Heldenzeit

Die Wende – irgendwie vorbei, aber eine Vergangenheit, die nicht vergehen will. Aus Anlass der Nationalratswahlen vom kommenden Sonntag der Rückblick auf fünf Jahre Wende, erschienen im Falter, Jänner 2005.

 

Das beste, was Schwarz-Blau in fünf Jahren zustande gebracht hat, waren die Massenproteste zu ihrem Antritt. Doch die starken Gefühle und Affekte sind verebbt. Robert Misik, damals als Demoorganisator mittendrin, fragt nun: Haben wir übertrieben?

 

 

Ist das wirklich schon wieder so lange her? Und andererseits: Ist das wirklich erst fünf Jahre her, dass, nach einem ekelhaften "Stop-der-Überfremdung"-Wahlkampf und nach traurig-grotesken Sondierungsritualen Jörg Haider und Wolfgang Schüssel von einem blumengeschmückten Parlamentstisch aus verkündeten, sie würden ab nun Österreich "neu regieren"? Dieser Geruch von Zeitenwende, der damals in der Luft lag – er ist verflogen. Die Schockstarre; dann der Knalleffekt, als  die portugiesische Ratspräsidentschaft verkündete, die anderen EU-Staaten würden die Beziehungen zur österreichischen Regierung auf technisches Niveau senken; die ersten spontanen Demos; die erste größere Demo am 2. Februar, von der ÖVP-Zentrale zum Ballhausplatz; die hektische Betriebsamkeit; der unterirdische Gang des Kabinetts zur Angelobung, während oberirdisch Eier, Farbbeutel, Steine flogen; die täglichen, abendlichen Umzüge, die bald "Wandertage" hießen; das Pathos, gebrochen durch eine Prise Ironie; dieser tägliche Kick; und auch die Nerven, die es selbstverständlich kostet, mit einigen hundert eigensinnigen Leuten aus dem Stand eine vielstimmige Bewegung zu bilden, die dennoch ein Minimum an Organisation braucht: auch Demos müssen beschlossen, angekündigt, vorbereitet, Bühnen aufgebaut, Rednerlisten erstellt werden – das geht nie ohne lächerlichen Zwist, prinzipielle Debatten und nächtliche Adrenalinschübe. Und dann: Der 19. Februar. Heldenplatz. Die größte Demo in der Geschichte dieser Republik.

 

Heute ist man von seinen damaligen Affekten und Gefühlen Lichtjahre entfernt. Das muss nicht heißen, dass sie falsch waren, aber doch, dass einem der Zugang zu ihnen ein wenig abhanden gekommen ist. Man weiß heute, was man damals nicht wissen konnte: dass das FPÖ wie eine Seifenblase platzte, fast als Lachnummer endete. Mit dem Klamauk-Führer vom Wörthersee, der sich dauernd selbst ins Bein schießt; der vergessenen Buberlpartie, die, Mädl inklusive, ihren Vaterkonflikt öffentlich austrug; dem jüngst abgetretenen Sozialminister, der so herzergreifend heulen kann; und der neuesten Obfrau der einstmals aggressiven Populistenpartei, die bei "Vera" gemeinsam mit ihrem Bruder zum Besten gibt, wie sie den Jüngeren einst nächtens als Gespenst erschreckte. Huhu! Und über all dem thront dieser petit grand homme, der schmallippige Kanzler, der stramm rechts regiert, aber gerade deshalb so normal wirkt, weil er von derart ulkigen Gestalten umgeben ist.

 

Haben wir also übertrieben, als wir uns zum "Widerstand" aufschwangen gegen eine Regierung, die wir als unerträglich empfanden, als demokratisch legal zustandekommen, aber doch als illegitim? Hatte Schüssel recht?

