Unsicherheit für alle!

Hunderttausende auf der Straße, Krawalle in Paris Generalstreiksdrohung der Gewerkschaften: Frankreich erlebt den ersten Aufstand gegen die Prekarität. Was ist das Eigentümliche an der „neuen Unsicherheit“, die sich vom Zentrum in die Mitte der Gesellschaft frißt? Falter, März 2006

 

Die 17jährige Johanna hat sich ein rotes „Arbeiterbüchlein“ um den Hals gehängt. Ein solches hatten auch die Tagelöhner in der Frühzeit der Industrialisierung, über die sie im Geschichtsunterricht in ihrem Lycee gelernt hat. „Die wurden morgens angeheuert und abends wieder entlassen“, sagt sie. So marschierte sie, gewissermaßen zum Mahnmal kostümiert, vergangenes Wochenende zur großen Demonstration gegen den CEP, den „Erstanstellungsvertrag“ (Contrat Première Embauche) in Paris durch die Straßen. 500.000 demonstrierten nach Polizeiangaben, eineinhalb Millionen nach Angaben der Veranstalter in 149 französischen Orten gegen das Gesetz, das die arbeitsrechtlichen Schutznormen für junge Beschäftigte unter 26 Jahren kassieren soll und von Premier Dominique de Villepin in einem recht eigenwilligen Verfahren per Dekret durch das Parlament gepaukt wurde. Zwei Drittel aller Universitäten sind bestreikt, die Sorbonne ist von Polizei zerniert, auf die Gymnasien hat die Bewegung längst übergegriffen. Nachts gibt es vereinzelt Randale. Knapp 70 Prozent der Franzosen unterstützen den Protest. Und diese Woche noch, so haben die Gewerkschaften angedroht, könne ein Generalstreik ausgerufen werden. Es riecht nach Revolutionsfete.

 

„Der CPE ist die Legalisierung der totalen Prekarität“, erklärt eine junge Studentin. „Wenn ich keinen sicheren Arbeitsplatz habe, kann ich keine Kinder in die Welt setzen, finde ich keine Wohnung und bekomme ich keinen Kredit.“ Ein minderer Anlass – ein Gesetz, das die Einstiegschancen Minderqualifizierter verbessern sollte, indem es den Unternehmern gestattet, sie leicht auch wieder los zu werden  – wurde zur Initialzündung einer Revolte, die sich gegen einen gesellschaftlichen Trend stellt: gegen die grassierende Unsicherheit, die allgemeine Kreise zieht. Im Grunde: gegen den gesamten neoliberalen Reformjargon und seine praktischen Resultate. Seit dreißig Jahren gibt es wachsende Arbeitslosenzahlen, ein anschwellendes Heer permanent Exkludierter und den immer tieferen Einbruch von Unsicherheitszonen in vormals sichere Bereiche. Die Argumente, mit denen marktliberale Reformen durchgepeitscht werden, sind immer und überall die gleichen: Wenn man den Arbeitsmarkt nicht liberalisiere, werde die Lage noch bedrohlicher; wenn notwendige Reformen verschleppt werden, würde das Wachstum einbrechen, die Jobs immer rarer. Das Problem daran: keiner der  Liberalisierungsschritte, der die Marktmacht der Unternehmen stärkt und die Rechte der Beschäftigten beschneidet, hat das Versprechen einlösen können, dass mehr Flexibilität mehr Jobs brächte. Die Arbeitslosigkeit hat sich in Frankreich bei neun Prozent eingependelt, die Jugendarbeitslosigkeit beträgt 23 Prozent und das Heer der Chancenlosen ist weiter denn je davon entfernt, irgendwann eine Chance zu bekommen. Die Ideologen der Marktliberalisierung ficht das nie und nirgends an: Dass die Reformen keine der prognostizierten Resultate zeitigt, ist dann eben ein Beweis dafür, dass nicht entschieden genug liberalisiert wurde. So frisst sich die Unsicherheit immer weiter in die Mitte der Gesellschaft vor – in Frankreich, aber auch in Deutschland und hierzulande.

 

Womöglich ist die Pariser Revolte der erste bewußte Aufstand gegen die Prekarität. „Précarité“ ist jedenfalls die Catch-Vokabel der Stunde in Paris, Marseille, Lyon. Vor ein paar Jahren noch ein soziologischer Fachbegriff oder eine linke Aktivistenvokabel mit einem leichten Schuss in Jargonhafte, kennt heute jeder Gymnasiast das Wort. Es wird am Schulhof diskutiert und taucht bei Demonstrationen auf Transparenten auf.

 

Dies freilich ist eine zutiefst französische Geschichte und beinahe so etwas wie die Success-Story einer kritischen akademischen Strömung. Denn anders als in unseren Breiten, in denen es kaum ein Meinungsführer wagen wollte, sich gegen den Zeitgeist zu stellen, haben in Frankreich führende Intellektuelle früh das Phänomen der Prekarisierung zu analysieren begonnen.

