Stop making capitalism!

Kapitalismuskritik. Das Unbehagen am "System" kommt in der Mitte an. Keiner kann mehr hören, dass es zu Kürzungen und Kündigungen keine Alternative gebe. Ein Sturm im Wasserglas? – Falter, Frühjahr 2005 

Sie hoffe, sagte die Theaterregisseurin Andrea Breth vor einigen Tagen, "die Menschen stehen auf und machen all diesem Getöse ein Ende. Ich hoffe auf eine Revolution. Die wird kommen, und sie wird furchtbar werden".

Der Dramatiker Rolf Hochhut prophezeite etwa zeitgleich einen "Aufruhr" und einen "neuen Che Guevara" in Europa. Schauspieler Sebastian Koch wiederum, der gerade im vielbeachteten TV-Dreiteiler den Hitler-Architekten und Rüstungsmanager Albert Speer gab, vergleicht die heutigen "eiskalten Managertypen in unserer Wirtschaft, wo es nur noch um Effizienz und Zahlen geht", mit der bürokratischen Mordmaschine der Nazis: "Das ist vom Prinzip her, vom System her, ganz ähnlich". Sogar in der betulichen Frankfurter Allgemeinen Zeitung finden sich wüste Anklagen gegen die "globalisierte Herrenschicht", die Manager-Eliten. Und der Romancier Robert Menasse hielt eben ein "Plädoyer für die Gewalt".

 

Unlängst signalisierten die Meinungsforscher der deutschen Sozialdemokratie, dass die breite Masse all das ziemlich ähnlich sieht – dass Kapitalismuskritik wieder zieht. Seitdem Parteichef Franz Müntefering, ansonsten ein eher uninspirierter Kerl, eine Breitseite gegen die "Macht des Kapitals" und die globalen Finanzinvestoren losließ, die wie "Heuschreckenschwärme" über Firmen herfallen, sie abfressen und kahl zurücklassen, hat sich der Mann einen Platz auf den Titelseiten fix erobert – und zwar weit über Deutschland hinaus. Er hat "den richtigen Pol berührt. Die Partei vibriert vor Erregung", weiß der "Spiegel" zu rapportieren. "Müntes" Kollege Sigmar Gabriel, der vor ein paar Jahren noch auf die "Neue Mitte" setzte, schlägt ähnliche Töne an: "Unternehmen mögen ‚überflüssige‘ Mitarbeiter haben, aber die Gesellschaft hat keine überflüssigen Menschen." Aus der sozialen Marktwirtschaft drohe eine "McKinsey-Gesellschaft" zu werden.

 

Jetzt begreift es auch der Letzte: Fast Lichtjahre trennen uns von den seltsamen neunziger Jahren mit ihrer schrägen Partystimmung. Damals schwadronierten auch ernstzunehmende Wirtschaftswissenschaftler von der "krisenfreien Ökonomie", die "New Economy" war in aller Munde, die Aktienkurse schossen hoch und die Älteren trugen ihre Ersparnisse im Vertrauen auf einen ewig prosperierenden Volkskapitalismus auf die Börse. Die Jungen, schnell auf den Namen "Generation Golf" getauft, wurden im Glauben groß, ihnen winke das schnelle Geld. Am "neuen Markt" erzielten Twentysomethings in ein paar Monaten mehr Einkommen als ihre Väter in einem ganzen Leben.

 

Heute sind davon noch ein paar abgestürzte Aktien übrig – und viel Katerstimmung.

 

Die Zahl der Arbeitslosen steigt unaufhaltsam. Ist das bloß eine Folge der Globalisierung – und damit eine Art höhere Gerechtigkeit -, weil die Arbeitsplätze und der Wohlstand in den näheren und ferneren Osten, nach Polen, Tschechien, China auswandern? Das spielt eine Rolle, aber mit der Globalisierung verbreitet sich der Kapitalismus nicht nur, er verändert sich damit. Optionen- und Risikogesellschaft heißt eben auch: Optionen für die einen, Risiken für die anderen. Die Unternehmenssteuern sinken. Die Global Player machen große Gewinne und verfügen massiven Stellenabbau – oft am gleichen Tage, wie unlängst die Deutsche Bank. Ihre Geschäfte verschachteln sie so geschickt, dass Steuern kaum mehr anfallen. All das, um fit zu bleiben für den Konkurrenzkapitalismus.

