Warum brauchen wir einen neuen Wohlfahrtsstaat, Herr Esping-Andersen?

Am kommenden Donnerstag, 23. November habe ich in meiner Reihe "Genial dagegen" im Kreisky-Forum den dänisch-spanischen Wohlfahrtstheoretiker

Gosta Esping-Andersen

zu Gast. Anbei ein Interview, in dem Esping-Andersen erklärt, was am alten Sozialstaat nicht mehr funktioniert und in welchen Bereichen umgesteuert werden muss. Mehr gibt es dann am 23. November, 19 Uhr, Armbrustergasse 15, 1190 Wien

 

Gøsta Esping-Andersen, 59, ist Professor für Soziologie in Barcelona. Der Däne gilt als der führende Wohlfahrtsstaats-Forscher Europas. Er berät viele EU-Regierungen bei der Sozialsstaatsreform. Seit Jahren macht er sich stark dafür, dass die kontinentaleuropäischen Regierungen von den Erfolgen der skandinavischen Länder lernen – zuletzt mit seinem Buch „Why we need a new Welfare State“ (2002).

 

Warum brauchen wir denn einen neuen Wohlfahrtsstaat – was funktioniert denn am alten nicht mehr?

 

Esping-Andersen: Vieles. Nehmen wir nur das Offensichtlichste: Der alte Wohlfahrtsstaat war um das Modell des männlichen Familienernährers aufgebaut. Wir haben heute eine neue Realität. Frauen wollen arbeiten, wollen Autonomie. Das determiniert die Entscheidung, ob und wann man Kinder will. Das beeinflusst die Geburtenrate, auch weil es unmittelbar und mittelbar kostspieliger geworden ist, Kinder zu bekommen. Das alte Modell ist sogar kontraproduktiv.

 

Wieso das?

 

Esping-Andersen: Es geht von der impliziten Annahme aus, dass es ganz viele freie Betreuungskapazitäten in der Gesellschaft gibt – und zwar in den Familien. Nur ist das einfach nicht mehr der Fall. Deswegen muss ein moderner Wohlfahrtsstaat soziale Dienste anbieten, weil die Familien diese Betreuungsaufgaben nicht mehr erbringen können. Er muss „entfamilialisiert“ werden.

 

Weil die Reaktion der Frauen und der Paare ist, dass einfach weniger Kinder geboren werden?

 

Esping-Andersen: Das ist die logische Konsequenz, weil es wenig Hilfe für arbeitende Mütter gibt. Das erste Kind wird später geboren, deshalb gibt es dann auch weniger. Dabei wissen wir, dass es nicht so ist, dass die Menschen heute weniger Kinder haben wollen. Für diesen individualistischen Hedonismus gibt es wenig Beweise. Die Zwei-Kinder-Familie ist der durchschnittliche Wunsch – doch die Realität liegt in allen westeuropäischen Gesellschaften deutlich darunter, bei durchschnittlich 1,2 bis 1,6 Kindern. Also muss man sich fragen, warum der Wunsch und dessen Erfüllung so weit auseinander klaffen.

 

Was läuft in jenen Ländern anders, in denen das besser funktioniert – in den skandinavischen Länder etwa?

 

Esping-Andersen: Es ist eine Reihe von Dingen. Erstens, haben es junge Paare leichter, unabhängig zu werden. Wo das schwierig ist, werden Familien später gegründet und das hat auch viel mit Prekarität am Arbeitsmarkt zu tun. In Skandinavien gibt es praktisch keine Jugendarbeitslosigkeit. Zweitens gibt es genügend Kinderbetreuungsangebote, die auch finanzierbar sind.

 

Das klingt, als würde die Familienpolitik zum Schlüssel für Sozialpolitik.

 

Esping-Andersen: Genau das ist der Fall, und zwar aus zwei Gründen: Weil Familiengründung oft heißt, dass Frauen ihre beruflichen Kompetenzen nicht weiter entwickeln können, und weil Mangel und Bildungsmangel in der frühesten Kindheit die späteren Chancen entscheidend einengen. Früher konnte man auch ein ganz gutes Auskommen haben ohne besondere Qualifikationen. Das hat sich dramatisch verändert. Zudem haben wir früher geglaubt, der allgemeine Zugang zum Bildungssystem würde mehr Gleichheit zur Folge haben. Es hat sich herausgestellt, dass das nicht unbedingt der Fall ist.

 

Die Schulen reproduzieren die Ungleichheiten nur?

 

Esping-Andersen: Wir wissen heute, dass es sich in den Familien entscheidet, ob ein Kind gute Chancen oder schlechte Chancen hat und dass die Schulen kaum mehr etwas korrigieren können. Die Grundlage für soziale Ungleichheit wird in den ersten sechs Jahren gelegt, also in jener Phase, in der die Kinder de facto privatisiert sind. Für Chancenarmut gibt es somit zwei Gründe. Erstens materielle: Kinderarmut hat ganz furchtbare Auswirkungen. Zweitens kulturelle: Das Lernmilieu spielt eine große Rolle.

 

Was heißt das?

 

Esping-Andersen: Kinder, die in der Familie nicht gefördert werden, keine kognitive Basis bilden, haben praktisch keine Chance. Wenn wir also in einer Wissensgesellschaft leben, müssen wir entschieden mehr in die Kinder investieren, wenn wir nicht grobe Ungleichheiten ernten wollen.

 

Man wird die Eltern nicht zwingen können, ihren Kindern vorzulesen…

 

Esping-Andersen: Deswegen ist hochwertige Kinderbetreuung wichtig, besonders für die am meisten Unterprivilegierten. Die haben einen überdurchschnittlichen Gewinn durch qualitativ hochwertige Kinderbetreuung.

 

Gute Sozialpolitik fängt also mit Babys an?

 

Esping-Andersen: Genau. Deswegen sind die skandinavischen Länder so gut – weil Kinder nicht mit so großen Nachteilen ins Leben starten gibt es ein sehr hohes allgemeines Niveau bei den späteren Bildungsleistungen und deswegen auch hochqualifizierte Arbeitnehmer.

 

Es wird oft, auch von Ihnen, gesagt, mit den wachsenden Einkommensungleichheiten müssen wir leben, aber es müssen die Chancenungleichheiten bekämpft werden. Müssen wir wachsende materielle Ungleichheit wirklich akzeptieren?

 

Esping-Andersen: Wir sollten sie nicht akzeptieren, eben aus dem einem Grund: Ungleiche Verteilung der Einkommen bedeutet auch ungleiche Verteilung von Startchancen. Ungleichheit wird vererbt – und das ist ein sehr starkes Argument gegen Ungleichheit. Aber davon abgesehen würde ich sagen, wir sollten, wenn wir uns für ein egalitäres Projekt stark machen, nicht so sehr auf die Einkommensverteilung starren, sondern uns eher den Lebenschancen widmen. Nicht jeder, der wenig Geld zur Verfügung hat, ist deswegen arm – es hängt auch von der Dynamik der Lebensphasen ab. Studien haben ergeben, dass 93 Prozent aller Dänen irgendwann in ihrem Leben arm waren. Das heißt, die Einkommensverteilung zu einem bestimmten Zeitpunkt gibt keine besonderen Aufschlüsse über die realen Lebensbedingungen der Leute. Legt man Studien über die Einkommensverteilung das Lebenseinkommen zugrunde, sind moderne Gesellschaften gar nicht so ungleich.

 

Ungleichheit sieht man also nicht am Kontoauszug?

 

Esping-Andersen: Wirklich gefährliche Armut heißt: Mangel an Lebenschancen.

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