„Unter einem helleren Himmel“

 Peter Sloterdijk über die Verwirrung als Produktivkraft, die verdichtete Welt des „Kapitalinnenraums“, seine prägenden Jahre als Bhagwan-Jünger in Poona und was die Linke und Banken gemeinsam haben.

  

In einer Rede über die 68er haben Sie einmal gesagt: „Man musste mehr Verwirrung wagen, um mehr Demokratie zu bekommen.“ Ist die Verwirrung eine Produktivkraft?

 

Sloterdijk: Sicher. Alle wesentlichen Aufbruchsbewegungen seit mehr als 200 Jahren haben etwas mit produktiver Verwirrung zu tun. Immer, wenn es vorwärts geht, ist zunächst die Semantik trübe. Wir leben heute in interessanten Zeiten, weil sich die historische Semantik der Linken und der Rechten, die uns seit 200 Jahren Orientierungsdienste leistete, in eine gewisse Konfusion auflöst.

 

Wenn die Verwirrung produktiv ist, heißt das dann nicht auch, dass die Systematik unproduktiv ist?

 

Sloterdijk: Nicht  in jeder Hinsicht. Doch Sie haben recht: Wenn die Welt ganz aufräumbar wäre, würde sie sich in ein Museum verwandeln, in dem nach bestimmten Ordnungsprinzipien alles an seinen Platz gestellt wird. Man hätte eine endgültige Beruhigung aller Dinge herbeigeführt und somit das erreicht, was Hegel die Zufriedenheit nannte – eine Art positives Philistertum.

 

Der Theoretiker ist immer auch ein Weltaufräumer. In ihrem letzten Buch haben Sie eine neue Theorie der Globalisierung präsentiert – deren Kennzeichen sei nicht Beschleunigung, sondern Verdichtung. Was hat es mit der Dichte auf sich?

 

Sloterdijk: Da muss ich schon wieder an den Kollegen Hegel erinnern – und  auf dessen Begriff „Weltzustand“ verweisen. Weltzustände haben etwas mit der Wahrnehmung von Epochenbrüchen zu tun. Es gibt zum Beispiel Weltzustände, in denen Helden noch möglich sind und Weltzustände, in denen Helden nicht mehr möglich sind. Wenn der Staat noch nicht existiert, ist der Heros der Mann der Stunde. Ist der Staat eingerichtet, wird der Heros kontraproduktiv. Dann kommt er ins Verbrecheralbum, und der Beamte übernimmt das Kommando.

 

Der Heros als Figur der undichten Zeit, der Beamte als der der dichten?

 

Sloterdijk: Genau. Nehmen wir die Zeit 1492 bis 1900 – von der Entdeckung Amerikas bis zum Abschluss der kolonialen Aufteilung der Welt. Europa produzierte bis 1900 eine Menschenüberproduktion für die Expansion. Bis dahin erlebten die Europäer die Welt als einen undichten Raum. Doch danach ist die Welt besetzt. Man kann nun nur mehr gegeneinander expandieren. Das Zeitalter der Weltkriege ist das erste Monument dieser Verdichtung.

 

Das verändert die Menschen?

 

Sloterdijk: Es stellen sich die Lebensgefühle um. Die heutigen Europäer haben weitgehend begriffen, dass in einer dichten Welt der gesamte expansionistische, heroische, auf Eroberungen ausgerichtete Habitus nicht mehr operativ ist. Dadurch entsteht der vorsichtigere, berechnendere, höflichere, zivilisiertere Menschentypus.

 

Globalisierung ist also Stau?

 

Sloterdijk: Wo immer man hinkommt, man hat einen Vordermann. Der Entdecker ist derjenige, der als Erster ankommt. Seine Epoche endete mit dem Polarfieber, an dem waren übrigens sogar die Österreicher beteiligt – was in der Eroberung von ,Franz-Josephs-Land’ gipfelte.

 

Als die koloniale Expansion an ihr Ende kam, hat man Eisschollen besetzt?

 

Sloterdijk: Das zeigt, wie wichtig es damals war, irgendwo als erster zu sein – und wenn es nur eine Insel voller Gletscher war. Sigmund Freud hat das intuitiv erkannt und seinen Eroberungsdrang nach Innen gerichtet, auf das Es – da wollten die anderen nicht hin. Die letzten weißen Flecken lagen im Inneren des Subjekts: das wahre innere Afrika.

 

Starb der Heros wirklich aus? Ist der zeitgenössische Heros nicht der Unternehmer, der Märkte erobert, der selbst ein Weltschöpfer wird – von „schöpferischer Zerstörung“ sprach Schumpeter?

