Paradies auf Erden

Sozialpolitik. Ihre Unternehmen sind führend am Weltmarkt. Ihr soziales Netz ist eng geknüpft. Die Produktivität ist hoch. Nirgendwo gibt es so kluge Schüler, so viele Internetanschlüsse und so viele berufstätige Frauen. Wie machen das die skandinavischen Länder nur? Falter, November 2005

 

 

Matthias Platzeck, Ministerpräsident des ostdeutschen Bundeslandes Brandenburg, will sich nicht länger am goldenen Westen ein Vorbild nehmen. "Auf wegweisende Ideen aus Westdeutschland können wir derzeit kaum hoffen", sagt er mit der ihm eigenen Ironie. Deshalb reist er jetzt auffallend oft nach Finnland. Um sich Tips zu holen. Denn in Skandinavien ist alles wunderbar.

 

"Finnland für alle", titelte unlängst die Hamburger "Zeit", und die "Süddeutsche Zeitung" resümierte nicht ohne Erstaunen: "Deutschland bewundert Skandinavien", und zwar neuerdings nicht nur die Linken, sondern auch die Konservativen. Das gilt nicht nur für Deutschland. In den kontinentaleuropäischen Sozialstaaten, von der Globalisierung, ökonomischem und sozialem Wandel zerzaust, angesichts von niedrigen Wachstums-, noch niedrigeren Geburtenraten und einer hohen Sockelarbeitslosigkeit ziemlich ideenlos, hört man jetzt alle Tage die Frage: Wie machen das eigentlich die Skandinavier?

 

Erstaunlich, allemal. Bis in die achtziger Jahre galt das "nordische Modell", der skandinavische Wohlfahrtsstaat, allenfalls für Sozialdemokraten als Vorbild – und auch da zuletzt nur für den linken Flügel. In den neunziger Jahren sahen die meisten in Schweden oder Finnland eher Negativbeispiele, wie man es nicht machen soll – Exempel für einen wuchernden Staat, der seinen Bürgern Steuern in astronomischer Höhe abknöpft, den freien Markt einschränkt und wirtschaftliche Innovation abwürgt.

 

Doch jetzt ist alles anders. "Wir Schweden", sagt Premier Göran Persson sehr selbstbewußt, "wir haben die Antwort auf die Frage gefunden, wie ein moderner Staat hohe Wachstumsraten und Produktivität mit sozialer Gleichheit und Solidarität verbinden kann". Jetzt, erzählt er stolz, fragen ihn sogar Tony Blairs New-Labour-Leute immer häufiger, wie das denn geht. 

 

Die Eckdaten sind tatsächlich beeindruckend. Dass ein ausgebauter Sozialstaat die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen hemmt, kann mit Blick auf die skandinavischen Länder tatsächlich kaum mehr behauptet werden. Volvo, Nokia, Erikson, Elektrolux – überproportional oft entstehen innovative Unternehmen, die sich auch am Weltmarkt durchsetzen können, in den kleinen skandinavischen Ländern. Die Arbeitslosigkeit ist niedrig, vor allem aber ist die Beschäftigungsquote hoch: nirgendwo sonst auf der Welt sind so viele Frauen berufstätig wie in den skandinavischen Ländern. Kaum jemand ist für längere Zeit ohne Job. Die Wachstumsraten liegen über den kontinentaleuropäsichen Durchschnitt; die Defizite im Budget deutlich darunter.

 

Und das, obwohl die skandinavischen Vollbeschäftigungsökonomien in den frühen neunziger Jahren eine tiefe Krise durchmachten. Geographische Nähe – und Geschichte – haben, vor allem in Finnland, zu einer engen wirtschaftlichen Kooperation mit der Sowjetunion geführt, der Zusammenbruch dieses Marktes resultierte dann in einer scharfen Talfahrt. Zwischen 1990 und 1993 verfünffachte sich die Arbeitslosigkeit in Finnland von 3,1 Prozent auf 16,4 Prozent, in Schweden immerhin von 1,6 auf 9,1 Prozent, auch in Dänemark und Norwegen verschlechterte sich das Wirtschaftsleistung signifikant. In Finnland schrumpfte das BIP, also die nationale Wirtschaftsleistung, um dramatische 11,4 Prozent.

 

Doch während es die westeuropäischen Staaten im Grunde seit den siebziger Jahren nicht mehr schaffen, einmal aufgetürmte Arbeitslosigkeit auch wieder abzubauen, hatten die vier skandinavischen Ökonomien die Krise keine zwei Jahre später wieder überwunden. Der Wunder nicht genug, beeindrucken Schweden, Finnland, Norwegen und Dänemark auch bei "weicheren" Erfolgsfaktoren. Skandinavische Paare entscheiden sich deutlich häufiger dafür, Kinder zu bekommen, als etwa deutsche oder österreichische. Die Fertilitätsrate – also die durchschnittliche Anzahl von Kindern, die eine Frau im Laufe ihres Lebens bekommt – liegt in Finnland bei 1,73, in Dänemark bei 1,77, in Norwegen bei 1,85 (nur Schweden liegt mit 1,54 etwas zurück). Zum Vergleich: Österreich 1,34, Deutschland 1,36 (alle Zahlen gelten für das Jahr 2000).

