Phänotypen des Verführers: Demagogen, Hetzer, Blender

Gestern Abend im Burgtheater: Premiere von Shakespeares "Julius Caesar" in der Inszenierung von Falk Richter. Auf angenehme Weise konventionell, mit eingesprengter MTV-Zeichensprache. Ein Höhepunkt, die Rede des Marc Anton. Ansonsten etwas uninspiriert, aber auch nicht langweilig. Dramaturgisch etwas fragwürdig: Was einem das Stück heute noch sagt. Die Analogien, die sich anbieten, sind eher plump: Bush, Saddam. Zeitlos: Wie republikanische Werte untergehen. Aber eigentlich ist das Stück des alten Shakespeare ziemlich tot. Man müsste die zweite Hälfte großflächig umschreiben. Dennoch: Alles in allem ein angenehmer Abend. Was am Thema aktuell ist, habe ich in einem Beitrag für das Programmheft des Burgtheaters aufgeschrieben, den Sie hier lesen können.

 

 

 

 

 

Manchmal scheint uns die Sprache ein Schnippchen zu schlagen, dann krallt sich in den Wörtern eine Idealwelt fest, und mit diesen Wörtern findet man nur schwer einen Zugang zur Realwelt. Ganz offenbar verstehen wir unter einem Politiker grundsätzlich einen Menschen, der die Wahrheit sagt und Bürger in rationaler Rede überzeugt, die für alle Argumente offen seien. Ansonsten hätte sich kaum eine ganze Reihe von Spezialvokabel herausgebildet, die jene abweichenden Führungspersönlichkeiten charakterisieren sollen, die dieses vorausgesetzte Idealbild des Politikers nicht erfüllen: Demagoge, Hetzer, Blender, Verführer. Die Reihe ist endlos. Gerne fasst man solche Typen neuerdings unter dem Genrebegriff des „Populismus“ zusammen. Allen gemeinsam ist, dass sie das „Volk“ nicht als Bürger ansprechen, sondern die Emotionen reizen. Wenn sie schon nicht die Bürgerschaft in eine Hetzmasse verwandeln, dann doch in eine Menge, die irrational handelt. Ein solcher Begriff von Populismus oder Demagogie ist freilich auch ein ziemlich leerer Begriff, spätestens dann, wenn allzu viel Unterschiedliches unter ihm subsumiert wird. Dem Idealbild des rationalen Politikers entspricht dann keiner mehr, die Abweichenden sind die große Mehrzahl (und dann keine Abweichenden mehr). Populisten sind fast alle, irgendwie: Marc Anton, Hitler, Haider, Blair. Differences don’t matter.

 

1. Charisma und Demagogie.

Womöglich liegt dem eine Idealvorstellung von Politik zugrunde, die das Wesen der politischen Rede missversteht. Politik ist nicht nur der deliberative Austausch von Argumenten vor einer prinzipiell vom Vernünftigen überzeugbaren, unvoreingenommenen Bürgerschaft. Ja, sie ist das gerade nicht, wenn ein Gemeinwesen stabil ist. Politische Rede stabilisiert Anhängerschaften, etabliert Gruppen, schweißt Mitstreiter zusammen, legitimiert die eigene Partei und delegitimiert die andere. Insofern ist jede politische Rede in gewissem Sinne Demagogie. Die nichtdemagogische Rede ist am Feld des Politischen zwar nicht unmöglich, aber doch immer auch ein wenig fehl am Platz (gepflegt von Politikern, von denen man dann sagt, sie seien „anders“). Dass die demagogische Rede das Publikum belügt, dieses nur ein passives Opfer einer Manipulation wäre, ist deshalb wohl ein voreiliger Schluss. Was, wenn das Publikum gerade diese Effekte der Demagogie nachfragte? Wenn es dem Demagogen deshalb anhängt, weil er aus ihm eine stabile Wir-Gemeinschaft macht? Diese Art von Demagogie hat in allen klassischen politischen Formationen ihren Platz (sofern sie nicht reine Elitenprojekte sind), von der Christdemokratie bis zur Arbeiter- und Alternativbewegung. Die emotionalen, also transrationalen[1] Bindekräfte, die der Parteiführer freilegt, hat man auch gerne mit seinem „persönlichen Charisma“ erklärt, etwa mit der schönen Wendung, „die Partei liebt ihn“. Charisma ist das klassische transrationale Mittel, Gefolgschaft zu erzeugen.

