Ziemlich amtswegig

Vor vier Jahren wurde der Entschädigungsfonds für Nazi-Opfer eingerichtet. Geld werden die Überlebenden aber nicht so bald sehen. Innenansichten eines Skandals, an dem niemand schuld ist. Standard, Februar 2005

 

 

Herr A. beugt sich über einen Packen Papier. Der Stapel, den er auf seinen Tisch ausgebreitet hat, ist in den vergangenen Jahren auf gut vierzig, fünfzig Zentimeter angeschwollen. Überhaupt hat die Geschichte, um die es hier geht, viel mit Papier zu tun. Mit dem Versuch, so etwas wie Gerechtigkeit mittels eines gründlichen, rechtsstaatlichen – also eines komplizierten – Verfahrens herzustellen. Die Papiere, die Herr A. aus seinem Stapel fischt, handeln von so unschönen Dingen wie Reichsfluchtsteuer, Entjudung, Verzeichnissen der Vermögensverkehrstelle. Seit Herr A. im Namen seiner Familie seinen Antrag auf Entschädigung geraubten Vermögens eingereicht hat, ist der Papierstapel unablässig weiter gewachsen.

 

Denn Herr A. hat, wie jeder der 18.000 Enteigneten, Vertriebenen oder deren Nachkommen, die seit Ende 2001 ihren Antrag an den "Allgemeinen Entschädigungsfonds" gerichtet haben, viel Post bekommen. Die Anträge werden "eingehend und gewissenhaft geprüft", heißt es da, wie lange die Prozedur dauern würde, "ist derzeit noch nicht abschätzbar, es muss aber mit einer längeren Verfahrensdauer gerechnet werden". Geld werde es erst geben, "sobald die Bearbeitung aller Anträge abgeschlossen ist". Und: "Vielen Dank für Ihre Mühe." Die Opfer, so sie noch leben, sind oft über achtzig Jahre alt. Unterzeichnet sind die Briefe von Hannah Lessing, der Generalsekretärin des "Nationalfonds für Opfer des Nationalsozialismus" und des "Allgemeinen Entschädigungsfonds". Herr A. kennt Frau Lessing nicht. Er ist aber nicht gut auf sie zu sprechen.

 

Hannah Lessing ist eine attraktive Frau, eloquent, lange dunkle Haare, Business-Anzug, schickes Büro. Bücherwand, Sitzecke, Schreibtisch, geschmackvolle Kommoden, obendrauf eine Buddha-Statue. Ihre Großmutter wurde im KZ umgebracht. Von Amts wegen, gewissermaßen, repräsentiert sie nun aber den Versuch einer Täternation, die Opfer für das Unrecht so unvollkommen wie eben nur möglich und viel zu spät zu entschädigen. Als Individuum repräsentiert sie die Opfergeschichte, als Amtsperson das schlechte Gewissen eines Landes, das die Vertriebenen, die Hinterbliebenen der Massakrierten und die schnöde Beraubten jahrzehntelang mies behandelt hat und das sich jetzt nichts mehr vorhalten lassen will – und deshalb irgendwann auf Generös tat. All das heißt: Frau Lessing hat Verständnis, sogar ganz viel Verständnis, dass es auch wachsenden Groll gibt auf Seiten der Antragsteller, weil sich die Sache schon wieder in die Länge zieht. "Die Leute sterben uns weg", sagt sie, und blickt ganz betroffen.

 

Das kommt nicht nur gut an auf der Gegenseite. Was heißt hier: "uns"? Hört man sich um, bei Antragstellern, in den Gängen der jüdischen Gemeinde, dann gibt es viel Kritik. An Details, an Verfahrenskomplikationen, an diesem und jenem. Die Kritik wächst aber immer aus einem emotionalen Humus: Die Opfer wollen nicht Verständnis, sondern ihr Recht. Es gefällt ihnen nicht nur, dass ihnen Österreich jetzt plötzlich solidarisch auf die Schulter klopft, sie umarmt – und sie dann auf eine "längere Verfahrensdauer" vertröstet. "Die ambivalente Haltung gegenüber den Überlebenden, die zwischen Verfahrensgegnerschaft, freundlichem Bedauern, schlechtem Gewissen und schnoddriger Gleichgültigkeit schwankt, trägt nicht unbedingt zur Verbesserung der Situation bei", schreibt Eva Blimlinger, zuletzt Generalsekretärin der Historikerkommission, in ihrem dieser Tage erscheinenden Aufsatz "Fristen, Formulare, Fälligkeiten" (In: Verena Pawlowsky, Harald Wendelin (Hg.): Die Republik und das NS-Erbe).