 

Eine hohe Erwerbsquote und eine relativ junge Bevölkerung – das Verhältnis von Beschäftigten zu Rentnern ist, jedenfalls verglichen zu den kontinentaleuropäischen Staaten, entsprechend entspannt. Mit den erwartbaren Auswirkungen für die Rentenfinanzierung.

 

Angesichts der Abfolge solcher Superlative können Erfolgsmeldungen wie die folgende kaum mehr überraschen: "Nirgendwo in Europa liegen Reich und Arm so nah beieinander wie in Skandinavien" ("Die Zeit"). Natürlich gibt es auch in Schweden oder Finnland Reiche und Arme. Aber die Schere ist nicht so scharf offen wie anderswo. Vor allem verfestigen sich Chancenreichtum und Chancenarmut generational nicht so stark – Vor- und Nachteile werden nicht vererbt. Dafür sorgt das Schulwesen, noch mehr aber die flächendeckende Förderung in Kindergarten und Vorschule. Die Pisa-Studien haben ja nicht nur ergeben, dass die österreichischen – und mehr noch die deutschen – Schulen im internationalen Vergleich schlecht abschnitten, sondern vor allem, dass die sozialen Hierarchien eher undurchlässiger als durchlässiger werden. "Die Statistiken zeigen", sagt Gösta Esping-Andersen, einer der besten Kenner der europäischen Sozialsysteme, "dass es in den meisten Ländern überhaupt keinen Rückgang der Sozialvererbung gegeben hat". Die Eliten holen sich ihren Nachwuchs bei den Kindern der Eliten, der Mittelstand aus dem Mittelstand, die Unterschicht aus der Unterschicht. Die einzige Ausnahme: die nordischen Länder. Wohin man es einmal bringt hängt hier nicht davon ab, woher man kommt – jedenfalls viel weniger, als anderswo.

 

Das Resultat ist Aufwärtsmobilität und eine überdurchschnittlich gut ausgebildete Bevölkerung. "Wenn man eine freie Marktwirtschaft hat, mit bestens ausgebildeten Arbeitskräften, möglichst gesunden Menschen, einer extrem hohen Produktivität und dazu noch einer sauberen Umwelt, dann hat man die Bedingungen für ein ordentliches Wachstum geschaffen", formuliert Schwedens Premier Göran Persson das nordische Erfolgsrezept. Nirgendwo auf der Welt ist der Anteil der Internetnutzer an der Gesamtbevölkerung so hoch, und das "Pressefreiheits"-Ranking führen die skandinavischen Länder auch noch an. Kurzum: Zwar gibt es kein Paradies auf Erden – aber Schweden, Finnland oder Norwegen kommen ihm verdammt nahe.

 

Aber wie kann das funktionieren? All das hat doch seinen Preis: extrem hohe Steuersätze bis zu 56 Prozent und eine überdurchschnittliche Sozialquote (Anteil der Sozialausgaben am BIP) von 30 Prozent oder mehr. Wieso können Staaten, die sich so etwas leisten, im internationalen Wettbewerb bestehen? Wie schaffen skandinavische Unternehmen den Preiskampf gegenüber Unternehmen anderer Staaten, die solchen Luxus nicht finanzieren müssen?

 

Die Antwort darauf ist simpel – und kompliziert zugleich. Die simple Antwort: die skandinavischen Wohlfahrtsstaaten haben Finanzierungs- und Leistungssysteme, die der Wirtschaft und der Beschäftigung nicht schaden, sondern die Beschäftigung eher stimulieren. Die komplizierte Antwort: Über Jahrzehnte wurde eine sozialpolitische Kultur geschaffen. Die zeitigt Erfolge, welche wiederum neue Erfolge nach sich ziehen.

 

Ersteres ließe sich leichter kopieren, letzteres schon schwerer.

 

Dass hohe Sozialausgaben der Wirtschaftsleistung schaden, ist ein heute oft gehörtes Vorurteil, das sich kaum bestätigen läßt. So hat der US-Wirtschaftshistoriker Peter Lindert in einer Monsterarbeit Daten aus 21 Ländern über zwei Jahrhunderte gesammelt und ausgewertet. Daraus hat er die zweibändige Studie "Growing Public. Social Spending and Economic Growth Since the Eighteenth Century" kompiliert. Sein Resumee: "Ausgaben für Sozialprogramme verursachen unterm Strich keine Kosten, die zulasten des Wachstums von Bruttoinlandsprodukt und Produktivität gehen." Voraussetzung ist freilich, dass man die Sache klug angeht.

 

Die Skandinavier finanzieren ihren Sozialstaat vorwiegend über Steuern – und zwar wesentlich über Einkommens- und Verbrauchssteuern (also die Mehrwertsteuer). Unternehmensgewinne, die reinvestiert werden, werden traditionell niedrig besteuert. Dafür ist die Steuerbelastung für Besserverdiener deutlich höher als die für Kleinverdiener.