 

Der Berühmteste war gewiss der längst legendäre Soziologe Pierre Bourdieu, der die letzten zehn Jahre vor seinem frühen Tod 2002 der Arbeit an einer Soziologie der „neuen Unterschichten“ widmete. Das Buch „Das Elend der Welt“, ein knapp tausend Seiten dicker Wälzer, von Bourdieu mit einem Forscherkreis erstellt, wurde ein Bestseller – erstaunlich für ein sperriges Werk, das umfangreiche Gespräche mit Menschen jenseits der Wohlstandslagen versammelt, die auch noch von soziologischen Deutungen unterbrochen sind. Ziel war es, wie Bourdieu 1997 in einer Rede anmerkte, deutlich zu machen, „dass Prekarität heutzutage allgegenwärtig ist“. Die Unsicherheitszonen beschränken sich nicht auf das Heer der zehn, fünfzehn Prozent, die regelmäßig die Erfahrung temporärer oder gar permanenter Arbeitslosigkeit machen, sondern ziehen auch diejenigen in ihren Kreis, die mit befristeten Beschäftigungsverhältnissen und Teilzeitstellen vorlieb nehmen müssen. „Zu den Folgen der Prekarität für die direkt Betroffenen gesellen sich die Auswirkungen auf die von ihr dem Anschein nach Verschonten“. Die Prekarität führt dazu, dass der, der noch eine Stelle hat, diese als Privileg erlebt – als „ein zerbrechliches und bedrohtes Privileg“. Das Bewußtsein grassierender Unsicherheit werde damit zu einer „kollektiven Mentalität“, die Welt- und Zeiterleben einfärbe. Sie habe bei dem, „der sie erleidet, tiefgreifende Auswirkungen. Indem sie die Zukunft überhaupt im Ungewissen läßt“, verwehre sie immer mehr Menschen ein  „Mindestmaß an Hoffnung und Glauben an die Zukunft“. Prekarität, so Bourdieu, führe zu „Destrukturierung des Daseins“.

 

Gewiss, Prekarität ist ein unscharfer Begriff. Er skizziert ein Panoptikum, das aus geringfügiger Beschäftigung, Leiharbeit, abhängiger Selbständigkeit, Telearbeit, Call-Centern, Gelegenheitsarbeiten ebenso besteht wie aus der Erosion arbeitsrechtlicher Schutzbestimmungen, Niedriglohnsektoren ("Working Poor") und das Phänomene zusammenfaßt, die bis in die zugigen Fugen elementaren Elends reichen: Migration, Illegalität, Arbeit ohne Arbeitsbewilligung.

 

Aber Prekarität ist auch nichts, was einfach nur erlitten wird. Sie ist ja nicht bloß Resultat einer bösen neoliberalen Strategie, sondern auch von Befreiungsversuchen. Die fordistische Epoche, mit ihren Normalarbeitsverhältnissen in Büro und Fabrik, mit ihrer scharfen Hierarchisierung und ihren vorherrschenden Leitbiographien gehört der Vergangenheit an. Das ist nicht nur negativ: diese Epoche etablierte schließlich Kontrollmechanismen, gegen die rebelliert wurde. Schon sind drei, vier Generationen aufgewachsen, die das Bestreben haben, sich in ihrem Leben, in ihrem Job zu verwirklichen. Längst ist das über die traditionellen Kreise der "Kreativen" – die engen Zirkel der Künstler- und Intellektuellenexistenzen – hinausgeschwappt. Viele ziehen Unsicherheit dem sicheren Trott vor, Eigensinn und Selbstbestimmung der Aussicht auf lebenslange Subordination in der Firma. Die Prekarität, das A-Typische, ist selbst zu einer typischen Lebens- und Seinsweise geworden, deren spezifisches Gewicht kaum überschätzt werden kann: in den gesellschaftlichen Leitmilieus der "Wissensgesellschaft" ist der Freelancer so häufig wie der Angestellte. Darum gibt es die Prekarität ganz unten – und gleichzeitig auch so etwas wie eine "Luxusprekarität". Man hüpft von Engagement zu Engagement, von Auftrag zu Auftrag.

 

Aber die Luxus-Prekarität hat auch ihren Preis, und deshalb taugt die Vokabel auch so gut, um Bedrohungen, die die Pariser Studenten und Oberschüler empfinden (oder erahnen) mit den Exklusionserfahrungen der Unterklassenjugendlichen aus den Banlieus kurzzuschließen, die auf ihre Art ebenfalls  „Projektemacher“ sind – nur dass deren Projekte eben Gang-Erlebnisse oder Drogenkriminalität sind.