Mehr als vier Jahre ist es jetzt her, dass die Regierung Schüssel mit dem US-Unterhändler Stuart Eizenstat und Anwälten von Opferverbänden das Washingtoner Abkommen schloß. Es sollte der Schluß- und Höhepunkt aller Entschädigungsmaßnahmen sein, die seit den vierziger Jahren nur unvollständig das Unrecht abgegolten haben. Schon in den Jahren davor hat der Nationalfonds pauschal und ziemlich unbürokratisch pekuniär den guten Willen Österreichs gezeigt. Wer aus Mietwohnungen verjagt oder wer zu Zwangsarbeit verschleppt worden war, erhielt einige tausend Euro. Doch mit dem Washingtoner Abkommen – und dem Entschädigungsfonds, der aus ihm entsprang – sollen die Enteigneten für die tatsächlich geraubten Vermögenswerte entschädigt werden, sofern es bisher noch keine Restitutionen gab. Die Regierung nützte das auch mit etwas Getöse zur Aufmöbelung ihres Renommees.

 

210 Millionen Dollar sollten von Regierung und österreichischen Unternehmen bereitgestellt werden, wenn es dafür die Zusicherung gibt, dass damit alle Ansprüche für alle Zeiten abgegolten sind. An diesem Punkt spießt es sich. Noch sind in den USA Sammelklagen anhängig. Einer davon hat sich auch die jüdische Kultusgemeinde angeschlossen, weil sie das geraubte und zerstörte Vereinsvermögen eigens abgegolten haben, sich nicht aus dem Topf von 210 Millionen Dollar bedienen will. Solange es keine Rechtssicherheit gibt, gibt es kein Geld, ist wiederum der Standpunkt der österreichischen Unternehmen. Das juristische Gezerre ist kompliziert. Doch eines ist auch ziemlich simpel und klar: Wenn es morgen Rechtssicherheit gäbe, sähen die Antragsteller ihr Geld trotzdem noch lange nicht.

 

Man kann es einen Skandal nennen, dass viele der Beraubten tot sein werden, bevor der materielle Schaden abgegolten sein wird. Gewiss, die Ansprüche gehen dann auf die Erben über; aber moralisch ist es gewiss skandalös. Nur: Wer ist daran schuld? Oder kann es einen Skandal geben, ohne dass sich irgendwer skandalös verhält?

 

Zunächst liegt das Problem in der Natur der Sache, wenn man versucht, das gestohlene Vermögen entsprechend seines exakten Wertes zu entschädigen. Dann müssen Besitzverhältnisse geklärt, Vermögensakten ausgehoben, Bankauszüge herbeigeschafft, Versteigerungslisten gesichtet und heutige Werte geschätzt werden. Ein bißchen geht womöglich auch das schlechte Gewissen nach hinten los: Man will sich nicht noch einmal bei Fehlern ertappen lassen. Darum soll alles, aber wirklich alles geprüft werden. Ganz gewissenhaft. Da geht Zeit ins Land. Zeit, die die Überlebenden oft nicht mehr haben. 31 Seiten war allein das Antragsformular dick. Immobilienbesitz, Aktien, liquidierte Betriebe, Bankkonten sollten aufgeführt werden und auch "andere Forderungen für Verluste und Schäden", sogar "Berufs- und ausbildungsbezogene Verluste". Da muss Pi mal Daumen überschlagen werden, was ein junger Mann, der in Wien 1937 maturierte und sich dann, sagen wir, in Shanghai als Laufbursche durchschlug, an Einkommen verloren hat. Schön, dass das berücksichtigt wird; aber wie kann man das "gerecht" berücksichtigen? Muss einer, der es dann in den USA zum Nobelpreisträger brachte, "am Ende gar in den Fonds einzahlen", fragt Eva Blimlinger sarkastisch. Wer sich auf die Suche nach seinem Recht begibt, gerät in ein kafkaeskes Verfahren "von bizarrer Schönheit", ätzt Herr A.

 

Viele Anträge sind zudem unvollständig. Die Mitarbeiter des Entschädigungsfonds heben dann die Details aus. "Es soll nicht so sein: Wer sich nicht erinnern kann, kriegt nichts", sagt Hannah Lessing. 85 Mitarbeiter wuseln heute durch die Gänge des Bürokomplexes in einer kleinen Straße am Wiener Spittelberg, wo der Nationalfonds drei Etagen bezogen hat. Historiker, Juristen und Archivare, die viele hundert Aktenmeter säuberlich in Schränke sortieren. Demnächst wird das Personal auf fast 130 Mitarbeiter aufgestockt. Ihr Geld bekommen sie vom Finanzministerium. Das soll auch so bleiben, versichert Hannah Lessing. Allerdings, so steht es im Gesetz, schließt der Fondszweck ausdrücklich "die notwendigen Personal-, Sach- und Verwaltungskosten des Fonds" ein. Werden am Ende vielleicht doch Heerscharen junger Historiker aus dem Topf von 210 Millionen Dollar bezahlt, wenn das Geld einmal da ist? "Das wäre gegen den Vertrag", sagt Hannah Lessing. Aber man spürt: Es ist nur eine Hoffnung, dass das die Leute im Finanzministerium auch so sehen.

