„Relativ links“

Deutschland. Die Linke hat die Mehrheit – und die Union stellt die Kanzlerin. Paradox, aber beim heutigen Stand das wahrscheinlichste Resultat des Koalitonspokers. Doch langsam bewegen sich auch SPD, Grüne und Linkspartei aufeinander zu. Falter, September 2005

 

 

Es war nur ein kurzer Augenblick, in dem das Volk, der Demos, seinen professionellen Deutern, den Demoskopen, das Heft aus der Hand nahm. Der Wahltag wurde dann zum schwarzen Tag für die Meinungsforschung, aber auch für sie galt, wie im alten Brecht-Klassiker: "Die Nacht hat zwölf Stunden, dann kommt schon der Tag." Jetzt sind sie wieder obenauf, die Meinungsbefrager, und die Akteure des Berliner Machtpokers studieren täglich zum Frühstück ihre aktuelle Werte. Angela Merkel kann daraus ablesen, dass eine Mehrheit eine Große Koalition unter ihrer Führung will und Gerhard Schröder, dem Amtsinhaber, wird die Nachricht ins Haus geliefert, dass seine Machtspielchen nicht so gut kommen und vor allem sein Auftritt vom Wahlabend nicht. "War nicht gut, ich weiss", räumt er längst selber ein.

 

So stehen, auch dank bewährtem Zusammenspiel von Umfrageinstituten und etablierten Leitartiklern, die Zeichen in Woche Zwei nach den Bundestagswahlen auf die Große Koalition. Er wolle "alles dafür tun", dass eine solche zustande kommt, versprach der Kanzler via ARD-Fernsehen. Da die lagerübergreifenden Dreierkonstellationen – hier Schwarz-Gelb-Grün, da Rot-Grün-Gelb – erstmals vom Tisch sind, müssen jetzt die Großen in den Ring. Und da gilt es gute Stimmung zu machen. Denn wenn aus Schwarz-Rot doch nichts wird, dann soll schließlich im allgemeinen Urteil der jeweils andere daran schuld sein. Wer zu sehr mauert, gar als machtversessen oder Sesselkleber erscheint, den bestraft die öffentliche Meinung.

 

So ist die Große Koalition heute die am meisten realistische Variante, sicher ist sie deshalb noch nicht. Entscheidend ist im Augenblick eben nicht nur, ob, beispielsweise, die SPD die Große Koalition wirklich will – entscheidend ist, in diese Phase der Zockerei, dass sie den Eindruck erweckt, sie würde alles dafür tun, dass es sie gibt. Darum auch die Andeutungen aus dem sozialdemokratischen Lager, man wäre gegebenenfalls auch bereit, Schröder zu opfern: "In einer Demokratie soll man niemals nie sagen", so die neue Sprachregelung unter den SPD-Granden.

 

Für sie lautet nämlich die Frage nicht nur: Wieviel können wir gegebenenfalls – inhaltlich und personell – in einer Großen Koalition durchsetzen? Sondern auch: Wem wird, wenn die Verhandlungen scheitern, in der Öffentlichkeit die Schuld gegeben? Denn wenn sie scheitert, und wenn es gelingt, der Union dafür den schwarzen Peter zuzuschanzen, dann hat die SPD noch eine Notfallsoption. Sie könnte Schröder, mit den Stimmen von SPD, Grünen und einem Teil der Linkspartei-Fraktion im dritten Kanzler-Wahlgang im Parlament zum Regierungschef wählen lassen und danach mit wechselnden Mehrheiten regieren.

 

Zugegeben: Wahrscheinlich ist das nicht. Aber es ist eine Option, die die andere Seite nicht hat. Und es ist auch mehr als ein Planspiel – die Frage, wie halten es SPD, Grüne und Linkspartei rückt nach und nach ins Zentrum der Planspiele der politischen Strategen wie auch der Deuter im Feuilleton.

 

Denn die linken Parteien haben mit 51,5 Prozent die Mehrheit – sie können aus dieser bloß nichts machen, solange SPD und Grüne nicht mit der Linkspartei wollen – und diese nicht mit ihnen will. Dieser Sachverhalt ist der am heftigsten verschwiegene und doch immer präsente in diesen Nachwahltagen. "Es gibt ein Lektüre- und Interpretationsverbot für dieses Ergebnis", formulierte treffend Kritikerpapst Diedrich Diederichsen, "an dem nicht zuletzt die Linkspartei selber entscheidend mitwirkt, indem sie verschweigt, was denn aus ihrem stolzen Hinweis, die hätte Schwarz-Gelb verhindert, folgt: dass auch ihren Wählern Rot-Grün immer noch lieber ist." Und auch Schröder kann sich natürlich nur derart aufgeblasen geben, weil er weiss, dass er in der Not eine Mehrheit hinter sich hätte, auch wenn die, so Diederichsen, eine "heterogene und auffällig marmorierte" ist. Die etwas stammelnde Wählerbotschaft lautete also, dass dieser heterogene Haufen "irgendwie bitte die linke Politik neu erfinden soll".

 

Das läßt sich leicht sagen. Und natürlich ist die "linke Mehrheit" selbst schon wieder Interpretation und deshalb umstritten. "Wir haben in jedem Fall eine Mehrheit links von der Union und FDP. Aber ob das tatsächlich eine linke Mehrheit ist?" fragt sich etwa Gregor Gysi, seit vergangener Woche gemeinsam mit Oskar Lafontaine Co-Fraktionschef der Linkspartei. Für den Kasseler Soziologen Heinz Bude ist das Gespinst von der "linken Mehrheit" eher ein Traum "der Gefühlslinken" (so lautet übrigens die neueste Totschlagvokabel, die drauf und dran ist, das Wort "Gutmensch" abzulösen). Denn was sich unter dem Appellwort der linken Mehrheit zusammenbraut, sei "eine geistige Ablehnung all dessen, wofür Gerhard Schröder das Vertrauen des Wahlvolkes einholen wollte". Man brauche schon sehr viel Realitätsverlust, um den Hartz-IV-Kanzler, die Grünen, die sich neuerdings "moderne Linkspartei" nennen und die Gysi-Lafontaine-Truppe in eine linke Mehrheitsformation umzudeuten.