 

2. Populismus

Die Stunde dessen dagegen, den man heute im landläufigen Sinne einen „Populisten“ nennt, schlägt paradoxerweise dann, wenn die emotionalen Bindekräfte in den traditionellen politischen Formationen versagen. „Das populistische Moment“ nennt das der amerikanische Historiker Lawrence Goodwynn, das dann eintritt, wenn „ganze Bevölkerungsteile gesellschaftlich obdachlos werden“ (Helmut Dubiel). Kurzum: Wenn die traditionellen Integrationsmaschinen der hergebrachten politischen Formationen ihre Kraft verlieren. Der Populist sammelt die frei flottierenden politischen Energien ein, aber was bei den traditionellen politischen Lagern gewissermaßen auf natürliche Weise – und durch ein Netz an organisatorischen Fäden – zusammengehalten wurde, muss der Populist durch eine Steigerung der Verführungskräfte binden. Sind bei den traditionellen politischen Parteien die Parteigänger im optimalen Fall durch Tradition, Organisation und die Überzeugungsskraft der Führung der Partei verbunden, so ersetzt der Populist den Mangel an komplexen Bindungen durch die direkte Kommunikation mit dem atomisierten Publikum. Das Wir des Populismus besteht aus einem Er und einem Euch. Klassisch die FPÖ-Rhetorik in Haiders besten Zeiten: „Sie sind gegen Ihn, weil Er sagt, was Ihr denkt.“ Nicht die demagogische Rede an sich zeichnet den Populisten aus, sondern der Umstand, dass nur mehr die Demagogie seine Gefolgschaft zusammenhält, die immerzu am Sprung ist, sich wieder zu verflüchtigen; und dass er, wenn er als Populist erfolgreich sein will, seine Partei nicht gegen andere Parteien positioniert, sondern als Outcast-Sammlung gegen „das Establishment“.

 

3. Kommodifizierung

Mit dem geht eine seltsame „Popularisierung“ der etablierten Politik einher, die ebenso wie der Aufstieg des Populismus ihre Ursache in der Auflösung fester Zugehörigkeiten zu politischen Lagern hat. Doch trotz dieser Gemeinsamkeit im Ursprung ist die Strategie des Popularität heischenden Etablierten doch von gänzlich anderer Natur als die des Populisten. Der Stammwähler verwandelte sich im westlichen Konsumkapitalismus des frühen 21. Jahrhunderts in einen Konsumbürger, der am politischen Markt agiert wie auf Gütermärkten: Er gustiert zwischen politischen Angeboten wie zwischen Warenangeboten. Und so, wie der Konsument auf Warenmärkten nicht nur die Nützlichkeit eines Produktes in gebrauchspraktischer Hinsicht nachfragt, sondern auch den emotionalen Nutzen, den dieses als Lifestyleprodukt, als Gadget für seine eigene Identitätsproduktion verspricht, so entscheidet er auch am politischen Markt keineswegs nur nach praktischen Erwägungen – etwa nach seinen „Interessen“. Er wird nicht nur verführt, er will auch verführt werden. Die Entstehung einer konsumistischen Mentalität – nach Pier Paolo Pasolini ein Phänomen von „anthropologischer Mutation“ – führt dazu, dass alles einer Konsumlogik entsprechend eingefärbt wird. Auch die Politik.

