Wie ich vor fünfzehn Jahren nach Rostock fuhr und seitdem den Popdiskurs präge

Eigentlich sind Poptheorie und -diskurs ja nicht meine großen Stärken. Dennoch präge ich dieses Genre seit 15 Jahren, was ich erst jetzt richtig bemerke. Das kam so: Vor 15 Jahren fand in Rostock ein ausländerfeindliches Pogrom statt. Da sich das angekündigt hatte, war ich aus Berlin rechtzeitig angereist – was mich, nebenbei gesagt, von der Polizei unterschied. Die hatte nur ein paar Mecklemburger Regimenter vor Ort und war deshalb restlos überfordert.

Jedenfalls sahen die Jugendlichen in Rostock, die dort ein Ausländerwohnheim abfackelten, nicht alle nach Nazi aus. Ich schrieb damals in meinem Report für "profil":

Der 16jährige Alex fand die Randale einfach "bullig". Eigentlich lebt er gerne in Lichtenhagen, erzählt er. "Wenn die alle erst einmal weg sind, ist das das beste Viertel hier." Außerdem hätte er Spaß daran, daß hier endlich einmal etwas los ist. Von einem Skinhead hat Alex nichts an sich. Ein schickes rotes Stirnkäppchen trägt er am Kopf. "Malcolm X" steht auf der Stirnseite, der Name des militanten schwarzen Bürgerrechtlers aus den USA.

Diedrich Diederichsen bekam das "profil" mit dieser Coverstory in die Hände und entwickelte aus dem kurzen Absatz eine ganze Zeitdiagnose. Im "Spex" schrieb er einen Essay mit dem Titel "The Kids are not alright". Dass rassistische Pogromisten mit popkulturen Rebellenzeichen herumrennen, nahm er als Signum für eine Wasserscheide in der Popgeschichte. Diederichsens Essay war debattenprägend.

Und ist es bis heute auf seine Art, wie ich feststellen konnte, als ich jüngst die neuste Ausgabe des "Spex" in die Hand nahm. Das Leitblatt des Popdiskurses wurde gerade eben von einer neuen Redateurstruppe übernommen, die sich offenbar von Pop-Papst Diederichsen distanzieren muss. Im Editorial ist zu lesen:

Alles begann vor 15 Jahren mit einer Baseball-Cap… Diederichsen nimmt das fremdgehende Zeichen zum Anlass, das letzte revolutionäre Subjekt, das es so vermutlich auch nur im Spex-Universum gab, zu dekonstruieren: Die Jugendkultur "mit allen angegliederten Unter-Ideen wie Pop, Underground, Dissidenz durch symbolische Dissidenz …, Abgrenzung." … Die Kappe wird zum Symbol einer neuen Unübersichtlichkeit.

Diederichsen, so der Tenor des Editorials, sei etwas durchgeknallt, wenn er aus einer Kappe eine Theorie mache. Überschrieben ist das Stück logischerweise mit dem Satz: The Kids are alright.

Gibt man "Malcolm X" und "Rostock" bei Google ein, schlagen 808 Einträge an – und das, obwohl ein Großteil der Debatte vor der Verallgemeinerung des Internets stattfand. Ob ich vielleicht Tantiemen kassieren könnte…? Anyway. Interessant, wie sich die Episode verselbständigte: Da ist im Netz zu lesen, "die Rassisten" (Mehrzahl!) mit Malcolm-X-Kappen hätten Molotow-Cocktails geworfen.

Kappenträger Alex müsste heute 31 Jahre alt sein. Wäre interessant zu wissen, was aus ihm geworden ist – und ob er überhaupt von seiner Berühmtheit etwas weiß.

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