„Richtige Helden“

Howard Zinn, legendärer linker Historiker der USA, über sein Leben als Rebell, die Bedeutung widerständischer Heroen, den Sinn politischen Engagements und seine populäre „Geschichte des amerikanischen Volkes“. Falter, Dezember 2006 und taz, 2. Jänner 2007

 

Sie haben mir Charles Dickens zu lesen begonnen, haben Sie einmal erzählt. Ein prägender Einfluss?

 

Zinn: Ja, das waren die ersten Bücher, die ich gelesen habe. Ich war ein Teenager. Ich bin in einer Arbeiterklassen-Familie in den Slums von Brooklyn aufgewachsen. Bücher gab es keine, mein Vater, meine Mutter, hatten praktisch keine Schulbildung. Aber sie sahen in einer Anzeige in der New York Post, dass man für ein paar Cent Dickens Werke subskribieren konnte. Sie hatten von Dickens noch nie gehört, aber sie wussten, dass ich gerne lese, also haben sie hingeschrieben.

 

Was hat Sie daran fasziniert?

 

Zinn: Dickens hat etwas in mir angesprochen, und das war auch nicht überraschend. Schließlich handeln seine Bücher von den Leuten aus der Arbeiterklasse, von den Armen, von den Kindern in London – und ich war ein Kind armer Leute.

 

Eine Empfehlung für heutige Kinder?

 

Zinn: Aber sicher! Nichts empört ihn so wie Ungerechtigkeit. Das ist sehr zeitgemäß in einer Welt, die in Reich und Arm gespalten ist – im globalen Rahmen. Aber auch in den sogenannten liberalen, demokratischen Ländern wie den USA gibt es nicht das gleiche Recht für die Armen und für die Reichen, für die Weißen und die Schwarzen.

 

Sie haben sich mit Bildung da herausgearbeitet. Das war ja eine Strategie in der Arbeiterbewegung zu dieser Zeit.

 

Zinn: Im frühen 20. Jahrhundert haben die Fabrikarbeiter sich gegenseitig vorgelesen. Es gab eine ganze Generation von Arbeiterklassen-Intellektuellen. Da  ist etwas sehr wichtiges verloren gegangen.

 

Sie konnten etwa als GI nach dem Zweiten Weltkrieg gratis studieren, bekamen sogar Geld dafür…

 

Zinn: Dennoch war das auch in früheren Zeiten schwer. Auch ich war eine Ausnahme. Soziologische Studien zeigen, dass die meisten Menschen in der Klasse bleiben, in die sie hineingeboren wurden. Diese Aufwärtsmobilität, die so oft beschworen wird, die gibt es nur in exzeptionellen Fällen.

 

Wird das leichter oder schwerer?

 

Zinn: Bist Du arm, bleibst Du arm. Nirgends kommt man mehr durch. Auch die Differenz zwischen Armen und Reichen geht immer mehr auf. Im Wesentlichen ist das die Schuld von Regierungspolitik, des Steuersystems, das die Reichen bevorzugt, während der Mindestlohn seit zehn Jahren gleich bleibt. Die Dinge haben sich zum Schlechteren verändert.

 

Wirklich? Sie selbst haben an einer Reihe Kämpfe teilgenommen, die die Welt besser gemacht haben – vom Kampf gegen die Rassentrennung angefangen…

 

Zinn: Klar gibt es Fortschritt. Das Verhältnis der Rassen ist sicher so ein Bereich. Wenn ich nach Atlanta zurückgehe, in den Süden, wo ich gelebt und gearbeitet habe, dann sehe ich ein völlig verändertes Land.

 

Wie gerieten Sie in die Bürgerrechtsbewegung?

 

Zinn: Der erste Job den ich bekam, war am Spelman-College in Atlanta. Das war ein College für schwarze Mädchen, ich war der einzige Weiße. Als meine Schülerinnen sich gegen die Rassentrennung engagierten, habe ich sie unterstützt. Am Ende bin ich dann rausgeworfen worden. In den fünfziger Jahren war diese Stadt so segregiert wie Johannesburg während der Apartheid. Wenn ich jetzt in die Stadt komme, treffe ich einen schwarzen Bürgermeister, schwarze Polizeibeamte. Die Atmosphäre ist komplett anders. Man hat sich übrigens auch bei mir für den Rauswurf entschuldigt.

 

Es gibt also Fortschritt?

 

Zinn: Aber man sieht auch, was noch getan werden muss. Die wirtschaftliche Ungerechtigkeit ist ungeheuerlich. Wir haben ein paar schwarze Yuppies und TV-Moderatoren, aber das ist es dann auch schon. Andererseits: Es ist heute sogar vorstellbar, dass wir einen schwarzen Präsidenten bekommen. Barack Obama hat realistische Chancen.

 

Ein großartiger Typ, nicht wahr?