 

Mit Verweis auf den "Sachzwang Weltmarkt" ist nahezu alles legitimierbar. Vor vierzig Jahren betrug der Anteil der Gewinnsteuern am steuerlichen Gesamtaufkommen mehr als ein Drittel; derzeit sind es kaum noch 15 Prozent. Die Lohnquote liegt fast überall im kontinentalen Westeuropa so niedrig wie nie seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs. Bis Ende der siebziger Jahre sind die westeuropäischen Gesellschaften tendenziell "gleicher" geworden. Die Armutsquote sank kontinuierlich. Bis sich der Trend Anfang der achtziger Jahre wieder umkehrte. Die Zahl derjenigen, die weniger als die Hälfte des Durchschnittseinkommens verdienen, steigt seither kontinuierlich. Das ist also nicht nur Linksagitation, sondern messbar: Die Schere geht auf, die Reichen werden reicher, die Armen ärmer. Dass zu den Reicheren nicht mehr nur Kouponschneider im Nadelstreif gehören, ändert daran nichts, macht die Chose höchstens vertrackter.

 

Heute ist das so: "Wer noch Arbeit hat, verdient oft weniger Geld als noch vor einigen Jahren" (Der Spiegel). Wer neu ins Berufsleben einsteigt, tut das oft mit der Aussicht, sich jahrelang von unbezahltem Praktikum zu unbezahltem Praktikum zu hangeln. Ein, zwei akademische Titel ändern daran nur selten etwas.

 

Auch die "weichen" Klassenschranken werden immer höher, die vielen unüberwindlichen Lifestyle-Gräben zwischen Unten und Oben. Längst sind die alten Analysen von der "nivellierenden Mittelstandsgesellschaft" vergessen. Von Nivellierung ist keine Rede mehr, wie selbstverständlich ist heute wieder von "Unterschichtenfernsehen" und ähnlichem die Rede, von jenen Programmen also, die von Leuten geguckt werden, die in Unterschichtenviertel leben, Unterschichtenjogginganzüge tragen und mit Unterschichtenhunden Gassi gehen.

 

Chancen auf ein bißchen Geld haben nur die schrillsten Typen dieser Unterklasse, diejenigen, die sich zum Gaudium aller in Container sperren und abfilmen lassen.

 

Der Rest betäubt sich mit den neuesten Produkten der Infotainment-Technologie, die ohne den rastlosen Profitdrang des Kapitals – und dem Druck zu immer schnellerer Innovation – nicht existieren würde und die ohne dem stetigen Drang der Investoren, Kosten zu senken, nicht erschwinglich wären. Die schöne Welt des globalisierten Kapitalismus ist voll von Paradoxien dieser Art. Ein Arbeitnehmer kann unter der Konkurrenz aus Billiglohnländern leiden, ohne auf Spargel verzichten zu wollen, dessen Preisniveau nur dank polnischer Saison-Kräfte zu halten ist. Und wer in Rentenfonds einzahlt – die berühmte dritte Säule der Vorsorge – der will selbstverständlich, dass die Renditeversprechen aufgehen. Wenn der Fonds dann in seine Firma investiert und ihn zum Besten seiner eigenen Gewinnaussichten wegrationalisiert, dann empört der Anleger sich – in seiner Rolle als Arbeitnehmer – über die "brutale Kälte" der neuen Unternehmensphilosophie. Sie setzen ihr Geld und wundern sich über den Kasino-Kapitalismus. Und je mehr ihr Geld setzen, umso größer wird die Menge an frei flottierendem geldheckenden Geld, umso wahrscheinlicher wird dann auch, dass die Entwicklungen in der "Realwirtschaft" zu "einem Nebenprodukt der Aktivitäten eines Kasinos" werden, wie das der legendäre Ökonom John Maynard Kenynes schon vor sechzig Jahren formulierte.

 

Das ist das Vertrackte am grassierenden Unbehagen am Kapitalismus: Der Empörte ist immer schon Teil des Verhältnisses, über das er sich empört. Das macht die Kritik nicht falsch. Aber die Suche nach Auswegen ziemlich schwierig. Auch darüber gibt es ein waches Sensorium. Rund 70 Prozent der Deutschen glauben einer Umfrage zufolge, dass es Franz Müntefering mit seiner Kapitalismuskritik nicht ernst meint. Ziemlich ebenso viele meinen, er hat mit dieser Kritik recht.  

