Was ist Entfremdung? Und was kann man dagegen tun, Frau Jaeggi?

Debatte. Kommenden Dienstag, 13. Februar, habe ich in meiner Reihe "Genial dagegen" im Kreisky-Forum die Frankfurter Sozialphilosophin Rahel Jaeggi zu Gast. Sie wird über das Thema sprechen: "Was ist Entfremdung? Und was kann man dagegen tun?" Vorab habe ich mit ihr schon einmal ein Interview für den "Falter" geführt.

Veranstaltung: 13. Februar 2007 | 19.00 Uhr. Bruno Kreisky Forum, Armbrustergasse 15 | 1190 Wien

 

 

 

Die Philosophin Rahel Jaeggi, 40, unterrichtet am Institut für Philosophie der Goethe-Universität in Frankfurt. Vergangenes Jahr erschien von ihr das Buch „Entfremdung. Zur Aktualität eines sozialphilosophischen Problems“, das nicht nur von FAZ bis taz in höchsten Tönen gelobt wurde, sondern in No-Globals-Kreisen heftig debattiert wurde. 

 

Wie kamen Sie denn auf die Idee, den verstaubten Begriff „Entfremdung“ neu zu polieren? War Ihnen das anfangs nicht peinlich?

 

Jaeggi: Naja, peinlich? Es war nicht gerade ein "angesagtes" Thema, als ich anfing, mich damit zu beschäftigen. In meinem Umfeld – im fachlichen und im privaten – wurde das Projekt von einigen anfangs schon mit einer Mischung von Ablehnung, Mitleid, und Erstaunen betrachtet, von manchen allerdings auch mit einer Art nostalgischer Wehmut.

 

Weil Entfremdungskritik immer nach der Beschwörung des einfachen, natürlichen Lebens gegen die Künstlichkeit der Moderne klingt?

 

Jaeggi: Ja. Das war der Standardeinwand: Entfremdung heißt doch immer Entfremdung von einem vorausgesetzten natürlichen Wesen des Menschen – und wir wissen doch längst, dass es so etwas gar nicht gibt.

 

Ist das von der Hand zu weisen?

 

Jaeggi: Gar nicht. Andererseits ist das, was man mit Entfremdung beschrieben hat, eine soziale Pathologie, die man ohne diesem Begriff schwer zu beschreiben vermag. Wenn man das aus der Hand gibt, gibt man zu viel aus der Hand. Das führt zu einer Verarmung des Vokabulars, mit dem man erfassen kann, was in einer Gesellschaft schief läuft. Gleichzeitig war mir natürlich bewusst, dass man den Begriff Entfremdung von der Vorstellung der „Natur des Menschen“ oder der, des Ursprungs, der Bestimmung und der wiederzuerlangenden endgültigen Versöhnung absetzen muss, wenn er etwas taugen soll. Aber ich denke auch, dass es schon für die Geschichte des Entfremdungsbegriffes nicht stimmt, dass er in einem solch platten Sinn essentialistisch ist.

 

Also beim guten alten Marx…

 

Jaeggi: Es war eher das Alltagsverständnis, in dem sich das ganz platte Muster von der Entfremdung als Entfremdung vom Wesen des Menschen durchsetzte. Meine Idee war nun, wir können einen Entfremdungsbegriff entwickeln, der ohne solche Voraussetzungen auskommt.

 

Ein Kritikpunkt am Entfremdungsbegriff ist die Idee von entfremdeten Bedürfnissen. Die Kritik ist, was ist der Maßstab dafür, dass manche Bedürfnisse echter als andere seien. Lässt sich dieser Paternalismus vermeiden?

 

Jaeggi: Dieser Paternalismus stört mich besonders. Man hat da eine objektive Idee von menschlichen Bedürfnissen im Hinterkopf. Es gibt diesen linken, kulturkritischen Standardeinwand, dass uns Bedürfnisse aufoktroyiert und aufgeschwatzt werden, von den künstlichen Welten der Werbung etc. Übrigens gibt es eine ähnlich klingende konservative Entfremdungskritik. Die Bedürfnisse des Menschen sind dynamisch und veränderbar und es ist gewissermaßen "nach oben hin" offen, was wir alles wollen können. Andererseits kann daraus noch nicht folgen, dass alle Präferenzen, die Menschen äußern, allein weil sie sie faktisch haben, richtig sind – oder auch nur Ausdruck dessen, was sie wirklich wollen. Man sollte also das Projekt der Wunschkritik oder auch das Konzept der "wahren Interessen" – die Thematisierung und Hinterfragung dessen, was wir wollen und brauchen – nicht aufgeben und dabei trotzdem nicht paternalistisch werden.