 

Immerhin: 800 Anträge sind heute völlig fertig. Der Bescheid ergeht an die Antragsteller in den nächsten Wochen. Dann wissen sie, worauf sie Anspruch haben. Genauer: Hätten. Denn der Gewissenhaftigkeit, mit der auf den Cent genau berechnet wird, steht der Umstand gegenüber, dass dem Fonds 210 Millionen Dollar zur Verfügung stehen. Bei 18.000 Anträgen bleiben da für jeden nicht einmal 10.000 Euro. Da die Forderungen das Fondsvermögen übersteigen werden, erhält jeder Antragsteller einen "verhältnismäßigen Anteil". Darum wird auch der erste Antragsteller sein Geld erst erhalten, wenn der letzte Bescheid fertig ist. Dann gibt es noch die Möglichkeit, Rechtsmittel einzulegen. Da sind wahrscheinlich viele Antragsteller tot, Erben, denen der Bescheid mitgeteilt werden könnte, im Einzelfall vielleicht nicht aufzufinden. Der Rechtsstaat wird sie suchen. Er ist da exakt. Der Unrechtsstaat war übrigens auch sehr exakt. Hat letzterer versucht, noch den letzten Silberlöffel zu stehlen und zu katalogisieren, bemüht sich ersterer nun, dessen heutigen Wert zu ermitteln und dann einen "verhältnismäßigen Anteil" zurückzuerstatten.

 

Hannah Lessing, um gerecht zu sein, kann für all das nichts. Sie vollzieht nur ein Gesetz. Wann wollen Sie fertig sein, Frau Lessing? Eigentlich will sie darauf keine Antwort geben. 2007? 2008? Irgendwann merkt sie, ich gehe nicht, bevor ich eine Antwort habe. So holt sie tief Luft und sagt: "Das ist eigentlich ein Datum, zu dem wir spätestens unsere Arbeit abgeschlossen haben wollen."

 

Mal sehen.

2 Gedanken zu „Ziemlich amtswegig“

  1. Ja, wirklich…. Wir schreiben heute Februar 2007. Heute kam ein brief über restitution von Kunstwerken. Leider hat meine Familie nie ein wertvolles Kunstwerk besessen. Ich bewahre nur noch drei Silberleuchter, die mene Eltern vor der Abreise kauften, da sie das bischen übrigen Bargeld nicht mitnehmen durften. Ich war dabei, damals 4 Jahre alt, und kann mich daran erinnern. Jetzt bin ich der einzige überlebende von der Familie.
    Ich hatte Gelegenheit Hannah Lessing in Buenos Aires kurz kennen zu lernen. Bewundenrns- und lobenswert dass Sie noch aushält….
    Man wird verlritet ihr die Schuld in die Schuhe zu schieben, aber wenn man nur ein Bisschen nachforscht, merkt man wie ungerecht dass ist.
    Ich bin heute 73 und warte noch immer.Habe meine arbeit verloren und glaube schwer nochmals eine zu kriegen. Warten…wie lange noch???
    Robert Hübscher
    Buenos Aires, Argentinien
    „Späte Gerechtigkeit ist keine Gerechtigkeit“

  2. nun ist November 2008 und das Verfahren ist immer noch nicht abgeschlossen. Ich war mehrjährige Mitarbeiterin beim Allgemeinen Entschädigungsfonds und bin gegangen weil ich den teilweise sehr rüden Umgang mit AntragstellerInnen, die Eitelkeiten und eine gewisse Hinauszögerungstaktik nicht mehr aushielt (es ist so, dass juristische ReferentInnen zwar in einem gewissen Rahmen arbeiten, jedoch über viele Dinge persönlich entscheiden können) und das viele „frische“ Jus-AbsolventInnen zelebrieren. Ich bin der Meinung dass die Entscheidung für Entschädigungen 60 Jahre zu spät erfolgt ist und gerade deshalb das Menschenmöglichste getan werden muss, um zumindest diese symbolische Zahlung noch an die betroffenen Opfer auszuzahlen. Zu Hannah Lessing: sie hat eine reine Repräsentationsfunktion, die sie auch toll umsetzt, jedoch habe ich sie als ehemalige Mitarbeiterin in mehreren Jahren nur 3x persönlich gesehen, obwohl sie im selben Gebäude war. Sie hat kein einziges Mal gefragt wie es uns geht, oder ob es Verbesserungsvorschläge gibt, Anliegen des Einzelnen sind in den oberenen Hierarchien ohne Belang, geschweige denn von Interesse und es hätte viele kleine veränderbare Dinge gegeben, die das Verfahren beschleunigt hätten.

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