 

Wir stehen heute hier, weil wir eine Regierung haben, die Unglück und Schande über dieses Land gebracht hat. Aber wir wollen genau sein: Wir stehen hier, weil wir dafür sorgen wollen, dass diese Regierung, die Unglück und Schande über dieses Land gebracht hat, nicht mehr länger die Regierung dieses Landes ist. So begann meine Rede am Heldenplatz am 19. Februar. Stellen Sie sich dem Votum des Volkes. Sie haben das Land gespalten, Sie wollen ihm eine Wende in die Vergangenheit verordnen, Sie haben es in die Totalisolation geführt und Sie sagen nun, es gäbe keinen Grund für Neuwahlen. Ich frage Sie: Wenn die Krise, die Sie verursacht haben, kein Grund für Neuwahlen ist, was um alles in der Welt ist denn dann ein Grund für Neuwahlen in einem demokratischen Land. Und: Wir wollen eine Mehrheit jenseits von schwarz und blau im Parlament, aber wir wollen auch eine neue gesellschaftliche Mehrheit. Wir bekämpfen diese Regierung, weil eine Rassistenpartei an ihr beteiligt ist, aber wir bekämpfen sie auch, weil sie die Ungleichmacherei zu ihrem Programm gemacht hat. Zum Schluss: Diese Regierung ist schwach, niemand will sie, die ganze Welt verabscheut sie. Herr Schüssel, Herr Haider, hören Sie gut zu: Sie werden sich warm anziehen müssen. Es wird viel Wind geben. Er wird Sie aus dem Kanzleramt blasen, so schnell können Sie gar nicht schauen.

 

Die Forderung nach Neuwahlen wurde, nun ja, erst zeitverzögert erfüllt. Und nicht weil’s viel Wind gab, sondern, ironische Pointe: zuviel Wasser, damals im Flutsommer 2002, als sich Hochwasserhilfe und Steuerreformdebatte zur Regierungskrise vermantschten. Und, ursächlich natürlich, weil sich der Jörg mit Susi, Peter und Karl-Heinz zerstritt. Nachdem die Wahllokale geschlossen hatten, hatte Schüssel auch das Votum des Volkes. Daran zumindest sind wir Protestierenden der Wendetage aber unschuldig. Wenn das auf jemandes Konto geht, dann schon eher auf das von Alfred Gusenbauer. Nur ist das schon wieder eine andere Geschichte. 

 

In gewissem Sinne war das Projekt der Protestszenerie, an deren Kraft, Witz und Breite man sich übrigens schon auch einen Moment erinnern sollte, dem Konzept Schüssels in einem Punkt verwandt: auch wir wollten das hergebrachte politische Setting aufbrechen; die Lähmung der alten Großen Koalition überwinden. Er versuchte es, indem er aus dem Korsett der Großen Koalition ausbrach, eine politische Matrix auflöste, deren Kontext Haider und seine aggressive Populistentruppe groß machte; wir, indem wir dem politischen Prozess neue Energien von außen zuführten, versuchten, auch Roten und Grünen Beine zu machen.

 

Niemand hielt die Wahrscheinlichkeit für allzu groß, dass wir die Regierung zu einem vorzeitigen Ende zwingen könnten; wir dachten allenfalls an eine zehnprozentige Chance, dass internationale Ächtung und Druck von der Straße die Regierung so nervös machen, dass sie einen Fehler begeht, über den sie stolpert. Und natürlich muss man sich, wenn man diese kleine Möglichkeit wahren will, so verhalten, als wäre sie eine große Möglichkeit. Das ist das Dilemma derjenigen, die zu Aktivisten werden: Man kann sich nicht gegen etwas stemmen, ohne Siegeswillen zu demonstrieren. Es ist nicht das einzige Dilemma. Protest auf Dauer zu stellen, erfordert Institutionalisierung. Der, der sich einmischt, droht dann zum Berufsaktivisten zu werden und was als loses Netzwerk beginnt, wird zur kleinen Basisbürokratie mit allen dazu gehörigen Eigeninteressen. Wir sind diesen Weg absichtlich nicht gegangen. Auch darum verebbte die Protestwelle nach einiger Zeit, und nicht, weil sich herausstellte, dass das schwarz-blaue Kabinett gar nicht so schlimm ist.