 

Sloterdijk: Der Liberalismus und der Neoliberalismus versuchen, dem faustischen Syndrom ein Nachleben zu ermöglichen, obwohl seine Spielzeit abgelaufen ist. Während die Welt als Ganzes sich eher umstellt auf den Typus des Kooperateurs, bleibt der Unternehmer weiter auf Eroberung und Expansion orientiert. So werden Ersatzkontinente für Expansion geschaffen. Deshalb der ungeheure Ansturm auf die Kapitalmärkte – sie sind die heutigen Kolonien und Franz-Josephs-Länder. In der Realwirtschaft ist der Raum schon dicht, dort ist das Gesetz der gegenseitigen Behinderung längst voll entfaltet. Nur auf den Kapitalmärkten geht der imperiale, expansive Gestus noch in die Verlängerung

 

Diese Welt nennen sie den „Weltinnenraum des Kapitals“, in dem Erlebnisse im strikten Sinn nicht mehr möglich sind – selbst wenn man reist, kommt man nicht mehr anderswo hin. Sie sprechen auch vom ,Komfortraum’. Paradoxerweise finden viele Menschen den gar nicht so angenehm. Es gibt doch diese Ausbruchssehnsucht, auch die Sehnsucht nach dem Heroischen.

 

Sloterdijk: Die Menschen leben im Kapitalismus unter Bedingungen, die dem Aufenthalt in einem Treibhaus gleich kommen. Umso spontaner regt sich das Postulat,  es müsse noch ein Außen geben. Interessant daran ist, dass man sich dieses Außen doch wieder wie ein anderes Innen ausmalt, wo man unter angenehmen Bedingungen abenteuerliche Erfahrungen machen kann.

 

Erlebnisse müssen konsumierbar bleiben?

 

Sloterdijk: Sie sollen auf das Konto der eigenen Persönlichkeit einbezahlt werden. Diese will sich bereichern, nicht Traumatisierungen sammeln.

 

Man verlässt diesen Weltinnenraum nicht?

 

Jedenfalls nicht freiwillig. Was ich in dem Buch versuche, ist eine Fortsetzung der Analysen. die Walter Benjamin den Passagen des 19. Jahrhunderts gewidmet hat, auf den entwickelten Kapitalismus des 21. Jahrhunderts. Seine entscheidende Intuition war ja, dass der Kapitalismus die Welt in ein Interieur verwandeln will.

 

Zu diesem Weltinnenraum, darauf insistieren sie geradezu, gibt es aber doch einen Weltaußenraum. Das ist ihre Antwort auf Toni Negri und Michael Hardt, die in ihrem Buch „Empire“ von einem kapitalistischen Orbit ohne Zentrum, aber auch ohne Außen ausgehen. Was ist denn das für ein Außen, von dem Sie sprechen?

 

Sloterdijk: Negri hat ein strategisches Interesse daran, auch die Armutswelten und die Nicht-Komfortzonen für das Empire zu reklamieren, weil er dort die Rekruten seiner Multitude findet, also die Leute, die dagegen sind, die Revolutionäre von morgen.

 

…die findet er drinnen aber auch.

 

Sloterdijk: Der Traum vom Zusammenschluß der inneren mit der äußeren Opposition ist die Fortsetzung des Traums von der kommunistischen Sammlung. Das ist ein Gedanke, dem ich  ein in Kürze erscheinendes neues Buch gewidmet habe – unter dem Titel „Zorn und Zeit“. Ich zeige da, wie die klassische Linke als Zornbank funktioniert hat, bei der all diejenigen ihren Zorn deponieren konnten, die wussten, dass ohnmächtige Wut nicht genügt. Es braucht Zornbankhäuser in Gestalt linker Parteien, um die Wut der Benachteiligten politisch operational zu machen. Und  deswegen funktioniert das Prinzip Links heute nicht mehr, weil die Linke sich selber eher als Teil des Wohlfühlsystems verhält, nicht als Agentur für die Sammlung und Verwandlung von Zorn. Als im letzten November in Frankreich die Banlieu-Unruhen ausbrachen, hat sich ja keine der linken Parteien fähig oder auch nur bereit gefunden, mit der Wut dieser jungen Männer etwas zu anzufangen. Niemand wollte etwas mit dieser Revolte des „Abschaums“, wie Frankreichs Innenminister Sarkozy sie nannte, etwas zu tun haben.

 

Was genau ist denn der Grund für diesen Zorn?