 

Dabei ist es wahrscheinlich gar nicht so sehr der ökonomische Druck, der den Boden für die neueste Kapitalismuskritik so fruchtbar macht. Schließlich kommen die Allermeisten mit den eingetrübten Aussichten und dem leicht verdunkelten Wirtschaftsklima noch ganz gut zurecht. Wer glaubt, mit dem "Jobkiller Globalisierung" (profil) ließe sich die miese Stimmung hinreichend erklären, springt viel zu kurz. Schließlich ist auch rosaroten Wahlkämpfern der Applaus dann am sichersten, wenn sie vor der "Ökonomisierung aller Lebensbereiche" warnen. Das ist es, was mit dem Wort von der Marktwirtschaft, die nicht zur Marktgesellschaft werden dürfe, gemeint ist. Alles wird als Ware behandelt. Menschen können so überflüssig werden wie verdorbene Waren oder, fast schlimmer noch, Güter, die aus der Mode kommen. Information und Literatur wird Werbeumfeld, Kunst zum Standortfaktor. Alles schmeckt nach Werbung, konsumiert werden Marken und der Lifestyle, den sie repräsentieren. Die Marken besetzen den öffentlichen Raum.

 

Die Menschen werden zur "Umwelt" ihres eigenen Systems degradiert. "Was immer heute jemand studieren mag, es ist stets bloße eine Abart von BWL", wie das Robert Kurz in seinem "Schwarzbuch Kapitalismus" formuliert. Und wer’s nicht in Rekordzeit schafft, der hat schon halb ausgespielt. Jeder ist Marketingagent seiner selbst. Auch und gerade die, die damit gut zurecht kommen, die sich geschickt zur "Ware" machen, nämlich zu gut gehenden Produkten am Feld der Aufmerksamkeitsökonomie, stimmen da bisweilen ein in den molltönenden Chor – die Schriftsteller, Denker, Theaterleute, die die düsteren Verwünschungen gegen die verallgemeinernde Warenförmigkeit ausstoßen, die sich durch alles durchfrisst.

 

Mit Revoluzzertum gegen die glitzernde Warenwelt kann man heute gutes Geld machen, und was da, ja, "auf den Markt" drängt, ist nicht immer links, aber doch Teil dieses Panoptikums. Die drollige religiöse Sinnfibel "Schluss mit lustig" des Fernsehpredigers Peter Hahne liegt derzeit auf Platz 1 der Spiegel-Bestsellerliste, nur knapp vor "Die Kunst des stilvollen Verarmens" aus der Feder des traurigen Prinzen Alexander von Schönburg. Die Botschaft ist immer die Gleiche: Sinn kann man nicht kaufen. Und: Man kann glücklich sein, ohne zu konsumieren. Sowie: Wer nicht als Ding behandelt werden will, muss seine Gier nach den Dingen bezähmen. Auch der jüngste Papsthype wurde wohl von dem Wunsch getragen, Sinnressourcen jenseits der Marktzone zu mobilisieren – und kam natürlich selbst nicht ohne die Mittel der Infotainment-Industrie aus. Der Mensch ist der Schöpfer der Warenwelt und wird zum "Knecht seiner Schöpfung" – so hat das Karl Marx schon vor 150 Jahren formuliert.

 

"Stop making capitalism", lautete unlängst das Motto einer Diskussionsreihe kritischer Radikaler in Wien. Ein schöner Titel, weil in ihm anklingt, dass der Kapitalismus nicht das andere, ein fremdes Wesen ist, das gewissermaßen "reinen" Individuen feindlich gegenübertritt, sondern von diesen Individuen selbst täglich aufs Neue gemacht wird. Der Kapitalismus: "Der ist irgendwie hier drin und den krieg ich nicht mehr raus", schreit eine Protagonistin in www-slums, einem der hippen Schnelldramen des Berliner Theatermachers René Pollesch. Und er frisst sich durch alle Poren durch, schließt sich die Räume an, die bisher der Marktzone entzogen waren. Im Äußeren – er ist global geworden. Und im Inneren. "Innere Landnahme" ist deshalb einer jener Begriffe, die derzeit in gesellschaftskritischen Zirkel am häufigsten kursieren.

 

Früher gab es einen öffentlichen Sektor, der dem Gemeinwohl verpflichtet und in dem das ökonomische Privatinteresse sistiert sein sollte. Es gab die Kunst, die Kreativität, das Wissen, denen ein Wert unabhängig von ihrem Preis zugeschrieben wurde. Darüber herrschte Konsens, auch wenn in der Realität diese Bereiche natürlich nie völlig jenseits der Welt von Macht, von Reichtum existierten. Heute sind das alles Ressourcen, die gewinnbringend investiert werden müssen – ansonsten gelten sie als verschwendet. Die Verdinglichung der Kultur geht mit der Kulturalisierung der Dinge Hand in Hand. Der Kapitalismus hat kulturelle Effekte, wird zum Kulturkapitalismus, was aber auch heißt, dass wir in eminenten Sinn in einer "kapitalistischen Kultur" leben.