 

Klingt das nicht ein wenig nach Mittelweg?

 

Jaeggi: Nein. Was ich in meinem Buch versuche, ist, das Augenmerk weg von den substanziellen Inhalten dessen, was wir wollen und tun sollen und hin zu der Art des Vollzugs zu lenken, also auf die Art und Weise, wie wir uns in dem, was wir tun und wollen auf unsere Wünsche und Handlungen beziehen können. Konkret bedeutet das: Man sollte gar nicht erst anfangen, bestimmen zu wollen, welche spezifischen Eigenschaften und Fähigkeiten jemand verwirklichen muss, um ein "ganzer Mensch" zu sein.  Dennoch lassen sich in der Art und Weise, wie wir uns auf das, was wir tun, beziehen können, oder wie wir uns etwa in sozialen Rollen bewegen und wie "anschlussfähig" und offen Erfahrungen sind, die wir machen, Defizite ausmachen. Entfremdung ist dann eine "Störung von Aneignungsvollzügen", wie ich es genannt habe, also eine Störung der Art und Weise, in der wir uns zu uns und der Welt in Beziehung setzen. Und diese kann man untersuchen ohne auf die Idee eines inneren Kerns, von dem man sich entfremdet, Bezug zu nehmen aber auch ohne das für die Individuen objektiv Gute vorzugeben. So kann man von Entfremdung sprechen, ohne immer besser zu wissen als die Individuen, was diese eigentlich wollen.

 

Ist die Restauration des Entfremdungsbegriffs auch der Versuch, theoretisches Vokabular und Alltagsempfindungen wieder mehr zur Kongruenz zu bringen?

 

Jaeggi: Ich glaube tatsächlich, dass es hier um ganz alltägliche Phänomene geht: in Rollen "neben sich" zu stehen, von Wünschen beherrscht zu sein, von denen man sich gleichzeitig distanziert, Indifferenz aber auch das Verwickelt-sein in Lebensvollzüge, in die wir irgendwie hineingeraten zu sein scheinen und denen wir machtlos gegenüberstehen obwohl es gleichzeitig wir selbst sind, die hier agieren. 

 

Dass nicht wir unser Leben leben, sondern dass es uns lebt?

 

Jaeggi: Und für diese Alltagserfahrungen hat die Theorie ohne den Entfremdungsbegriff keine Sprache mehr. Deshalb habe ich mich dem Thema zugewandt. Gerade das war aber die Herausforderung. Schließlich ist es eine der Aufgaben der Sozialphilosophie, dem Leiden der Individuen an der Gesellschaft ein begriffliches Instrumentarium zur Verfügung zu stellen, damit sie sich besser verstehen und daraus Schlüsse ziehen können. 

 

Was ist denn dann ein nicht entfremdetes Leben?

 

Jaeggi: Wie schon gesagt: Nicht entfremdet zu sein bezeichnet eine bestimmte Weise des Vollzugs des eigenen Lebens. Exemplarisch gesagt: Aneignung eines öffentlichen Raums, beispielsweise, bedeutet mehr, als dass man ihn benutzt. Entfremdet ist man, wenn man nicht mehr aktiver Teilnehmer der Verhältnisse ist, in denen man lebt.

 

Würde man Ihnen zu nahe treten, wenn man sagt, ihr Buch ist eine philosophische Hilfe zur Lebensführung, also so eine Art Lebenshilfe-Buch?

 

Jaeggi: Das soll es ganz bestimmt nicht sein. Natürlich habe ich versucht, meine Thesen aus der Analyse alltäglicher Phänomene von Entfremdung  zu gewinnen. Aber Entfremdung ist natürlich nicht lediglich ein Problem persönlicher Lebensführung und lässt sich auch nicht mit Selbsthilfe-Tips lösen oder damit, dass die Individuen sich einfach mal zusammenreißen oder tiefer in sich hineingucken. Entfremdung ist eine Erfahrung des Individuums, aber diese Erfahrungen sind gesellschaftlich induziert. Es ist eine der Stärken des Entfremdungsbegriffs, dass in ihm Selbst- und Weltverhältnis, Individuum und Gesellschaft immer schon als miteinander verschränkt gedacht worden sind.

 

Viele stellen sich die Frage: „Wie soll man leben?“

 

Jaeggi: Aber die kann man nie für sich allein beantworten.

 

 

 

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