 

Es ist erstaunlich, was man schon in Wolfgang Fritz Haugs legendärer „Kritik der Warenästhetik“ aus dem Jahre 1971 über eine Rede des ehemaligen deutschen Verteidigungsministers und späteren Bundeskanzlers Helmut Schmidt nachlesen kann. Darin beklagt Schmidt – man bedenke, das Schwarzweißfernsehen hatte sich gerade erst allgemein durchgesetzt, langsam kamen die ersten Farb-TV-Geräte auf den Markt – dass Politiker heute nicht bloß gegeneinander konkurrieren wie Produkte in der Marktkonkurrenz. Schlimmer noch: Es ginge nur mehr um den „Eindruck“, um das „Ankommen“. Konkurrenz sei zur „Eindruckskonkurrenz“ verkommen, so die Klage Schmidts und: „Selbst jemand, der erfolgreich ist, wird nicht gewählt werden, wenn er am Fernsehbild nicht genügend ausstrahlt.“ Politiker, so deutete Haug Schmidts Lamento schon vor beinahe vierzig Jahren, müssten heute also in erster Linie „Markentechniker“ sein. Die Politik wird warenförmig, kommmodifiziert.

 

Womöglich ist all das, was der durchschnittlich dunkelgrau gestimmte Zeitgenosse so an der gegenwärtigen Politik, deren Fixierung auf Oberflächliches, auf Inszenierung, auf Meinungsumfragen zu kritisieren hat, ein Ausdruck der Durchdringung von Politik und Konsumismus. Das jedenfalls legt der amerikanische Politologe Richard Sennett in seinem Buch „Die Kultur des neuen Kapitalismus“ nahe. Das Publikum konsumiere die Politik auf seltsam passive Weise, so seine These; wie bei normalen Waren gleiche sich der „Gebrauchswert“ – also die politische Programmatik – weitgehend an, weshalb versucht wird, mit immer mehr Kulturalisierung und Marketing den „Reiz des Unterschieds“ hervorzurufen. So wie Seife, Tampons oder MP3-Player verschiedener Marken in praktischer Hinsicht das gleiche können, weshalb mittels Branding eine Lifestyledifferenz zur besseren Produktpositionierung etabliert wird, so gelte auch für die Politik: Je ununterscheidbarer die Parteien in praktisch-politischer Hinsicht, desto bedeutender die Oberflächenphänomene für den Erfolg des „Produkts“. Schon lange, so Sennett, hätten die Politik-Konsumenten es aufgegeben, tatsächlich nach der sachlichen Qualität der angebotenen Politik zu fragen – die liege im Dunkeln wie das Innenleben des Computers, des Toasters oder des Autos, das erstanden wird, und wird sich wohl letztendlich vom Angebot der Konkurrenz nicht allzu sehr unterscheiden; was das Publikum aber beurteilt, sind die Fertigkeiten, mit denen die Politiker versuchen „anzukommen“. Weil das Publikum Wahrhaftigkeit bei dieser Art von Marketing vernünftigerweise nicht erwartet (auch Branding funktioniert, obwohl die Konsumenten der Werbung misstrauen), ist wahr oder falsch überhaupt kein Kriterium, das bei dieser Entscheidung eine Rolle spielt. „Werden politische Führer heute auf dieselbe Weise ,verkauft’ wie Seife, als unmittelbar erkennbare Marken, die der Verbraucher aus dem Regal nimmt?“ fragt Sennett.