 

Trotzdem sprießen heute die Legendenbildungen über Schüssels raffinierten Coup und seine tolle Strategie. Vielleicht, wahrscheinlich sogar, hatte Schüssel persönlich wenig andere Alternativen. Nur heißt das noch lange nicht, dass das Land keine andere Alternative hatte. Doch heute wird fast insinuiert, er habe im Grunde das gleiche im Sinn gehabt wie die 300.000 vom Heldenplatz: Haider zu schlagen und damit die Liberalität dieser Republik zu retten. In seiner reinsten Form hat das Rudolf Burger vor zwei Jahren so formuliert: Schüssels Politik "war ein Segen für das Land", er habe "das einzig richtige in der Situation" getan und sein Tun habe "äußerst erfreuliche Konsequenzen gebracht", nämlich "nicht nur das Stoppen, sondern tatsächlich das Zerbröseln der Haiderschen Bewegung".

 

Klar: In Wirklichkeit ist er ein ganz ein Lieber, der Schüssel. Lässt sich mit den Scharfmachern ein, um sie schwach zu machen. Geopfert hat er sich geradezu für uns! Wahrscheinlich hat er, um die Liberalität zu retten, auch Böhmdorfer, Stadler und Prinzhorn hochgehievt, alles, von Sozialversicherung bis ORF umgefärbt; darum macht er auf Heimat-Idylle und Fünfzigerjahre-Revival, spielt er "Weniger-Demokratie-Wagen", etwa mit der Hochschülerschaft und darum auch werden all die "Deutschland-Erwache"-Fans mit ihren zersäbelten Visagen zu Uni- und Aufsichtsräten. Demnächst erhält bestimmt auch noch Herr Strache ein hohes Amt, damit er weniger Zeit zum Aufhetzen und Fechten hat. Oh, raffiniert und verschlungen sind die Wege der Aufklärung. Wahrscheinlich verfolgen auch die Kommentare von Herrn Mück, den Schüssel uns vorgesetzt hat, in Wahrheit nur zwei Ziele: den Leuten beizubringen, dass man nicht alles glauben darf, was man im Fernsehen sieht; und zu demonstrieren, dass die Schwarzen ohne jeden Dünkel sind – bei uns kann jeder alles werden, sogar Chefredakteur, man braucht dazu gar keine besonderen Qualifikationen! Auch Andreas Khol redet nur deswegen dauernd von Gott, weil er insgeheim hofft, dann würde auch der letzte zum Freidenker. Und den Künstlern haben sie die Staatsknete gestrichen, damit die nicht erlahmen, dass die endlich wieder richtig radikal werden. Klar, schließlich, dass an der Spitze jeder, auch noch der unwichtigsten Institution deshalb immer ein ÖVPler sitzen muss, damit er von dort oben darüber wachen kann, dass der Liberalität nirgendwo Schaden zugefügt wird. Wer wird da gleich von "Säuberung" reden? Doch nur ein linksradikaler Internetfreak wie der Herbert Krejci.

 

Es ist schon ziemlich grotesk, Schüssel als den Fels zu feiern, an dem die rechte Woge sich brach. Gewiss, wir können heute noch immer in lässigen Cafés rumhängen und in coolen Klubs abtanzen und denken nicht dauernd daran, dass wir von einer ziemlich rechten Regierung regiert werden. Wer kein Unfall- oder Frührentner, kein ORF-Redakteur, kein Asylbewerber, kein roter Sektionschef, kein Universitätslektor oder -Assistent, kein Zivildiener und kein Student aus armen Haus ist, der lebt nicht viel schlechter als vor fünf Jahren. Das heißt aber nicht, dass nichts Schlimmes geschieht. Es ist eher so: Während in den neunziger Jahren der gesellschaftliche Konsens durch Haiders dramatische Akte und rassistische Wahlkämpfe nach rechts verschoben wurde, wird heute im Regierungsalltag cool rechts exekutiert – nur zunehmend deutlich unter der Wahrnehmungsschwelle. Das Gift wird in kleinen Dosen verabreicht. Am Ende gilt sogar schon die Caritas als Dissidentenhaufen, wie etwa für jenen Innenminister, der sich nach seinem Abtritt schnurstracks wieder zum Gutmenschen verwandelte.