 

Dagegen finanzieren die kontinentaleuropäischen Staaten ihren Sozialstaat wesentlich über Sozialausgaben. In Deutschland nahezu ausschließlich, und dort werden den Sozialkassen auch noch Leistungen aufgebürdet, für die sie gar nicht vorgesehen sind – wie der Gros der Kosten für den Aufbau Ost. In Österreich gibt es eine Mischform – einer der entscheidenden Gründe, warum Österreich etwas besser da steht als Deutschland.

 

Das Ergebnis ist ein Krisenkreislauf, den die skandinavischen Länder nicht kennen. Wenn die Ausgaben für die Sozialsysteme wegen hoher Arbeitslosigkeit steigen, steigen in unseren Breiten auch die Arbeitskosten, was die Konkurrenzfähigkeit beschränkt und die Beschäftigung erst recht hemmt.

 

In den skandinavischen Ländern sind die Arbeitskosten niedrig, dafür kassiert der Staat hohe Einkommenssteuern (was die Unternehmen nicht berührt) und Mehrwertsteuern auf die Produkte. Aber selbstverständlich auf alle Produkte: Also auch auf die, die aus Polen oder Asien importiert werden.

 

Ein Sozialstaat, der sich über Abgaben auf Löhne und Gehälter finanziert, kommt gerade dann in Bedrängnis, wenn er gebraucht wird – wenn also weniger Leute Löhne oder Gehälter erhalten. Ein Sozialstaat, der sich über Steuern finanziert, ist krisenresistenter, und seine Einnahmenbasis ist breiter. Ein Sozialstaat, der sich über Abgaben auf Löhne und Gehälter finanziert, führt dazu, dass fast nur Arbeitnehmer und arbeitsintensive Branchen zu seiner Dotierung beitragen – umverteilt wird von gut verdienenden Arbeiternehmern zu Niedrigverdienern und Erwerbslosen. Ein Sozialstaat, der sich über Steuern finanziert, zieht alle heran. Er ist also nicht nur leistungsfähiger, er ist auch gerechter.

 

Hinzu kommt: Das Rückgrat des skandinavischen Sozialsstaates ist ein dichtes Netz von sozialen Diensten – von Kliniken und Ambulanzen über Krippen, Kindergärten, Vorschulen, guten Schulen und Universtitäten bis zur klassischen Fürsorge, die sich den Problemfällen annimmt. Dies führt nicht nur dazu, dass etwa die Frauen bessere Möglichkeiten haben, einen Beruf auszuüben – sondern ebenso, dass es für sie auch Jobs gibt. Denn Frauen stellen das Gros der Beschäftigten in diesen sozialen Dienstleistungen.

 

Dies nennt der deutsche Sozialpolitikexperte Fritz W. Scharpf das eigentliche Konstruktionsproblem der kontinentalen Wohlfahrtssysteme – dass sie die Arbeitskosten hoch halten, darum Beschäftigung vor allem im Dienstleistungsbereich bremsen – und es damit auch für Familien verteuern, Dienstleistungen in Anspruch zu nehmen, die sie eigentlich bräuchten. Dagegen schafft das "nordische Modell" gerade in jenen Branchen Jobs, was die Erwerbstätigkeit dann doppelt fördert: Weil Jobs entstehen und weil Frauen die Möglichkeit gegeben wird, Kinder und Büro unter einen Hut zu bringen.

 

Die gute Nachricht lautet also: Es gibt schon eine Möglichkeit, Sozialstaat, Globalisierung und technologischen Wandel zu justieren und es gibt hierfür auch Modelle, die man nur kopieren bräuchte. Die schlechte Nachricht: Ganz so einfach ist das nicht. Denn fast achtzig Jahre Wohlfahrtsstaat haben in Skandinavien eine sozialpolitische Kultur entstehen lassen. Es gibt eine Konsenskultur, die sozialdemokratisch geprägt ist, und die auch von den konservativen Parteien geachtet wird. Der Staat kassiert viel, aber die Bürger wissen, dass sie dafür auch etwas bekommen und "deshalb haben wir auch die Unterstützung für hohe Steuern", so Premier Persson.  Dass Frauen ebenso berufstätig sind wie Männer, ist eine Selbstverständlichkeit. Dass Kinder Karrierehemmnisse sind – und ein Armutsrisiko – würde niemand verstehen. Die nordischen Länder "setzen mittlerweile seit Jahrzehnten auf die allgemeine Versorgung mit Betreuungsmöglichkeiten für Kinder im Vorschulalter"  (Esping-Andersen). Mit dem Ergebnis, dass die skandinavischen Länder die klassenlosesten Gesellschaften der Welt sind, in denen seit Jahrzehnten klügere Schüler das Bildungssystem verlassen als in hiesigen Zonen. All das hat selbstverständlich längst Kumulationseffekte und äußert sich in einer gewachsenen Gleichheitskultur. Stenzelhaftes Schnöseltum ist selbst für hartgesottene Konservative undenkbar.

 

Mit dem Import einzelner besserer Regeln wäre es also nicht getan. Es bräuchte schon eine kleine Kulturrevolution. Und ein, zwei Generationen Zeit.

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