 

Prekarisierung, so der Pariser Soziologe Robert Castel, der weltweit führende Forscher über „Exklusionsprozesse“ ist deshalb „ein zentraler Prozess“ für das Verständnis unserer Gegenwart. Prekarisierung liefere den „Stoff für eine ,neue soziale Frage’“, schreibt Castel in seinem Buch „Die Metamorphosen der sozialen Frage“. Um den Kern der Arbeitslosen – „soziale Nicht-Kräfte“, die aus dem „Stromkreis des produktiven Austauschs ausgeschlossen“ sind – legten sich Schicht um Schicht Zustände von Unterbeschäftigung und Unabgesichertheit und Kohorten, die „sich einrichten in der Prekarität“. Castel: „Die zufällige Erwerbstätigkeit ist ein nebulöses Gebilde mit unklaren Konturen, das sich jedoch allmählich autonomisiert“ – das Leben von Projekt zu Projekt, von Praktikum zu Praktikum (heute ist schon von der „Generation Praktikum“ die Rede), das, auch wenn es zu einer Art alternativen Lifestyle uminterpretiert ist, in der Realität ein „Alternieren zwischen Beschäftigung und Erwerbslosigekeit“ darstellt. „Ein ganzer Teil der Bevölkerung, vor allem junge Leute, erscheint für Aufgaben von kurzer Dauer, für einige Monate oder ein paar Wochen, relativ vermittelbar und noch viel leichter wieder kündbar. Der Ausdruck ,ständiger Zeitarbeiter’ ist kein böses Wortspiel“.

 

Das ist natürlich zunächst ein generationales Problem. Betroffen von dieser neuen Unsicherheit sind vor allem junge Leute unter vierzig. Ihre Lage unterscheidet sich in mehr als einer Hinsicht signifikant von dem 50jährigen, der seinen Job verliert. Der wird in der Regel aus einem intakten Lebensvollzug gerissen und in den Kreis der fürderhin „Unnützen“ gestoßen. Den Jungen fehlen oft die Chancen, einen solchen Lebensvollzug überhaupt zu beginnen. Von Beginn an wissen sie über die neuen Kultur der „massenhaften Verwundbarkeit“ (Castel) gut Bescheid. „Wie soll man“, fragt Castel, „in solchen Verlaufskurven einen Lebensentwurf verankern?“

 

Prekarität ist, so Castel, ein „dauerhaft transitorischer Zustand“. Man driftet ins Leben und kommt aus dem Drift nicht heraus. Die Erosion von arbeitsrechtlichen Schutzbestimmungen ist nicht der Einstieg in die Lohnarbeit, nicht das Ticket für die „sichere Stelle“, im Gegenteil: die, die heute arbeitslos werden, sind in wachsender Zahl diejenigen, die gestern schon einen ungeschützten Arbeitsvertrag hatten, die Jobs mit niederen Status taten. Unsicherheit ist ein Virus, der einen „befällt“, die Individuen unterminiert und demoralisiert.

 

Schon müssen die aufständischen Studenten bösen Spott über sich ergehen lassen. Was sind das für Revolutionäre, die keine ganz andere Welt erkämpfen wollen, sondern den alten Sozialstaat verteidigen, die Arbeitsrechte, die schon für ihre Väter – wenn nicht ihre Großväter – galten? Was sind das für Rebellen, die an Miete, Familiengründung oder gar Rente denken? Das wollen die Erben von der ’68er Revolte sein? Waren die ’68er nicht für ein riskantes Leben aufgestanden, das Raum für Phantasie bietet? So liest’s sich schon in den Feuilletons und auch von grau gewordenen Ex-Rebellen. Aber das Lamento dieser Art begreift nicht die Paradoxien der Individualisierung. Gegen das enge Korsett flächendeckender Sozialverwaltung läßt sich leicht rebellieren, wenn man seine Sicherheiten genießt. Der Sozialstaat und die Sekurität, die er garantierte, war nicht der Feind des Individualismus, sondern sein Komplize: er hat erlaubt, sich auszuprobieren, ohne dass man damit gleich sein Leben verspielt. Die Studenten und Oberschüler in Frankreich haben dafür, ebenso wie jene zwei Drittel der Franzosen, die sie unterstützen, ein waches Sensorium – sie haben das instinktiv begriffen. Sie bringen ein Bedrohungsgefühl und einen Frustrationsstau zum Ausdruck, der wohl auch hierzulande existiert, aber im öffentlichen Diskurs gar nicht auftaucht. Auch die Pariser Regierung hat von diesem Gefühl der „Zukunftslosigkeit“, das die Jungen längst befallen hat, offenbar keine Ahnung gehabt – sonst hätte sie sich nicht so fatal verkalkuliert. Die Franzosen haben – wieder einmal – ein Thema aus dem Halbbewußten der Gesellschaft ins Zentrum der Politik katapultiert. Gäb’s die Franzosen nicht, depechierte die Korrespondentin der Berliner „tageszeitung“ aus dem rebellischen Paris, „müsste man sie einfach erfinden“. 

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