 

Es gibt unverdächtige Interpreten, die damit paradoxerweise gar kein Problem haben. "Die Bürger wollen einen eher linken Staat", resümiert einer, dem das gewiss gar nicht gefällt – Norbert Walter nämlich, der Chefvolkswirt der Deutschen Bank. Und Richard Hilmer vom Meinungsforschungsinstitut Infratest dimap betont, es existiere sicherlich so etwas wie "eine Gerechtigkeitsmehrheit". Vor allem die Wähler der Linkspartei, so sein Kollege Gero Neugebauer, wünschen sich keine Prinzipienopposition, sie hätten ihrer Partei vielmehr den Auftrag erteilt, "für ein Staats- und Gesellschaftsmodell zu sorgen, das nicht neoliberal ist".

 

Ginge es nach dem linken Justemilieu – wozu man die Anhänger der Linkspartei, die Mehrheit der Grünen-Wähler und eine starke Minderheit in der SPD rechnen darf – so wäre die Lage so sonnenklar wie für den Verleger Klaus Wagenbach: Für den gibt es "eine deutliche, ordentliche linke Mehrheit", und die Frage sei nur, "ob man davon Gebrauch macht und ein paar Stolpersteine aus den Weg räumt". Das müsste doch zu schaffen sein, hofft Wagenbach genauso wie die Heerscharen von Leserbriefschreibern, deren Botschaft die linksalternative Berliner "tageszeitung" auf einer ganzen Seite abdruckte: Es gäbe, formuliert einer, ein "mehrheitliches Votum der Wähler für ein soziales Land" und ein anderer freut sich: Rot-Rot-Grün brächte doch "Leben in die staubige Bude".

 

Aber so einfach ist das nicht und deshalb hob das Blatt vergangene Woche ein Albert-Einstein-Foto auf das Titelblatt und versah es mit der Schlagzeile: "Die Mehrheit ist relativ links".

 

Denn aus einer arithmetischen Parlamentsmehrheit lässt sich, angesichts der Realitäten, natürlich nicht so leicht eine stabile Regierung zimmern, wie das Wagenbach und Freunde glauben. Da ist einmal der Umstand, dass Schröder, eigentlich ein Großkoalitionär, einem solchen Kabinett gar nicht vorstehen würde wollen; da gibt es, vor allem in den weit westlichen Landesverbänden der SPD, die noch voll des antikommunistischen Freiheitspathos der Willy-Brandt-Ära ist, extreme Vorbehalte gegen die zur Linkspartei mutierte PDS. Die wird vor allem dort mit der alten, stalinistischen SED identifiziert, wo man leibhaftige PDS-Leute eher selten zu Gesicht bekommt. Und in der SPD-Führung weiß man natürlich ganz genau, welch einen Sturm im Blätterwald es gäbe, würde eine solche Regierung gebildet. Schlußendlich wäre die Rache der Verlierer – also der CDU und der FDP – wohl fürchterlich. Unwahrscheinlich, dass irgendein extravaganteres Vorhaben einer Rot-Rot-Grünen Regierung – oder einer Rot-Grünen Minderheitsregierung – die zweite Parlamentskammer, den Bundesrat, passieren würde. Der ist schließlich fest in schwarz-gelber Hand.

 

Die höheren Chargen von SPD, Grünen und Linkspartei verlieren sich angesichts solcher Hindernisse vorerst lieber nur in Andeutungen. So schloss Gregor Gysi zuletzt nicht mehr völlig aus, dass seine Partei doch Schröder zum Kanzler wählen könnte, würde der eine Kampfkandidatur gegen Angela Merkel wagen: "Dann werden wir uns zusammensetzen, um die Situation neu zu beraten." Tricky wäre eine solche Lage für die Linkspartei in jedem Fall – würde sie sich enthalten, käme das einem Votum für Merkel gleich. Und auch der schleswig-holsteinische SPD-Innenminister Ralf Stegner meinte zu Wochenbeginn, der linke Block "hat nun eine deutliche Mehrheit, und das sollte man nicht einfach ausblenden". Joschka Fischer schließlich, seit vergangener Woche gewissermaßen einfachstes Parteimitglied der deutschen Grünen, empfiehlt seiner Partei angesichts neuer Verhältnisse "die Öffnung nach beiden Seiten". Da Rot-Grün alleine wohl nie mehr eine Mehrheit haben wird, müsse sowohl eine Koalition mit der Linkspartei möglich sein wie Gesprächsfähigkeit hin zur Christdemokratie.

 

Diesmal wird es damit wohl noch nichts, auch wenn Linkspartei-Chef Lothar Bisky jetzt schon einräumt, "wir haben nicht gesagt, auf ewig wird es keine Gespräche mit uns geben". Doch so oder so stehen die drei Parteien jenseits der Union vor einer spannenden Strategiedebatte, in der es bei allem gegenseitigen Ressentiment darum gehen wird müssen, durchzudiskutieren, worin denn moderne linke Politik exakt bestehen könnte.

 

Solange eine solche Klärung ausbleibt, gilt das Setting: Die Linke hat die Mehrheit – und die Union stellt die Kanzlerin. Und das ist, nunja, etwas unlogisch.

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