Rückkehr in die Realität

Der Baker-Report ist ein schonungsloses Dokument des Desasters im Irak. Unter den Gefolgsleuten von George W. Bush macht sich Endzeitstimmung breit. Die Amerikaner beginnen sich mit der Aussicht abzufinden, dass sie womöglich als Gescheiterte aus dem Irak ausziehen werden. profil, 11. 12. 2006

 

 

„Die Situation ist ernst und verschlechtert sich dramatisch.“ So lautet der erste Satz des Berichts der „Iraq Study Group“, den die Kommission unter Ex-Außenminister James Baker und Ex-Congressman Lee Hamilton am Mittwoch der Vorwoche an George W. Bush übergab. „Sehr, sehr ernst“, sei das alles, fügte Hamilton später mündlich hinzu.

 

Die nüchtern-alarmistische Wendung passt auch für die persönliche Situation des US-Präsidenten. Noch bis vor kurzem hatte das Weiße Haus, wenn schon nicht den Irak-Krieg, so doch zumindest die Debatte darüber streng im Griff. Das Land ist im Krieg und der Oberbefehlshaber saß bisher fest im Sattel – da nahmen sich die meisten ein Blatt vor dem Mund. Niemand wollte der erste sein, der das Wort „Niederlage“ oder „Katastrophe“ in den Mund nimmt. Doch jetzt brechen alle Dämme.

 

Der beste Indikator dafür ist, wie nun  plötzlich über Bush geschrieben wird. Kaum eines der Mainstream-Medien, von „Time“ bis „Washington Post“, wollte vergangene Woche etwa auf den Witz verzichten, dass die letzte bedeutende Kurskorrektur, die der Präsident vollzog, exakt 20 Jahre zurückliegt – damals wachte er verkatert in einem Hotel auf, „und entschied sich, das Trinken aufzugeben“ („Newsweek“). Seither freilich sei kein Fall verbürgt, dass sich der Präsident einmal eines Besseren besonnen hätte.

 

Mit einemal wird der Präsident wieder als Dummkopf dargestellt, der eine Katastrophe ausgelöst hat, und es nicht einmal bemerkt. Sogar der elegante Ex-Außenminister James Baker, immerhin ein enger Freund der Bush-Familie, ließ sich einer kleinen spöttische Bemerkung hinreißen. „Jahrelang musste ich mich fragen lassen, warum wir 1991 nicht nach Bagdad marschiert sind, um Saddam zu stürzen“, sagte Baker in Anspielung auf den ersten Golfkrieg. „Komischerweise fragt mich das in letzter Zeit niemand mehr.“

 

Soviel Wahrheit wie vergangene Woche hatten die Amerikaner schon lange nicht gehört. „Wir wissen nicht, ob man die Situation im Irak noch wenden kann“, sagte Hamilton, „aber wir müssen es versuchen“. James Baker assistierte: „Die Iraker wurden vom Alptraum einer Tyrannei befreit, nur um mit dem Alptraum brutaler Gewalt konfrontiert zu werden.“ Und Ex-Präsident Bill Clintons Stabschef Leon Panetta meinte: „Wir schulden es den Irakern, dass wir einen letzten Versuch starten.“ Schon der Auftritt der soignierten Riege aus neun Elder Statesmen und der ehemaligen Höchstrichterin Sandra Day O’Connor hatte einen Hauch von Umsturz. Mit geballter Gravitas erhob sich die politische Vernunft und las dem Präsidenten die Leviten.

 

Plötzlich stimmen Sprache und Wirklichkeit wieder überein. Bisher hatte das Weiße Haus stets vom „Sieg“ gesprochen, und dass die „Mission erfüllt“ werde. Doch schon am Dienstag hatte der designierte Verteidigungsminister Robert Gates für Schlagzeilen gesorgt, als er bei der Anhörung vor dem zuständigen Senatsausschuss auf die Frage, ob denn die USA dabei seien, den Krieg zu gewinnen, mit einem schneidigen „No, Sir“, antwortete. Einen Tag davor war es Kofi Annan gewesen, der scheidende UN-Generalsekretär, der ein regelrechtes Tabu brach. Die Lage sei schlimmer als unter Saddam, so Annan: damals hatten die Iraker zwar „einen Diktator, der brutal war“, aber ihre „Kinder konnten zur Schule gehen und zurückkommen, ohne dass die Eltern beunruhigt waren“.