 

Diese konsumierende Haltung ist es, auf die der Etablierten-Populismus eine Antwort gibt, die von Spin-Doktoren durchgestylte Politik à la Blair & Co. Auch diese Abart des Populismus stellt ein „Wir“ her, aber nicht mehr als politisches „Lager“, sondern eher als Lifestylegemeinschaft. Man entscheidet sich instinktiv für den Politiker, dessen Stil einem emotional entspricht. Gewiss, man soll dieses Bild nicht überreizen: Der konsumierende Bürger macht sehr wohl einen Unterschied, ist sich darüber im Klaren, dass der Griff zum Softdrink an der Supermarktkasse das eine ist, die Wahl einer Partei bei einer Nationalrats- oder Bundestagswahl das andere. Aber doch prägt das eine seinen Habitus und färbt damit das andere ein. Sicher, der Bürger kennt seine Interessen, sie gehen in seine politische Entscheidung mit ein. Aber sein emotionales Wohlbefinden ist selbst Teil seiner Interessen. Auch die rein ästhetische Entscheidung ist nicht nur ästhetisch.

 

Hinzu kommen die vielen Ausprägungen des konsumistischen Habitus. Wenn der Bürger-Konsument das TV-Gerät einschaltet, will er etwas erleben. Wird ihm das vorenthalten, ist er wählerisch. Gegen einen Politiker, der ihn nicht unterhält, stimmt er ab – mit der Fernbedienung in der Hand. Das öffnet einer Reihe von Paradoxien Tür und Tor. Selbst harte politische Auseinandersetzungen, für die sich angesichts der häufigen pogrammatischen Ununterscheidbarkeit der Akteure oft gar nicht so leicht ein Thema findet, folgen dieser Logik: das Publikum bleibt nur aufmerksam, wenn es ordentlich kracht, und so kommt, was eine ordentliche Talkshow sein will, ohne Schreiduell oder giftige Polemik nicht aus. Dies erklärt auch den seltsamen Sachverhalt, den man in manchen Ländern beobachten kann: die Polarisierung bei gleichzeitiger Abwesenheit nennenswerter politischer Programmkonflikte.

 

Politik, vom Konsumkapitalismus derart umgeformt, muss sich den Verkaufsstrategien beugen, die dieser etabliert hat. Wird ein Politiker, der diese penibel verfolgt, dennoch nicht gewählt, dann kann ihm nur mehr ein Relaunch helfen, das, was man im Marketing die „behutsame Modernisierung der Marke“ nennt: neue Käuferschichten erschließen, ohne die alten Käufer zu verprellen. Der Virtuose in diesem Spiel umgarnt den Bürger wie der Verkäufer den Kunden, er muss ihn betören, des Glanzes der Ware versichern, die er um Angebot hat. Nur, dass er im optimalen Fall selbst diese glänzende Ware ist (im suboptimalen Fall ist er ein Ladenhüter). Der Politiker im Konsumkapitalismus funktioniert nach dem Prinzip Celebrity. Unschlagbar ist, für’s Erste jedenfalls, der Politiker, der selbst eine Celebrity ist, an dessen Staraura das Publikum teilhaben kann, indem es ihn wählt. Weil die Staraura eine vergängliche Sache ist, wird er dann wieder abgewählt und der nächste Star kommt ran.

 

So unterschiedlich die historischen Strategien demagogische Rede, Populismus und Kommodifizierung auch sein mögen, so sind sie doch allesamt Indizien dafür, dass die Frage Wahr-Falsch oder Lüge-Wahrheit nicht die Schlüsselfrage ist, die wir an die Politik zu richten haben. Politische Rede zielt immer darauf ab, Massensubjektivitäten („Wir“) herzustellen, und muss andererseits immer mit schon vorhandenen Massensubjektivitäten rechnen, diese somit in Rechnung stellen. Auch ist die „Wahrheit“ einer „wahrhaftigen“ Rede blass, die an ihren Absichten scheitert, und die Lüge gewinnt Erhabenheit, ja, eine eigene Form von „Wahrheit“, wenn sie ihre Ziele realisiert.

 

Welchen Nutzen hat die Wahrhaftigkeit angesichts des kläglichen Scheitern des Brutus’?

 



[1] Der Begriff transrational ist hier angebracht, weil er im Gegensatz zu irrational keine Handlungen und Effekte meint, die konträr zur Rationalität liegen, sondern auf einer völlig anderen Ebene als diese.

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