner Diskursjockeys beschäftigt man sich seit zwanzig Jahren vornehmlich mit Phänomenen von Differenz, Culture Jam, mit distinken Identitäten, dem Zusammenprall und auch der fröhlichen Vermischung von Unterschiedlichkeiten. Differenz ist spannend, Gleichheit fad. Verständlich: Mainstream will keiner sein, jeder pocht auf seine Einzigartigkeit als Subjekt. Nur ist das der Verteidigung des Gleichheitsideals, vorsichtig gesagt, nicht nur förderlich.

 

Die moderne Sozialphilosophie hält sich schon lange nicht mehr damit auf, zu ergründen, was für Gleichheit spricht, mehr bekümmert sie, was für Ungleichheiten spricht, oder, um das mit einem schönen Wort des linken US-Wissenschaftlers Michael Walzer zu sagen: für "komplexe Gleichheit". Denn die Menschen halten ja nicht alle Ungleichheiten für ungerecht. Gediegene Ausbildung, besondere Kenntnisse qualifizieren zu mehr Einkommen, mehr Macht. Chancen für die Reichen können bisweilen den Armen mehr helfen als nivellierende Gleichheit, lautet das Credo. Nach einer berühmten Wendung des Philosophen Harry Frankfurter: "Es kommt darauf an, ob Menschen ein gutes Leben führen, und nicht, wie deren Leben relativ zu dem Leben anderer steht."

 

Der soziale Preis der Ungleichheit geriet so nach und nach aus dem Blick. Deshalb auch nun die Überraschung, dass egalitäre Systeme klügere Schüler, mehr Aufwärtsmobilität und damit mehr Prosperität schaffen. Dabei hätte man es wissen können: Mehr soziale Ungleichheiten führen zu mehr sozialer Verwahrlosung. Die spornt nicht gerade zu Höchstleistungen an. Chancenarmut für die Unten führt zu Verschwendung von Humankapital. Alle Erfahrung zeigt, resumiert der amerikanische Sozialwissenschaftler Philip Green seine Untersuchungen, "dass ein höherer Grad an Ungleichheit ungünstiger ist als ein geringerer Grad an Ungleichheit". Für den britischen Denker Will Hutton, immerhin auch er ein Intellektueller aus dem Umkreis von "New Labour", "ist wachsende Ungleichheit selbst eine Ursache wirtschaftlicher Ineffizienz". Die skandinavischen Staaten mit ihrer egalitären Kultur sind ja nicht nur in Bildungsdingen Primus in Europa. "Finnland und Schweden sind gegenwärtig die am meisten fortgeschrittenen Länder in Europa und vielleicht, stellt man ihre Größe in Rechnung, in der Welt", schreibt der Sozialwissenschaftler Göran Therborn. Ein Grund: "Weniger Ungleichheit bedeutet größere Mobilität".

 

Will man den Preis der Ungleichheit abschätzen, kommen natürlich nicht nur Bildungs- und Sozialsysteme in den Blick. Teilweise subtile Klassenspaltungen schleifen sich ein. Die Aufweichung des öffentlichen Rundfundsmonopols führt etwa zu neuen Gräben: Unterschichtsfernsehen wie RTL und Sat-1 für die einen, Oberschichtssender wie Arte und 3-Sat für die anderen. Optionengesellschaft, das freie Spiel von Konsum und Lifestyle "hat soziale Unterschiede nicht eingeebnet, sondern vergrößert" (Paul Nolte). Die "Optionen- und Risikogesellschaft" bedeutet oft: Optionen für die einen, Risiken für die anderen. Die Privatisierung öffentlicher Dienste öffnet die Schere weiter: In den fünfziger Jahren konnte man die Schichtzugehörigkeit an den Zähnen ablesen. Seit den siebziger Jahren hat sich das – Stichwort: flächendeckende Zahnregulierung – aufgehört. In fünfzehn Jahren wird es vielleicht wieder andersrum sein.

 

In Summe konzentrieren sich Startvorteile oben und unaufholbare Defizite unten. Über ein, zwei Generationen kumuliert, hat das, um das in einer Sprache zu formulieren, die auch der letzte neoliberale Marktfanatiker versteht: Folgekosten. Und zwar ziemlich hohe.

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