„Chronische Prekarität“

Der französische Sozialwissenschaftler Robert Castel über die Nostalgie nach den 70er Jahren, die Armen, die heute „unnütze Menschen“ sind und das Ziel der Vollbeschäftigung.

 

Robert Castel ist einer der führenden französischen Sozialwissenschaftler. Castel, 73, ist Forschungsdirektor an der Pariser Ecole des Hautes Études en Sience Soziales und beschäftigt sich seit Jahrzehnten mit den neuen Erscheinungen sozialen Ausschlusses. Prekarität ist heute fast ein Modewort geworden – Castel weist seit mehr als zehn Jahren auf diesen gesellschaftlichen Trend hin. Berühmt ist seine große Studie „Die Metamorphose der sozialen Frage“ (UVK-Verlag, Konstanz, 2000). Vergangenes Jahr erschien sein Buch „Die Stärkung des Sozialen“.

 

Das Unbehagen am Kapitalismus zieht Kreise – etwa das Unbehangen über die Unsicherheit, die sich überall einnistet. Ist das nicht ein wenig übertrieben?

 

Castel: Es gibt das verallgemeinerte Gefühl der Unsicherheit. Paradox, denn in Ländern wie Frankreich oder Österreich sind die sozialen Sicherheitsnetze doch noch recht eng geknüpft. Nur: Man spürt, wie dieser Schutz bedroht ist. Das wirkt sich auch auf unser Zeitgefühl aus: Das Morgen kann schlechter sein als das Heute. Bis vor dreißig Jahren waren sich die meisten Menschen doch recht sicher, dass das Morgen besser wird als das Heute ist. Man glaubte an den gesellschaftlichen Fortschritt. Dieser Glaube ist verflogen.

 

Aus dieser Perspektive erscheinen die siebziger Jahre plötzlich wie ein goldenes Zeitalter – Höhepunkt der Vollbeschäftigungsphase. War das der Moment, in dem die soziale Frage und auch die Gerechtigkeitsfrage gelöst waren?

 

Castel: In Frankreich nennt man die Jahre von 1945 bis 1975 schon die „glorreichen Dreißig“. Sie waren natürlich gar nicht so glorreich. Ungleichheiten und Ungerechtigkeiten haben natürlich auch damals bestanden. Aber es gab einen beachtlichen ökonomischen und auch gesellschaftlichen Fortschritt. Vergleichen Sie doch nur die Lage eines Proletariers aus dem 19. Jahrhundert mit einem kleinen Arbeiter in den 70er Jahren! Letzterer konnte sich sicher sein, dass er seine Zukunft meistern wird. Er konnte sogar planen, seine Kinder auf die Universität zu schicken. Er konnte damit rechnen, in zehn Jahren noch besser dazustehen. Kurzum: Er konnte sich sicher fühlen – und das bedeutet, er konnte seine eigenen Strategien entwickeln. Sicherheit gab ihm soziale Unabhängigkeit, also Freiheit.

 

Was waren die Gründe für diesen Fortschritt? Dass Unternehmer und Arbeitnehmer im Grunde an einem Strang zogen?

 

Castel: Ich würde eher von einem Kompromiss sprechen. Die systemische Macht der Unternehmerseite blieb unangetastet, aber im Gegenzug erhielten die Arbeitnehmer soziale Garantien. Und es war mehr als ein Kompromiss: Es gab Synergien, die beiden Seiten nutzten. Die Massenproduktion des Industriezeitalters brauchte Massenkonsumtion und damit Kaufkraft. Mitte der siebziger Jahre wird der Kapitalismus dann kompetitiver, was mit dem technologischen Wandel zu tun hat.

 

War das nicht auch Resultat der Erfolge der sozialen Sicherheit – sie machte Individualismus erst möglich, dieser verträgt sich aber wiederum schwer mit Systemen kollektiver Absicherung?

 

Castel: Ja, die Absicherung beförderte den Individualismus – aber sie hat ihn nicht kreiiert. Die Werte des Individualismus haben auch die Kritik an dem formalen, bürokratischen Charakter der Sicherheitssysteme hervorgebracht. Und diese Kritik ist ja nicht falsch.

 

Womöglich ist der Sozialstaat aber eine historische Phase, die einfach vorbeigeht. Er ist ja auch nur im nationalen Rahmen verwirklicht. Kann er in der Globalisierung überdauern?