 

Sloterdijk: Der Aufenthalt im Weltinnenraum des Kapitals impliziert eine Art Lebensversicherung  für alle. Das Versprechen des Wohlfahrtsstaats lautete: Arbeitslosigkeit bedeutet nicht Armut, sondern schlimmstenfalls das Absinken in ein Kleinbürgertum, unter zwar traurigen, aber nicht elenden Bedingungen. Seit klar ist, dass diese Garantie nicht mehr zu halten ist, wächst die Spannung. Doch fürs erste versinken die inneren Ausgeschlossenen in Depression, für sie gibt es zur Stunde keine Sprache des Zorns, keine historische Perspektive, um von der Depression zum Stolz überzugehen.

 

Ein Reflex auf die Globalisierung ist auch der Partikularismus. Ist die Resistenz des Lokalen die Gegenwahrheit zur Globalisierung?

 

Sloterdijk: Das trifft zumindest für Orte zu, die nicht völlig verwüstet werden, nicht völlig zu Transiträumen, Orten ohne Selbst werden – wie die Flughäfen, Hotels etc. Ich unterscheide zwischen Orten ohne Selbst, den Transitwüsten – und dem Selbst ohne Ort, also den  deterritorialisierten Gruppen, die man gern die Nomaden nennt. Dazwischen liegen die Mittelzonen, wo  Ort und Selbst durch eine gemeinsame Kultivierung verbunden sind. Das kann man in Mittel- und Westeuropa noch sehr eindrucksvoll erleben – angenehme, zivilisierte Gemeinwesen, wo eine Lebenskunst zu Hause ist. Solange diese weltoffene Art des Am-Ort-Seins existiert, ist so etwas wie Bürgerlichkeit im guten Sinn möglich. Übrigens können auch im Bereich des Transitlebens erstaunliche Kultivierungsleistungen entstehen, vor allem in den gehobenen internationalen Hotelketten – wo für Menschen, die zu viel unterwegs sind, ziemlich lebenswerte Luxusoasen eröffnet wurden.

 

Kennen Sie Menschen, die an solchen Orten glücklich sind?

 

Sloterdijk: Nun ja, das Glück ist ist eine flüchtige Größe – Freud suggerierte sogar, es sei für Homo Sapiens von der Evolution nicht vorgesehen. Der Mensch muss schon froh sein, wenn er in gewöhnlichem Unglück residiert, statt im neurotischen Elend.

 

Sie haben einmal anlässlich Ihres Streits mit der Frankfurter Schule angemerkt, es handele bei Ihrer Dissidenz  vor allem um einen Gegensatz der Stimmungen. Während man bei der Kritischen Theorie immer die Bereitschaft mitbringen muss, sich deprimieren zu lassen, sind Sie doch eher ein Denker des Fröhlichen. Wie können Sie da sagen, der Mensch ist für’s Unglück bestimmt?

 

Sloterdijk: Die Kritische Theorie war einmal meine theoretische Heimat. Sie war durch die Erfahrung des Holocaust geprägt, durch die Universal-Entmenschung. Diese lieferte die  generationsprägende Erfahrung der ersten Jahrhunderthälfte. Im übrigen war die Stimmung des französischen Existenzialismus auch nicht viel heller. Die Jahre nach 1968 haben dann einen Test darauf gemacht, wie weit solche Beschreibungen noch taugen – nicht wirklich, wie sich zeigte. Unsere veränderten Erfahrungen mussten sich irgendwann in einen neuen Habitus übersetzen. Deshalb trat die Nach-68er-Linke als hedonistische Linke auf. Man war sich sicher, dass man durch die eigene Libidoentfesselung das Glück der Menschheit herbeiführt.

 

Sie waren Ende der siebziger Jahre Sanjassin, lebten eine zeitlang bei Bhagwan in Poona.

 

Sloterdijk: Das Indienabenteuer war bei mir ein Ausfluss dieser Siebziger-Jahre-Stimmung. Und hinzu kam die Überzeugung, dass ein rein materialistischer Revolutionsbegriff unzureichend ist. Man wollte damals Basis und Überbau  umkehren und den mentalen Faktor ins Zentrum stellen.

 

Es gibt so Metaphern für Prägungen. Manche sagen: ,Einmal Trotzkist, immer Trotzkist’. Kann man auch sagen: ,Einmal Sanjassin, immer Sanjassin?’

 

Sloterdijk: Im Grunde ja. Die Umstimmungserfahrung von damals bleibt irreversibel. Wer sie gemacht hat, wird unempfänglich für Theorien, in denen die Depression immer recht hat. Auch will man den Wettbewerb, wer der Unglücklichste ist, nicht mehr um jeden Preis gewinnen. Man lebt unter einem helleren Himmel. Was mich betrifft: Indien ist völlig den Hintergrund getreten, aber die damals erlebte Umstimmung wirkt immer noch nach.

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