 

Zinn: Er ist sehr eloquent. Er ist ein Linksliberaler, viel besser als Hillary Clinton. Jetzt zeigt er langsam diese Vorsicht, die viele Leute haben, wenn sie politisch aufsteigen, vor allem, wenn sie das Präsidentenamt im Visier haben.

 

Also ist es doch nicht sinnlos, sich zu engagieren?

 

Zinn: Es gibt diese Mutlosigkeit, dies Gefühl, man kann ohnehin nichts tun. Ein Grund dafür ist der Geschichtsverlust. Die Bewegungen aus den sechziger Jahren, sie sind einfach vergessen.

 

Gab es einen Punkt, der für Sie entscheidend war, an dem für Sie klar war: Ich werde ein Rebell, ich möchte nicht Teil dieses Systems sein?

 

Zinn: Diese Entscheidung fiel sehr früh. Als ich 17 Jahre alt war, 1939, steckten wir noch mitten in der Großen Depression. Ich sah, wie Leute delogiert wurden, ihre Möbel standen auf der Straße herum. Sie schrieen und weinten. Dann kamen manchmal Radikale aus dem Viertel, die haben die Möbel einfach wieder in die Wohnungen gestellt. Das machte immensen Eindruck auf mich. Mit 18 habe ich dann in einer Schiffswerft gearbeitet. Ich habe als junger Aktivist die Werftarbeiter zu organisieren begonnen. In der Folge habe ich sozialistische Literatur gelesen, Marx, Engels, aber auch Upton Sinclair, John Steinbeck, diese ganze Liste progressiver Autoren. Als ich in den Krieg zog, als Bombardier der Airforce, war ich bereits ein überzeugter Radikaler.

 

Sie waren sehr früh von Illusionen in die Sowjetunion, in das kommunistische Lager geheilt. Hat das ihr Denken befreit?

 

Zinn: Als die Sowjetunion zusammenbrach, waren viele auf der Linken deprimiert. Plötzlich, so fühlten sie, haben sie keine Macht mehr hinter sich. Für mich war die Sowjetunion gestorben, als die Rote Armee Finnland überfiel, also 1939. Während des Krieges habe ich von Arthur Koestler „Der Yogi und der Kommissar“ gelesen. Ich war von da an sehr vorsichtig, wenn ein Regime von sich behauptete, es sei ein Modell für Sozialismus oder Befreiung. Unlängst hat mich jemand gefragt, was ich denn sei: Kommunist? Anarchist? Ich antwortete, ich glaube an eines: Sozialismus ohne Gefängnisse.

 

Ich habe den Eindruck, in ihrem Denken gibt einen interessanten Strang, der generell in der amerikanischen Linken stärker ist als in der europäischen: diesen libertären Zug. Ein richtiger Eindruck?

 

Zinn: Die europäische Linke ist noch sehr stark von diesem alten, linken Denken bestimmt. In den sechziger Jahren hat sich in den USA eine „Neue Linke“ entwickelt, die sehr stark von der Bürgerrechtsbewegung geprägt war. Ja, es gab darin einen anarchistischen Spirit.

 

Wie sehr ist dieser libertäre, volkstümliche Egalitarimus denn von den uramerikanischen Idealen, deren Gleichheits- und Freiheitspathos inspiriert?

 

Zinn: Daran gibt es Anknüpfungspunkte. Vor allem die libertäre, demokratische Linke hat diesen Egalitarismus immer betont. Die „Neue Linke“ hat versucht, das Beste der amerikanischen Geschichte herauszustreichen – den Kampf gegen die Sklaverei, das Populist Movement vom Ende des 19. Jahrhunderts, die Arbeiterbewegung des frühen 20. Jahrhunderts.

 

 „Wer die Geschichte kontrolliert, kontrolliert die Zukunft“, diese berühmten Sätze von George Orwell waren auch für Sie sehr wichtig. Geschichte schreiben ist ein Kommentar über die Gegenwart?

 

Zinn: Deswegen versuchen die Herrschenden die Geschichtsschreibung zu kontrollieren. Darum all diese Lobreden auf die militärischen Heroen, auf das amerikanische Wirtschaftswunder, auf die Kolonisatoren, auf Amerikas fortschrittliche Rolle in der Weltgeschichte. Das hat den simplen Sinn, zu zeigen, dass Amerika nichts als eine Kraft des Guten ist. Eine Bevölkerung, der das eingetrichtert wird, ist einfach nicht vorbereitet auf die Lügen, mit denen man sie bombardiert. Würde sie wissen, mit welchen Argumenten der amerikanische Expansionismus operierte, würde sie merken, dass es die gleichen Argumente sind, die heute wieder benützt werden.

 

Jeder Präsident, der zum Krieg blies, hat noch gesagt, er bringe den Leuten, gegen die gekämpft werden muss, die Freiheit?