 

Castel: Es wird schwieriger. Wenn wir von einer Gesellschaft der Individuen sprechen, dann ist es zweifellos schwieriger, Sicherheiten zu garantieren. Aber ich glaube, es ist ebenso notwendig. Mehr Individualismus bedeutet ja nicht, dass die Individuen weniger Schutz brauchen – eher im Gegenteil.

 

Was wir heute erleben, ist das Entstehen neuer Segmente der Unsicherheit – Stichwort neue Armut, Prekarität. Kehrt das alte Elend wieder zurück?

 

Castel: Die Armut ist ein Phänomen der gesamten menschlichen Geschichte. Aber in den früheren Phasen der industriellen Gesellschaft handelte es sich weitgehend um integrierte Armut. Wenn man heute von der neuen Armut spricht, fällt schnell das Wort von den Exkludierten. Leute, die durch chronische Arbeitslosigkeit abgedrängt werden, die in keiner Weise mehr integriert sind. Leute, die das Gefühl haben, dass sich um sie keiner mehr kümmert, dass sie keine Zukunft mehr haben.

 

Früher war das anders?

 

Castel: Sie befinden sich tatsächlich in einer Situation, die total anders ist als die des Proletariats vor 150 Jahren. Die Arbeiter waren vielleicht ausgebeutet und unterdrückt, aber sie waren es, die die Fabriken am Laufen hielten. Das System brauchte sie. Deshalb konnten sie Forderungen stellen und diese wurden auch erfüllt. Heute repräsentieren die Exkludierten überhaupt keine gesellschaftliche Dynamik. Sie sind für das System unnütz.

 

Sie können, wie etwa die Jugendlichen in den Banlieus vergangenes Jahr, nur mehr blind um sich schlagen?

 

Castel: Das sind dann die Reaktionen aus der Verzweiflung heraus. Gewalt, auch Gewalt gegen sich selbst, Drogenkriminalität, das sind die Folgen dieser Phänomene. Gewalt und Gewalt gegen den eigenen Körper sind Revolten derer, die nichts haben, nicht einmal die Hoffnung, dass sich ihre Situation verändern könnte.

 

Das sind die Extremzonen – doch die Sphäre der Prekarität reicht doch sehr viel weiter.

 

Castel: Man muss zunächst daran erinnern, dass in einem Land wie Frankreich seit mehr als zwanzig Jahren etwa 10 Prozent der Bevölkerung arbeitslos sind. Das heißt, dieser neue Kapitalismus ist nicht fähig, Vollbeschäftigung herzustellten. So entstehen auch Formen der Unterbeschäftigung – Teilarbeit, befristete Arbeit, die Generation Praktikum, Working Poor.

 

Muss man die Schwarzarbeit da nicht hinzu zählen?

 

Castel: Ja, dieser gesamte Bereich der persönlichen Dienstleistungen – wenn man genau hinsieht, sind das meist Jobs mit ein paar Stunden in der Woche unter sehr ungesicherten Bedingungen. Wir beginnen das erst zu verstehen: Prekarität ist weder etwas Marginales noch etwas Temporäres. Es ist ein stabiles, chronisches, objektives Phänomen. Es gibt eine wachsende Zahl von Menschen in Situationen, wo Arbeit und Nicht-Arbeit sich abwechseln. Der Status des Beschäftigten selbst wird fragil.

 

Müssen wir uns also überlegen, wie wir Leute durchbringen können, die niemals in stabile Beschäftigung kommen werden?

 

Castel: Ich teile diese Haltung nicht. Man drängt die Arbeitslosen zur Arbeit, man bezeichnet sie als faul, man spricht sie schuldig. Das heißt auch: Arbeit wird als gesellschaftlicher Wert gesehen, fast mehr denn je. Ich finde die Diskurse über das Ende der Arbeit blödsinnig. Die Arbeit verliert nicht an Bedeutung. Das ist gerade das Problem: Keine Arbeit zu haben ist etwas extrem Bedeutendes – im negativen Sinn. Es ist geradezu absurd: Es gibt Arbeitslosigkeit. Und es gibt eine Art Erpressung zur Arbeit. Es gibt keine Infragestellung der Arbeit, aber eine Infragestellung der Kategorie „Anstellung“.

 

Vollbeschäftigung kann also das Ziel bleiben?

 

Castel: Ja. Wenn man ehrlich ist: Vollbeschäftigung, aber ohne flächendeckende Anstellungsverhältnisse. Vollbeschäftigung wird dann vielleicht nicht mehr voll abgesicherte Beschäftigung für alle heißen, aber das Ziel einer allgemeinen Integration in eine aktive Gesellschaft dürfen wir nicht aufgeben.

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