 

Und wenn die Liberalität ihren Kopf hochhält, dann hat nicht Schüssel die Liberalität gerettet – wenn schon, dann hat die Liberalität die Liberalität gerettet. Das beweist aber nur, dass die moderne Sozialwissenschaft recht hat, wenn sie darauf hinweist, dass in hochdifferenzierten, modernen Gesellschaften relativ egal ist, wer regiert. Eine Zeitlang würde wahrscheinlich nicht einmal auffallen, wenn niemand regiert. Dass Wirtschaft, Rechtssystem, Zivilgesellschaft, Szenen und Subkulturen ein stabiles Eigenleben führen und kraftvoll Alltag und Lebensräume prägen, ist aber kein Verdienst irgendeiner Regierung, sondern Ausdruck der Vitalität dieser Biotope. Hat nicht sogar Belgrad unter Milosevic gebrummt? Und vielleicht hat einiges dieser Vitalität auch mit dem Politisierungsschub durch die Anti-Schwarz-Blau-Bewegung zu tun. Ziemlich sicher sogar.

 

Trotzdem ist es, vor allem auf lange Sicht, natürlich längst nicht egal, wer regiert. Hans Rauscher hat unlängst, in Hinblick auf die jahrelange Vergiftung des politischen Klimas durch Jörg Haider, geschrieben: "Es wird dauern, das wieder halbwegs herauszukriegen." Das gilt natürlich nicht nur für den Haiderismus, sondern auch für den Schüsselismus. Schüssel hat, psychologisch schlau wie er ist, seinen Anteil an der Implosion der FPÖ – aber um den Preis, dass er ihre Haltungen majoritär machte. Das kostete ihm nicht viel Überwindung, weil er von diesen Haltungen nicht so weit entfernt ist. Das Herz des Provinzialismus und des Chauvinismus schlägt vielleicht in der Brust der FPÖ dumpfer als in der der ÖVP, aber es schlägt in der ÖVP ebenso. Haider hat den autoritären Machtpolitiker womöglich immer auch ein bißchen gespielt. Haider ist der Entertainer, Schüssel die Besetzung für das ernste Fach. Und die ÖVP ist die Partei der formierten Gesellschaft.

 

Natürlich zerschlägt man Inseln der Widerborstigkeit heute nicht mit der Eisenfaust. Man reformiert sie langsam weg oder trocknet sie "aus budgetären Gründen" aus, sei es an den Universitäten, sei es in der Kunstszene (eine Umfrage der IG-Kultur unter 150 Gruppen ergab schon im ersten Regierungsjahr: 6 Tote, 144 Verletzte). Überall dort, wo der Staat Einfluss hat, werden die Willfährigen belohnt und die Unbotmäßigen bestraft. Mal da, mal dort. Das fällt im Einzelnen nicht so ins Gewicht. Das wirkt sich auch nicht in drei, vier, fünf Jahren aus. Aber was einmal kaputt gemacht ist, läßt sich so schnell nicht wieder reparieren. Wo’s eng wird, wächst weniger nach. Es wird dauern, das wieder hinzukriegen.

 

Vielleicht ist es keine große Katastrophe, dass wir diese Regierung haben. Es gibt erstaunlich viele Leute, denen das schon reicht. Doch besser wär’s schon, wenn wir sie nicht hätten. Der Widerstand, den sie zu ihrem Antritt provozierte, ist das beste, was sie in fünf Jahren zustande gebracht hat. Zuletzt: Was wäre aus diesem Land eigentlich geworden, wäre eine solche Regierung gebildet worden, ohne dass ihr, von Außen und von der Straße, der Wind scharf ins Gesicht gepfiffen hätte?

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