 

Zinn: Exakt. Dauernd haben wir nur Freiheit gebracht. Den Mexikanern, den Philippinen, Vietnam, den Chilenen, Guatemalteken, nichts als Freiheit haben wir gebracht. Jetzt ist der Irak dran. Aber das historische Bewusstsein darüber ist ausgelöscht, mit Absicht. Würden sich die Menschen mit Geschichte beschäftigen, würden sie sehen, dass jede amerikanische Regierung nur die Sache der Reichen verfolgte, von den Gründungsvätern an.

 

Sie stoßen alle Nationalhelden vom Sockel. Aber vielleicht brauchen die Menschen Helden? 

 

Zinn: Selbstverständlich. Nur, diese traditionellen Heroen, Christof Columbus, Andrew Jackson, Abraham Lincoln, Woodrow Wilson, John F. Kennedy, die haben nichts Bewundernswertes. Und es gibt andere Heroen. Statt Columbus – Bartolomé de Las Casas, der sich gegen Columbus’ Genozid an den Ureinwohnern stellte. Statt Andrew Jackson, der den Süden von den Indianern ethnisch gesäubert hat, sind die Cherokees die Helden, die sich widersetzten. Die Führer der Anti-Sklaverei-Bewegung, sie waren richtige Helden. Die Haymarket-Leute, diese frühen Arbeiteraktivsten, die 1887 hingerichtet wurden – das waren richtige Helden. Mark Twain war ein wirklicher Held! Es gibt so viele wirkliche Helden, die nur den Nachteil haben, dass niemand sie kennt.

 

Unter den Präsidenten der USA gab es keinen einzigen Helden, der vor Ihrem Urteil Bestand hat?

 

Zinn: Franklin D. Roosevelt vielleicht. Er hatte einen Sinn für die Nöte der einfachen Menschen und die Streikbewegungen in den dreißiger Jahren haben ihn in die richtige Richtung gestupst. Wenn es einen gibt, den man bewundern kann, dann war das er. Nur meine ich, der Wunsch selbst, dass ein Mächtiger ein Held sein muss, ist fragwürdig. Man wünscht sich das, weil man sich ohnmächtig fühlt, und hofft, die Mächtigen werden es richten. Damit gibst Du aber Deine eigene Handlungsfähigkeit auf. Wirklich bewundernswert sind die einfachen Leute, die etwas Heldenhaftes tun.

 

Zur Person:

 

Howard Zinn, 84, war Werftarbeiter, Streikführer und Air-Force-Pilot, bevor er zum populärsten linken Historiker der USA aufstieg. Er unterrichtete am Spelman-College, der heutigen Universität von Atlanta, später wurde er Geschichtsprofessor an der Boston-University. Berühmt wurde Zinn, der sich in der Bürgerrechts- und Anti-Kriegs-Bewegung engagierte, vor allem durch seine „A People’s History of the United States“, die sich bis dato 1,5 Millionen mal verkaufte und die dieser Tage erstmals auf deutsch erscheint.

 

Kurzrezension:

 

Amerikas andere Geschichte

 

Eigentlich wollte der Autor nur ein dissidentes Buch schreiben – doch mittlerweile ist Howard Zinns 1980 erstmals erschienene „A People’s History of the United States“ eines der einflussreichsten Geschichtsbücher der USA überhaupt. Rund 1,5 Millionen Mal ging diese „andere Geschichte Amerikas“ bisher über die Ladentische. Dank der Bemühungen des kleinen Berliner Verlages „Schwarzer Freitag“ liegt Zinns Opus nun erstmals auch in Deutsch vor.

 

Die „Geschichte des amerikanischen Volkes“ erzählt die Historie von 1492 bis heute, aber nicht als Geschichte ruhmreicher Eroberer und tugendhafter Präsidenten, sondern aus der der einfachen Leute: der Indianer, die sich gegen die Genozide wehrten und brutal ermordet wurden, aus dem Blickwinkel der armen Einwanderer, die in regelmäßigen Wellen in das Land geschwemmt wurden, aus der Sicht der schwarzen Sklaven, der einfachen Arbeiter.

 

Aber es ist nicht nur eine Geschichte der Besiegten. Zinn versucht, den offiziellen Helden wirkliche Helden gegenüberzustellen – etwa die Abolitionists, die eine Bewegung für die Abschaffung der Sklaverei entfachten, deren Forderungen sich Abraham Lincoln nur mit Widerwillen beugte.

 

Die kleinen Bände sind lehrreich – und leicht zu lesen.

 

Howard Zinn: Die Geschichte des amerikanischen Volkes. 9 Bände. Bisher erschienen Band 1 bis 5. Verlag Schwarzerfreitag, Berlin, 2006, jeweils ca. 140 Seiten, 7,80-8,80.-€

 

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