 

Wie dramatisch die Lage wirklich ist, können die Amerikaner jetzt in dem minutiösen 160-Seiten-Report der Baker-Kommission nachlesen, die praktischerweise auch schon gedruckt im Buchhandel zu haben ist – und mit einem Mausklick aus dem Internet heruntergeladen werden kann. 3.000 Zivilisten würden jedes Monat im Irak getötet. Gewalt zwischen den Volksgruppen – vor allem Schiiten und Sunniten – eskaliere. Der Iraq ist Schauplatz einer großangelegten „ethnischen Säuberung“ – 1,6 Millionen Vertriebene irrten im Land herum, 1,8 Millionen seien ins Ausland geflohen. Milizen – die Mahdi-Armee des radikalen Schiitenführers Moktada al-Sadrs habe 60.000 Mann unter Waffen – terrorisierten Andersgläubige oder rivalisierende Gruppen und seien ein unkontrollierbarer Staat im Staat. Von der irakischen Armee und der Polizei sei nicht viel zu erwarten, im Gegenteil: viele Einheiten seien in Wahrheit nur Milizen in offiziellen Uniformen, die sich an ethnisch motivierten Morden und Pogromen beteiligen, statt sie zu verhindern. Die irakische Regierung unter Premier Maliki existiere eigentlich nur auf dem Papier. Vom Sommer bis Oktober habe die Gewalt noch  einmal um 43 Prozent zugenommen. „Die Fähigkeit der Vereinigten Staaten, die Geschehnisse im Irak zu beeinflussen, schwindet zusehens.“

 

Mit dem Report der Baker-Boys ist das hohle Neusprech wie weggeblasen, das bisher angeschlagen wurde, sobald vom Irak die Rede war und auch die Begriffssophistik der vergangenen Wochen hat ein Ende – die war ein Symptom dafür, wie schwer es der mächtigsten Nation der Welt fällt, einzugestehen, dass sie im Irak militärisch und politisch gescheitert ist. So wurde in den vergangenen Wochen heftig darüber gestritten, ob man den Zustand im Irak einen „Bürgerkrieg“ nennen dürfe. Meistens behalf man sich mit der Formulierung, es gäbe „konfessionelle Gewalt“ und „bürgerlichen Unfrieden“ („civil unrest“), doch keinen Bürgerkrieg – weil ein solcher rivalisierende Machtzentren voraussetze, die in regulären Schlachten um die Vormacht im Staat ringen. Totales Chaos und Anarchie wie im Irak seien zwar unerfreulich, aber kein Bürgerkrieg. Statt von einer fatalen Verschlechterung der Lage wurde gerne von „dieser Phase“ gesprochen – denn schwierige Phasen haben, wie etwa die Pubertät bei Jugendlichen, die schöne Angewohnheit, dass sie einmal zu Ende gehen. Sogar die Demokraten wagten es nicht, Truppenabzüge offen zu fordern, sondern verlangten stattdessen „schrittweise Umgruppierungen“.

 

„Wir bleiben im Irak, bis der Job erledigt ist“, sagte George W. Bush noch vorvergangene Woche. Doch auch der Präsident beginnt, seine Rhetorik der Realität anzupassen. Seit einiger Zeit schon spricht er nicht mehr davon, das Ziel der „Mission“ sei ein „demokratischer Irak“. Heute ist nur mehr vom „stabilen Irak“ die Rede. Das Projekt Demokratieexport ist still begraben worden.

 

Dabei ist natürlich auch ein stabiler Irak in weiter Ferne. „Die eigentliche Frage ist, wie die USA es schaffen können, auf eine Weise im Irak eine Niederlage zu erleiden, die nicht automatisch zu den schlimmsten Desastern in der gesamten Region führt“, formulierte das Magazin „Newsweek“ spitzfindig. Viel realistischer ist, dass die USA im Grunde gar nicht mehr viel machen können. „Alles, was wir tun können, ist zu gehen und uns zu entschuldigen für den schrecklichen Schaden, den wir angerichtet haben“, schreibt Rosa Brooks, Kolumnistin der „Los Angeles Times“. „Die Invasion des Irak wird in die Geschichte eingehen als nationale Sünde mit epischen Ausmaßen.“

 

Das Problem freilich: Der Scherbenhaufen ist angerichtet und niemand weiß, wie die Bruchstücke wieder zusammengeklebt werden könnten. Zwar enthält der Bericht der Baker-Kommission 79 detaillierte Empfehlungen, die einen Ausweg aus der Misere zumindest wahrscheinlicher machen sollen – doch allzuviel Optimismus können die Autoren nicht verbreiten. Mehr noch: Obwohl sie mit ihrem Bericht den „Realismus“ in die US-Außenpolitik zurückbringen wollten, klingen ihre Empfehlungen selbst stellenweise ziemlich irreal. Nachdem sie etwa überzeugend auseinandersetzten, dass die irakische „Regierung“ ein Papiertiger und Premier Maliki nicht einmal fähig ist, ohne den Einsatz einer Hundertschaft von US-Personenschützern von seinen Privatgemächern in seinen Amtssitz zu gelangen, heißt es ein paar Seiten weiter: „Die irakische Regierung sollte…“ oder „die irakische Regierung muss ihre Anstrengungen verstärken…“

 

Passagen, an denen sich der aufmerksame Leser fragt: „Welche irakische Regierung?“

 

Drei Vorschläge sind es vor allem, für die sich die Kommission stark macht:

 

*   Nach und nach sollten die USA ihre kämpfenden Einheiten aus dem Irak zurückziehen. Die Geschwindigkeit des Abzugs soll vom Verhalten der irakischen Regierung abhängig gemacht werden. Je mehr Anstrengungen sie unternimmt, den Bürgerkrieg zu beenden und das Land zu vereinen, desto länger sollen die US-Truppen bleiben und sie dabei unterstützen.