 

Vormals nicht-ökonomische gesellschaftliche Sektoren werden privatisiert: Die öffentlichen Dienste, soziale Sicherheitssysteme, Wasser, Bildung, Kultur, Gesundheit, die Post, die Bahn, das kommunale Schwimmbad, das Autonome Jugendzentrum – die Liste ließe sich noch lange fortführen. Mit dieser inneren Landnahme ist es wie mit der klassischen Kolononisierung: Die Landnahme "nimmt" nicht nur, sie verändert zugleich.

 

Im Neoliberalismus gilt: "Was sich nicht rechnet, hat sich erledigt, auch wenn es weiter nötig wäre" (so der Wiener Essayist Franz Schandl im lesenswerten Sammelband "Dead Men Working"). Dann geht, ruck, zuck, die Post ab. Das heißt natürlich nicht, dass der Staat nicht noch wenig produktive Bereiche subventioniert; und dass nicht auch Betriebe defizitäre Abteilungen durchtragen. Aber das wird seltener. Was, auch das ist so eine Aporie, der Konsument, der auch ein Steuerzahler ist, goutiert – er erfreut sich sinkender Preise und ist nur dann für die Finanzierung teurer Bürokratien, wenn er selbst dort einen Schreibtisch hat.

 

Sind wir alle Heuschrecken, wie der Stern titelt? In gewissem Sinne ja. Aber all das heißt natürlich nicht, dass aus der neuesten Kapitalismuskritik nichts folgt. Die Subjekte sind nicht bloß Zwangsvernetzte, selbstunterdrückt, selbstdisizipliniert in Richtung Marketing und Profitmaximierung, vollends angeschlossen an die kapitalistische Maschine, ummontiert und hingetrimmt auf den "mentalen Kapitalismus" (Georg Franck). Genügend Leute machen Dinge – "ihr Ding", wie das heute heißt -, weil sie ihnen sinnvoll erscheinen, nicht weil sie exorbitante Gewinne versprechen. Dass alle zappelig mitmachen im Spiel der Totalökonomisierung kann nur behaupten, wer blind durch die Gegend läuft. Das Stadtbild wird mindestens so sehr von den kleinen Nischen der informellen Ökonomie geprägt wie von Shopping-Malls und Glitzertempeln des Konsumismus. Der durchschnittliche metropolitane Twenty- und Thirtysomething ist bestens geübt im halben Verweigern, halben Mittun. Hierzulande wurden, beispielsweise, in den vergangenen Jahren allerlei Zeitungen, aber auch Musiklabels gegründet, die alles mögliche versprechen – aber sicher keinen ökonomischen Profit.

 

Und auch die Politik steht nicht wehrlos dem Tsunami Globalisierung gegenüber. Niemand zwingt Regierungen, Steuern auf Dividenden und Kapitalerträge permanent nach unten zu nivellieren. Niemand hindert sie, sich in Brüssel mit aller Kraft für eine Mindestbesteuerung von Unternehmen einzusetzen. Dass darüber heute kein Konsens zu erzielen ist, heißt nicht, dass das morgen noch so sein muss. Welche Bildungspolitik, welche Arbeitsmarktpolitik, welche Kulturpolitik betrieben wird ist immer noch in der Hand von Ministern, Staatssekretären, Stadträten.

 

Man muss ihnen nur Beine machen. Schon ortet Franz Walter, einer der führenden deutschen Politikwissenschafter, ein neues Subjekt der Veränderung: die "ressourcenstarken Gegeneliten, die nicht zum Zuge gekommen sind" – trendige, gut ausgebildete, bewegliche junge Leute, denen der Glaube an die Segnungen der neuen Ökonomie gründlich ausgetrieben worden ist. Hier wachse, konstatiert die FAZ, ein "Unbehagen an unserer Kultur, an unserer Gesellschaftsform, am ‚System’". Man hat zu oft gehört, dass es zu irgendwelchen Leistungskürzungen, Stellenstreichungen oder Gebührenerhöhungen eben keine Alternative gebe. Die FAZ, dramatisch: Es gibt eine "neue Lust am Aufstand".

 

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