„Der Gesellschaftsfeind“

Fast immer kommen Amokläufer aus der Mittelschicht. Besondere Anziehungskraft haben für sie idyllische Orte. Die verwandeln sie in regelrechte Schlachtfelder. Ein Nachtrag vom Virginia-Tech-Massaker. profil, 23. April 07

 

 

 

Der Berliner Kultursoziologe Joseph Vogl ist ein Mann von makabrer Prominenz. Wann immer irgendwo auf der Welt jemand wahllos seine Mitbürger niedermäht, läutet bei Vogl das Telefon Sturm. Medien aus aller Welt wollen dann von Vogl wissen, warum Menschen so etwas tun. Denn Joseph Vogl ist Experte für Amoklauf.

 

Die Amokläufer sind asiatischen Ursprungs. In Malaya häuften sich im 17. Jahrhundert die Fälle, dass junge Männer grundlos auf ihre Mitbewohner zustürzten und sie mit dem Messer ermordeten – mit dem Ruf „Amok! Amok!“ auf den Lippen. Europäische Reisende berichteten von den verstörenden Vorkommnissen. Vor hundert Jahren schließlich setzte sich das Wort „Amokläufer“ für jene Menschen durch, die scheinbar grundlos friedliche Orte in Schlachtfelder verwandeln.

 

Bemerkenswert: „Der Amoklauf ist immer ein Mittelschichtsphänomen gewesen“, so Vogl. Die Fälle, die in die Kriminalgeschichte eingingen, waren stets Taten, die aus der Mitte der Gesellschaft kamen. Das hängt freilich auch mit einem Wesensprinzip des Amoklaufs zusammen. Amokläufer sind die, die in selbstmörderischer Raserei befriedete Zonen erschüttern – Universitäten, Schulen, Regierungsgebäude, die familiäre Idylle. Besonders bedrohlich erscheinen sie nicht zuletzt wegen des radikalen Kontrasts zu dem Sicherheitsgefühl, das man normalerweise an solchen Orten hat. Vogl: „Überall suchen die treffsichere Genauigkeit und die hohe Beliebigkeit der Gewalt des Amokläufers genau diese Räume, aus denen die Theatralik seiner Gewalt eine Landschaft der Verwüstung herstellt.“

 

Ein zweites Wesensprinzip der Amokläufe ist, dass sie „motivlose Taten“ sind, wie das der deutsche Kulturpublizist Alexander Kluge nennt – oder besser, dass das Ausmaß der Untat sich in keiner vernünftigen Verhältnismäßigkeit mehr auf ein Motiv beziehen lässt. Schließlich würde man Terroristen, die – wie das etwa tschetschenische Kämpfer in Beslan taten – eine Schule stürmen um dort ein Blutbad anzurichten, nicht als Amokläufer bezeichnen. Die haben, anders als der Psychopath, wenigstens ein „vernünftiges“ Motiv. Dieses Missverhältnis von Auslöser und Effekt macht Amokläufe besonders unvorhersehbar – und deshalb extra-bedrohlich.

 

Der Amokläufer rächt sich für kleine, mikroskopische Verletzungen – und zwar in der Regel an Menschen, mit denen er keine besondere Beziehung hat. Gleichzeitig inszeniert er seine Tat meist mehr als kriegerischen denn als kriminellen Akt. Üblicherweise plant er sie minutiös. Er ist eine Mischung aus verrückt und extrem rational – und er tritt als „Gesellschaftsfeind“, als „Feind aller“ (Vogl) auf. Alle sind schuld an seinem Elend, alle sind deshalb auch das potentielle Ziel seiner Rache. Motive sind in der Regel höchstens retrospektiv zu konstruieren – und meist sind es nur in einem sehr weit gefassten Sinn „Motive“.

 

Was das Publikum an Amokläufern interessiert, ist gerade auch das, was den Amoklauf womöglich für den Täter faszinierend macht. Vogl: „Der Amoklauf ist irrsinnig prominent.“ Gleichzeitig ist er jedoch „in der Kriminalstatistik verschwindend gering“. Auch wenn die Blutbäder am Campus und im Gymnasium uns wegen der medialen Berichterstattung als häufig erscheinen, sind sie doch extrem selten. Nicht zuletzt darum sind die Amokläufer auch für die Kriminalpsychologen ziemlich undurchschaubare Typen. Hinzu kommt: Praktisch niemals können Amokläufer nach ihrer Tat befragt werden, weil sie sie in der Regel nicht überleben. Werden sie nicht von der Polizei erschossen, bringen sie sich um. Schließlich ist der Amoklauf nur eine spektakuläre Form des Selbstmords.

 

Robert Misik

2 Gedanken zu „„Der Gesellschaftsfeind““

  1. als „fan“ getraue ich mich mal zu sagen, ein satz à la „Die Amokläufer sind asiatischen Ursprungs.“ sollte in einem misik-artikel eigentlich nichts verloren haben.

  2. Ich muss dem „fan“ zustimmen. Zu sagen, die Täter seien meist asiatischer Abstammung mag statistischen Werten zu Folge zwar der Wahrheit entsprechen, doch wenn wir von Kriminalität in so kleinem Rahmen („in der Kriminalstatistik verschwindend gering“) reden ist es eher unklug von einer Mehrheit zu sprechen.
    Ansonsten muss ich Robert Misik aber durchaus Komplimente erbringen. Ein sehr interessanter Text..
    NUR WEIL DAS HIER OFFENBAR FÜR MISSVERSTÄNDNISSE SORGT: DER BEGRIFF AMOKLÄUFER IST, WIE UNTEN EINDEUTIG KLAR WIRD, ASIATISCHEN URSPRUNGS. DAMIT SOLLTE NICHT GESAGT SEIN, DASS HEUTE ASIATEN BESONDERS HÄUFIG AMOKLÄUFER SIND.
    ROBERT MISIK

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