*   US-Soldaten sollen nicht mehr selbstständig für Recht und Ordnung sorgen, sondern in die irakischen Sicherheitskräfte integriert werden – um sie in der Praxis trainieren zu können. Eine Strategie, die manche Kommentatoren freilich für eine Quelle neuer Gefahren halten. Angesichts des Umstandes, dass die irakischen Sicherheitskräfte oft selbst gewalttätige Übergriffe zu verantworten haben, bestehe das Risiko, dass US-Soldaten „in Menschenrechtsverletzungen und Morde involviert werden“, schreibt William M. Arkin, Sicherheitsexperte der „Washington Post“. Im Klartext: die schiitisch dominierten Streitkräfte könnten versucht sein, sich von den Amerikanern beim ethnischen Säubern helfen zu lassen.

* Einen noch radikaleren Kurswechsel schlägt die Baker-Kommission auf dem Feld der Diplomatie vor: Sie fordert noch vor Jahresende eine aktive Einbeziehung von Syrien und dem Iran, zweier Staaten, mit denen sich die Bush-Regierung bisher zu sprechen weigert. „Man muss auch mit Feinden sprechen, nicht nur mit Freunden“, sagt James Baker. Angesichts des Einflusses, den der Iran auf die schiitische Bevölkerungsmehrheit und Syrien als Transitland für antiamerikanische Kämpfer hat, sei geschickte diplomatische Annäherung an die beiden Länder eine Voraussetzung für eine Stabilisierung der Lage. Dies würde aber nicht nur eine 180-Grad-Wendung der US-Außenpolitik verlangen, zusätzlich ist umstritten, welche Wirkungen eine solche Kurskorrektur überhaupt noch hätte – schließlich ist der Kampf aller gegen alle im Irak mittlerweile derart aus dem Ruder gelaufen, dass man die Möglichkeit der Nachbarländer, zur Verringerung der Spannungen beizutragen, besser nicht überschätzt.

 

„Wir wissen, dass wir keine guten Optionen mehr im Irak haben. Wir haben nach den wenigsten schlechten Optionen gesucht“,  warnte denn auch ein Experte der Kommission vor zu großem Optimismus..

 

Jetzt lautet die Frage in Washington: Wird der Präsident den Rat annehmen? Immerhin, er hat der Kommission aufmerksam zugehört und sich für die „harte Beurteilung“ artig bedankt. Klar ist: Die Parole „Stay the course“, auf Kurs bleiben, ist nicht einmal von Bush zu erwarten. Ende vergangener Woche ließ er über seinen Sprecher ausrichten, möglicherweise werde der Präsident noch vor Jahreswechsel eine neue „Vorwärtsstrategie“ verkünden.

 

Würde er die Ratschläge übernehmen, es wäre eine politische Kapriole der Extraklasse. Bush müsste praktisch eingestehen, dass seine gesamte Strategie gescheitert ist. Zusätzlich heikel: Mit dem Kommissionvorsitzenden James Baker und dem neuen Verteidigungsminister Robert Gates haben zwei enge Weggefährten von Bush’ Vater, seinem Vorvorgänger als Präsident, eine Schlüsselrolle in der Neuorientierung der Irakpolitik übernommen. Leicht kann der Eindruck entstehen, der Präsident müsse sich von Daddys Freunden aus der Patsche helfen lassen – eine Optik, die Bush gewiss nicht extrem behagen dürfte.

 

Freilich, der Kreis derer, die Bush noch auffordern, er solle seinen Kurs nur ja beibehalten, ist nicht mehr allzu groß. Von den neokonservativen Ideologen, die seinerzeit das Konzept des Regimewechsels im Irak und einer aktivistischen Interventionspolitik propagiert haben, ist nur mehr ein versprengtes Häuflein Unverbesserlicher übrig. In deren Kreisen macht sich Endzeitstimmung breit. „Jetzt kommt wieder der Realismus in der Außenpolitik in Mode“, beklagen Robert Kagan und William Kristol im „Weekly Standard“, dem Leitmedium der Neocons. Aber dieser Realismus, so ihr düsteres Lamento, sei nur ein anderes Wort „für Kapitulation“.

(gemeinsam mit Sebastian Heinzel, New York)

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